GIGA Insights | 02.09.2024

Syrien: Sichere Rückkehr?

Syrien, 2011 Brennpunkt des Arabischen Frühlings und seitdem Schauplatz eines gewaltsamen, internationalisierten Bürgerkriegs, ist angesichts anderer Konfliktarenen wie der Ukraine und Gaza in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit geraten.


  • Rechtspopulistische Regierungen und Parteien in Europa nutzen Gewalttaten von Anhängern islamistischer Organisationen, wie zuletzt in Solingen, immer wieder dazu, das Asylrecht auszuhöhlen und strengere Abschieberegelungen zu fordern. In diesem Zuge wird auch Syrien vermehrt als vermeintlich „sicherer Ort“ für Abschiebung und Rückführung von Geflüchteten präsentiert.  

    Vor diesem Hintergrund geben die GIGA-Expert:innen Dr. André Bank und Dr. Christiane Fröhlich im folgenden Interview ihre Einschätzungen zur Lage im Land, zur Situation von Zivilbevölkerung und syrischen Geflüchteten sowie Empfehlungen für die deutsche und europäische Politik. Beide forschen seit vielen Jahren zu Syrien und mit Syrer:innen. Dr. André Bank beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des Krieges und Dynamiken autoritärer Herrschaft, während Dr. Christiane Fröhlich ein besonderes Augenmerk auf die Situation der Geflüchteten legt. 

     

     Wie ist die aktuelle politische und militärische Lage in Syrien? Wie sicher ist das Land für die Zivilbevölkerung?  

    GIGA-Experte Dr. André Bank: 

    „Syrien ist im Jahr 2024 in vier politisch-militärische Machtbereiche aufgeteilt:  

    (1) Präsident Bashar al-Assad und sein Regime dominieren, unterstützt von Iran und Russland, über circa 60 Prozent des Landes und eine Bevölkerung von circa 9,6 Millionen Menschen. In diesem Gebiet besteht die brutale Diktatur weiter fort, die Oppositionelle tötet, sie verschwinden lässt und in großem Maße foltert. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahren im Regimegebiet Zentral-, Süd- und Westsyriens eine seit 2011 nie dagewesene Wirtschaftskrise.  

    (2) Die nordwestliche Region Idlib wird von der radikal-islamistischen Gruppierung Hay’at Tahrir ash-Sham kontrolliert. Das Assad-Regime und Russland bombardieren dieses Gebiet, die einzig verbliebene Rebellenhochburg, fortwährend aus der Luft – im Schatten des Gazakriegs sind so wiederum 160.000 Menschen binnenvertrieben worden.  

    (3) Im Norden Syriens hält die Türkei und die mit ihr verbündete Syrian National Army verschiedene, oft kurdisch geprägte Gebiete besetzt.  

    (4) Im Nordosten herrschen die kurdisch-dominierte Syrian Democratic Forces, unterstützt von circa 900 US-Spezialtruppen. Zusammen sehen sie sich militärischen Angriffen von pro-iranischen Milizen und ihren syrisch-arabischen Verbündeten ausgesetzt.  

    Kurzum: In keinem der vier Machtbereiche ist die Lage für die syrische Zivilbevölkerung sicher. In den meisten hat sich die Situation für Familien, Frauen und Kinder seit 2023 sogar noch verschlechtert.“  

     

    Wie ist die Situation für syrische Geflüchtete in Syrien und in der Region?  

    GIGA-Expertin Dr. Christiane Fröhlich:

    „Der größte Teil syrischer Geflüchteter, knapp sieben Millionen Menschen, lebt als Binnenvertriebene (internally displaced persons, IDPs) weiterhin im Land. Etwa fünf Millionen Syrer:innen leben seit mehr als einem Jahrzehnt in den Nachbarländern Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten. Oftmals mussten diese Menschen mehrfach fliehen, haben ihr Privatvermögen in die Flucht gesteckt, haben alles verloren. Bereits vor dem Erdbeben im Februar 2023 waren gut zwei Drittel der syrischen Bevölkerung in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen; seither ist die Situation kontinuierlich schlechter geworden.  

