GIGA Insights | 11.12.2024

Syrien: Sichere Rückkehr?

Nach fast 14 Jahren Krieg, in denen die Hoffnung auf Heimkehr für die meisten der 12 Millionen geflüchteten Syrer:innen nahezu erloschen war, hat der plötzliche Sturz des Diktators Bashar al-Assad Euphorie ausgelöst – nicht nur in Syrien, sondern auch in den Nachbarländern und weltweit.


  • 12. Dezember 2024

    Gleichzeitig mehren sich in Europa seither die Forderungen nach freiwilliger Rückkehr oder gar Abschiebungen. Tatsächlich gibt es bereits erste Rückkehrbewegungen aus den Nachbarländern. Diese freiwillige Rückkehr ist allerdings risikoreich angesichts der ungewissen Situation. So müssen syrische Rückkehrende in der Türkei ihre Aufenthaltspapiere an der Grenze abgeben, wodurch eine erneute Einreise faktisch unmöglich wird. Aus dem Libanon kehren ebenfalls Menschen nach Syrien zurück, während gleichzeitig Syrer:innen – insbesondere aus den regime-treuen Küstenprovinzen Tartus und Latakia – in den Libanon ausreisen. Verlässliche Zahlen zu diesen Bewegungen liegen bisher nicht vor. Die meisten Geflüchteten, etwa in den jordanischen Lagern, warten ohnehin noch ab, was angesichts der unklaren Sicherheitslage, etwa wegen der israelischen und türkischen Luftangriffe, nicht überraschend ist. Letztere haben bereits etwa 100.000 Menschen im Nordosten des Landes (erneut) in die Flucht getrieben. Einige europäische Staaten, darunter Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Schweden, Norwegen und Dänemark, haben in Reaktion auf den Sturz Assads ihre Asylverfahren für Syrer:innen vorerst ausgesetzt. In Deutschland hat das Innenministerium die Entscheidungen in rund 47.000 laufenden Asylanträgen ebenfalls gestoppt – ausgenommen sind Anträge im Rahmen des Dublin-Verfahrens. Natürlich müssen auch deutsche Behörden die veränderte Lage in Syrien eingehend prüfen. Doch darüber hinaus fordern politische Parteien wie die CDU und AfD bereits Rückführungen, und Österreichs rechte Regierung kündigte sogar einen „Abschiebeplan“ an. Doch Abschiebungen unterliegen klaren rechtlichen Vorgaben. Um sie durchführen zu können, muss sich die Verfolgungs- und Gefährdungssituation der betreffenden Personen dauerhaft und eindeutig geändert haben, so dass eine sichere Rückkehr möglich ist. Dies kann aktuell niemand seriös sagen. Darüber hinaus müssen vor dem Entzug eines Aufenthaltstitels Einzelfallprüfungen durchgeführt werden, da sich während des Aufenthalts in Deutschland andere Gründe für den Verbleib im Land – z.B. ein Arbeitsvertrag oder eine Ausbildung – ergeben haben können. Unabhängig davon unterscheidet sich das heutige Syrien grundlegend von dem Land, das potenzielle Rückkehrende einst verlassen haben. Die politische Lage ist unsicher, Wirtschaft und Infrastruktur sind zerstört, und die natürlichen Ressourcen haben unter den fast 14 Jahren Krieg und auch den stärker werdenden Auswirkungen des Klimawandels (z.B. Dürre) erheblich gelitten. Niemand hat bisher eine Antwort auf die Frage, wo Rückkehrende eigentlich wohnen und womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollen. Ein nachhaltiger Wiederaufbau wird außerordentlich schwierig und langwierig sein, und angesichts der Tatsache, dass bereits etwa 13 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, stellt sich die Frage, ob eine massenhafte Rückkehr das Land nicht eher destabilisieren könnte.


    3. September 2024

    Syrien: Sichere Rückkehr?

    Syrien, ein Brennpunkt des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 und seitdem Schauplatz eines gewaltsamen, internationalisierten Bürgerkriegs, ist in den letzten Jahren angesichts anderer Konfliktherde wie der Ukraine und dem Gazastreifen zunehmend aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwunden.