    Auch in den Nachbarländern gibt es eher eine Verschlechterung zu vermelden. Im Libanon zum Beispiel betreffen die vielfältigen Krisen – Währungsverfall, Wirtschaftskrise, Explosion im Beiruter Hafen 2022, politische Krise usw. – auch die oft ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft stehenden syrischen Geflüchteten. Die libanesische Regierung setzt bereits erzwungene Abschiebungen nach Syrien um und es gibt regelmäßig Übergriffe auf syrische Geflüchtete im Land, dabei soll das Land der EU eigentlich dabei helfen, die sogenannte Flüchtlingskrise zu bewältigen.  

    Kurz gesagt, wie auch immer man sie begründet oder nennt (Abschiebung, Deportation, Rückführung etc.): Eine Abschiebung nach Syrien, ein Land gekennzeichnet durch Zerstörung, fortwährende Gewalt und extreme Armutsbedingungen für die absolute Mehrheit der Bevölkerung, unterwandert den humanitären Flüchtlingsschutz. Zu diesem hat sich Deutschland mit der Genfer Konvention verpflichtet. Wohin sollen die Leute überhaupt gehen? Möchte die Bundesregierung mit Assad, mit der kurdischen Selbstverwaltung, mit den Aufständischen, mit den Islamisten reden, um Abschiebungen zu organisieren? Das wäre eine Abkehr von der Politik der letzten 13 Jahre, und auch von wichtigen (NATO-)Verbündeten.  

    Abgesehen davon zeigt das Beispiel von Solingen sehr gut, dass die Diskussion über eine Abschiebung nach Syrien ohnehin am Thema vorbei geht – der Attentäter von Solingen wäre nämlich nach dem Dublin-Verfahren nach Bulgarien abgeschoben worden. Hätte das seine islamistische Gesinnung verändert? Oder wäre es uns einfach egal(er) gewesen, wenn ein Anschlag in Bulgarien oder anderswo verübt worden wäre? 

    Grundsätzlich gilt: Abschiebungen lösen das Problem von islamistischem Terror und männlicher Gewalt nicht, sie verschieben es nur.“ 

     

    Welche Empfehlungen ergeben sich für die deutsche und europäische Syrienpolitik?  

    Dr. André Bank und Dr. Christiane Fröhlich:  

    „Angesichts der äußerst unsicheren Lage in allen Teilen Syriens sollten alle Pläne zur zwangsweisen Rückführung syrischer Geflüchteter dringend und explizit zurückgewiesen werden. Sie höhlen den Flüchtlingsschutz und das Recht auf Asyl aus, dem sich alle europäischen Staaten mit der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet haben. Für Europa bedeutet dies Opposition gegen die Regierungen Österreichs, Zyperns, Tschechiens, Griechenlands, Italiens, Maltas und Polens, die Teile Syriens für „sicher“ erklärt haben, da dies der Beginn einer erzwungenen Rückkehr von Syrer:innen in das Land sein könnte. Außerdem sollten die deutsche Regierung und die Europäische Union Druck auf die Nachbarländer Syriens, insbesondere den Libanon und die Türkei, ausüben, damit diese die bereits laufenden Abschiebungen nach Syrien einstellen. Gleichzeitig sollten sie die Aufnahmeländer im Nahen Osten dringend weiter unterstützen. Insbesondere sollte die humanitäre Hilfe für den Nordwesten und Nordosten Syriens aufgestockt und mit lokalen Partnern zusammengearbeitet werden, damit die am stärksten bedürftige Zivilbevölkerung erreicht wird.“ 

    GIGA Focus Nahost | 5/2024

    Syria Is Not Safe: A Look to Its Regions

    Die Gewalteskalation in weiten Teil Syriens seit dem Jahr 2023 und das Fortbestehen der Assad-Diktatur zeigen, dass das Land nicht sicher ist – nirgendwo. Jedwede Pläne, syrische Geflüchtete aus nahöstlichen und europäischen Ländern nach Syrien abzuschieben, sollten deshalb klar ablehnt werden.

    Migration Politics | 03.2023

    Mobility Control as State-Making in Civil War: Forcing Exit, Selective Return and Strategic Laissez-Faire

    This paper by Dr. Christiane Fröhlich and Dr. Lea Müller-Funk addresses the question of how different actors govern mobility during civil war, and how mobility control and processes of state-making interact in such settings.

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