    Rechtspopulistische Regierungen und Parteien in Europa nutzen Gewalttaten von Anhängern islamistischer Organisationen, wie zuletzt in Solingen, immer wieder dazu, das Asylrecht auszuhöhlen und strengere Abschieberegelungen zu fordern. In diesem Zuge wird auch Syrien vermehrt als vermeintlich „sicherer Ort“ für Abschiebung und Rückführung von Geflüchteten präsentiert.  

    Vor diesem Hintergrund geben die GIGA-Expert:innen Dr. André Bank und Dr. Christiane Fröhlich im folgenden Interview ihre Einschätzungen zur Lage im Land, zur Situation von Zivilbevölkerung und syrischen Geflüchteten sowie Empfehlungen für die deutsche und europäische Politik. Beide forschen seit vielen Jahren zu Syrien und mit Syrer:innen. Dr. André Bank beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des Krieges und Dynamiken autoritärer Herrschaft, während Dr. Christiane Fröhlich ein besonderes Augenmerk auf die Situation der Geflüchteten legt. 

     

     Wie ist die aktuelle politische und militärische Lage in Syrien? Wie sicher ist das Land für die Zivilbevölkerung?  

    GIGA-Experte Dr. André Bank: 

    „Syrien ist im Jahr 2024 in vier politisch-militärische Machtbereiche aufgeteilt:  

    (1) Präsident Bashar al-Assad und sein Regime dominieren, unterstützt von Iran und Russland, über circa 60 Prozent des Landes und eine Bevölkerung von circa 9,6 Millionen Menschen. In diesem Gebiet besteht die brutale Diktatur weiter fort, die Oppositionelle tötet, sie verschwinden lässt und in großem Maße foltert. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahren im Regimegebiet Zentral-, Süd- und Westsyriens eine seit 2011 nie dagewesene Wirtschaftskrise.  

    (2) Die nordwestliche Region Idlib wird von der radikal-islamistischen Gruppierung Hay’at Tahrir ash-Sham kontrolliert. Das Assad-Regime und Russland bombardieren dieses Gebiet, die einzig verbliebene Rebellenhochburg, fortwährend aus der Luft – im Schatten des Gazakriegs sind so wiederum 160.000 Menschen binnenvertrieben worden.  

    (3) Im Norden Syriens hält die Türkei und die mit ihr verbündete Syrian National Army verschiedene, oft kurdisch geprägte Gebiete besetzt.  

    (4) Im Nordosten herrschen die kurdisch-dominierte Syrian Democratic Forces, unterstützt von circa 900 US-Spezialtruppen. Zusammen sehen sie sich militärischen Angriffen von pro-iranischen Milizen und ihren syrisch-arabischen Verbündeten ausgesetzt.  

    Kurzum: In keinem der vier Machtbereiche ist die Lage für die syrische Zivilbevölkerung sicher. In den meisten hat sich die Situation für Familien, Frauen und Kinder seit 2023 sogar noch verschlechtert.“  

     

    Wie ist die Situation für syrische Geflüchtete in Syrien und in der Region?  

    GIGA-Expertin Dr. Christiane Fröhlich:

    „Der größte Teil syrischer Geflüchteter, knapp sieben Millionen Menschen, lebt als Binnenvertriebene (internally displaced persons, IDPs) weiterhin im Land. Etwa fünf Millionen Syrer:innen leben seit mehr als einem Jahrzehnt in den Nachbarländern Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten. Oftmals mussten diese Menschen mehrfach fliehen, haben ihr Privatvermögen in die Flucht gesteckt, haben alles verloren. Bereits vor dem Erdbeben im Februar 2023 waren gut zwei Drittel der syrischen Bevölkerung in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen; seither ist die Situation kontinuierlich schlechter geworden.  

    Auch in den Nachbarländern gibt es eher eine Verschlechterung zu vermelden. Im Libanon zum Beispiel betreffen die vielfältigen Krisen – Währungsverfall, Wirtschaftskrise, Explosion im Beiruter Hafen 2022, politische Krise usw. – auch die oft ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft stehenden syrischen Geflüchteten. Die libanesische Regierung setzt bereits erzwungene Abschiebungen nach Syrien um und es gibt regelmäßig Übergriffe auf syrische Geflüchtete im Land, dabei soll das Land der EU eigentlich dabei helfen, die sogenannte Flüchtlingskrise zu bewältigen.  

    Kurz gesagt, wie auch immer man sie begründet oder nennt (Abschiebung, Deportation, Rückführung etc.): Eine Abschiebung nach Syrien, ein Land gekennzeichnet durch Zerstörung, fortwährende Gewalt und extreme Armutsbedingungen für die absolute Mehrheit der Bevölkerung, unterwandert den humanitären Flüchtlingsschutz. Zu diesem hat sich Deutschland mit der Genfer Konvention verpflichtet. Wohin sollen die Leute überhaupt gehen? Möchte die Bundesregierung mit Assad, mit der kurdischen Selbstverwaltung, mit den Aufständischen, mit den Islamisten reden, um Abschiebungen zu organisieren? Das wäre eine Abkehr von der Politik der letzten 13 Jahre, und auch von wichtigen (NATO-)Verbündeten.  

    Abgesehen davon zeigt das Beispiel von Solingen sehr gut, dass die Diskussion über eine Abschiebung nach Syrien ohnehin am Thema vorbei geht – der Attentäter von Solingen wäre nämlich nach dem Dublin-Verfahren nach Bulgarien abgeschoben worden. Hätte das seine islamistische Gesinnung verändert? Oder wäre es uns einfach egal(er) gewesen, wenn ein Anschlag in Bulgarien oder anderswo verübt worden wäre? 

    Grundsätzlich gilt: Abschiebungen lösen das Problem von islamistischem Terror und männlicher Gewalt nicht, sie verschieben es nur.“ 

     

    Welche Empfehlungen ergeben sich für die deutsche und europäische Syrienpolitik?  

    Dr. André Bank und Dr. Christiane Fröhlich:  

    „Angesichts der äußerst unsicheren Lage in allen Teilen Syriens sollten alle Pläne zur zwangsweisen Rückführung syrischer Geflüchteter dringend und explizit zurückgewiesen werden. Sie höhlen den Flüchtlingsschutz und das Recht auf Asyl aus, dem sich alle europäischen Staaten mit der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet haben. Für Europa bedeutet dies Opposition gegen die Regierungen Österreichs, Zyperns, Tschechiens, Griechenlands, Italiens, Maltas und Polens, die Teile Syriens für „sicher“ erklärt haben, da dies der Beginn einer erzwungenen Rückkehr von Syrer:innen in das Land sein könnte. Außerdem sollten die deutsche Regierung und die Europäische Union Druck auf die Nachbarländer Syriens, insbesondere den Libanon und die Türkei, ausüben, damit diese die bereits laufenden Abschiebungen nach Syrien einstellen. Gleichzeitig sollten sie die Aufnahmeländer im Nahen Osten dringend weiter unterstützen. Insbesondere sollte die humanitäre Hilfe für den Nordwesten und Nordosten Syriens aufgestockt und mit lokalen Partnern zusammengearbeitet werden, damit die am stärksten bedürftige Zivilbevölkerung erreicht wird.“ 

    Expert:innen

    Text: Dr. Christiane Fröhlich


    GIGA Focus Nahost | 5/2024

    Syria Is Not Safe: A Look to Its Regions

    Die Gewalteskalation in weiten Teil Syriens seit dem Jahr 2023 und das Fortbestehen der Assad-Diktatur zeigen, dass das Land nicht sicher ist – nirgendwo. Jedwede Pläne, syrische Geflüchtete aus nahöstlichen und europäischen Ländern nach Syrien abzuschieben, sollten deshalb klar ablehnt werden.

    Migration Politics | 03.2023

    Mobility Control as State-Making in Civil War: Forcing Exit, Selective Return and Strategic Laissez-Faire

    This paper by Dr. Christiane Fröhlich and Dr. Lea Müller-Funk addresses the question of how different actors govern mobility during civil war, and how mobility control and processes of state-making interact in such settings.

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