GIGA Focus Global
Number 4 | 2019 | ISSN: 1862-3581
In Hong Kong, the Chinese People’s Liberation Army is threating demonstrators with “consequences.” In Venezuela, the army is supporting the repression of protests against President Maduro. In Algeria, the country’s armed forces have taken the side of the masses protesting against President Bouteflika. And in Sudan, the military ousted long-time dictator al-Bashir following mass protests. These cases reflect historical experiences: in many cases the military determines the outcome of mass protests, acting first and foremost in its own interest.
The recent protest movements in Algeria, Sudan, Venezuela, and Hong Kong are not isolated incidents, but rather part of a long series of mass protests in dictatorships.
Although the reasons for the occurrence and success of mass protests are diverse, the military ultimately determines their outcome. When the police and the secret service are no longer able to contain the demonstrations, the regime’s survival depends on the armed forces’ readiness to end the protests through the massive use of force.
Both the current cases and historical comparison show that in such “dictator endgames” the military doesn’t always decide to act as a compliant lackey of the regime. It often initiates the ousting of the dictator by taking the side of the protesters or taking over power itself.
In doing so, the military primarily pursues its own interests; external actors have only limited possibilities to influence the armed forces’ behaviour.
When dictators are confronted with ongoing mass protests, it is frequently the military that ultimately determines the future of the regime and the protest movement. The interests of the military leadership and its options for action thus often make the difference between the bloody quashing of the protests, victory for the demonstrators, or a military coup. Internal and external actors should therefore strive above all for peaceful conflict resolution and the reconciliation of the military’s and the protestors’ interests.
Im Juni 1989 wurden die prodemokratischen Proteste chinesischer Studierender auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gewaltsam von der Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen. Genau 30 Jahre später protestieren in Hongkong Hunderttausende gegen eine Gesetzesnovelle, die die Auslieferung von Hongkonger Bürgern an die Strafverfolgungsbehörden in China ermöglicht. Die Behörden der chinesischen Sonderverwaltungszone reagierten mit Repression auf die Proteste. Neben offiziellen Polizeieinheiten sollen Medienangaben zufolge auch dem organisierten Verbrechen nahestehende Schlägertruppen zum Einsatz gekommen sein. Diese konnten die Proteste, die sich zunehmend auch gegen die Regierung selbst, die Polizeigewalt und den Einfluss Chinas richteten, jedoch nicht eindämmen. Im Juli 2019 warnte der Sprecher des Pekinger Verteidigungsministeriums, dass ein in Frage stellen des Herrschaftsanspruchs der Zentralregierung nicht toleriert würde (Ramzy 2019), und die Hongkong Garnison der Volksbefreiungsarmee veröffentlichte ein martialisches Video, in dem den Demonstrierenden offen mit „Konsequenzen“ ihres Handelns gedroht wird (Chor 2019).
Auch in Venezuela ist es in den vergangenen Jahren immer wieder zu größeren Protesten gegen das Regime von Präsident Maduro gekommen, die jedoch stets nach einigen Monaten abflauten. Seit der Entmachtung des von der Opposition dominierten Parlaments durch den regierungstreuen Obersten Gerichtshof im März 2017 und insbesondere seit sich Parlamentspräsident Guaidó im Januar 2019 zum Interimspräsidenten erklärte, gehen wieder Zehntausende auf die Straße. Bislang kann sich Präsident Maduro noch an der Macht halten, nicht zuletzt dank des Einsatzes erheblicher Gewalt seitens der regimetreuen Sicherheitskräfte (OHCHR 2019).
Nicht so die Machthaber in Algerien und Sudan: In Algerien gingen im Februar 2019 die Menschen gegen den langjährigen Diktator Abdelaziz Bouteflika auf die Straße. Die Proteste richteten sich gegen die Kandidatur von Bouteflika für eine fünfte Amtszeit und das korrupte Regime, das seit dem Putsch 1991 die Politik und Wirtschaft des rohstoffreichen Landes beherrscht. Nachdem die Proteste auch durch politische Gesten wie den Rücktritt des Premierministers nicht eingedämmt werden konnten, forderte Armeechef Ahmed Gaid Salah am 26. März 2019 den Verfassungsrat auf, Bouteflika für amtsunfähig zu erklären; der Präsident trat eine Woche später zurück. Im Sudan begannen im Dezember 2018 zunächst lokale Proteste als Reaktion auf Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und Treibstoff, die sich schnell zu landesweiten Demonstrationen gegen Diktator Omar al-Bashir ausweiteten. Anfang April 2019 demonstrierten Hunderttausende vor dem Hauptquartier der Streitkräfte und forderten die Armee zum Widerstand gegen al-Bashir auf. Am 11. April wurde der Präsident schließlich durch einen Militärputsch gestürzt, unter Hausarrest gestellt und eine militärische Übergangsregierung unter dem bisherigen Vizepräsidenten, Generalleutnant Ahmed Awad Ibn Auf, eingerichtet.
Diese Fälle stehen in einer Linie von Massenprotesten in Diktaturen, die spätestens seit den Protesten in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Staaten im Jahr 2011 erhöhte Aufmerksamkeit in Medien und Forschung erhalten haben. Aber bereits vor den Ereignissen des „Arabischen Frühlings“ ist es in den letzten 40 Jahren immer wieder zu Massenprotesten gegen autoritäre Regierungen gekommen, die sich nicht selten zu Protestkaskaden über Landesgrenzen hinweg steigerten. So stürzten Massenproteste im Zuge der lateinamerikanischen „dritten Demokratisierungswelle“ der 1970er und 1980er Jahre (Huntington 1991) das Militärregime in Argentinien. Auch die prodemokratischen Proteste in den sozialistischen Einparteienstaaten Ost- und Mitteleuropas der Jahre 1989/1990, die den Fall des Eisernen Vorhangs einläuteten, die Demonstrationen auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens 1989 oder die „Farbrevolutionen“ südosteuropäischer und zentralasiatischer Autokratien in den 2000er Jahren stellen vergleichbare Ereignisse dar (Schedler 2018).
Allerdings zeigt diese Reihe von Beispielen auch, dass Massenproteste in Diktaturen keineswegs stets den Sturz des Diktators und den Übergang zur Demokratie nach sich ziehen. Erfolgreichen Beispielen wie den Philippinen im Jahr 1986, Georgien im Jahr 2003 oder Tunesien im Jahr 2011, wo die Herrschaft der Präsidenten Ferdinand Marcos, Eduard Schewardnadse und Zine el-Abidine Ben Ali durch „People’s Power“ Bewegungen gestürzt wurde, stehen eine Reihe von Protestbewegungen gegenüber, die das Ziel umfassender politischer Reformen verfehlten. Die blutigen Niederschlagungen der Pekinger Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens und der Anti-Regime-Demonstrationen in Myanmar im Jahr 2007 sowie der Putsch des ägyptischen Militärs im Jahr 2013 im Zuge der Proteste gegen Präsident Mursi sind dramatische Beispiele für den gewaltsamen Ausgang von Protesten in Autokratien.
Die Forschung hat eine Vielzahl von Erklärungsfaktoren für das Auftreten prodemokratischer Massenproteste identifiziert. Oft sind es ökonomische Krisen, die unter den Bedingungen fehlender institutionalisierter Beteiligungskanäle zu Protesten gegen das Regime führen (Brancati 2016). Aber auch unpopuläre politische Entscheidungen oder strategische Fehler, wie etwa die genannte Verabschiedung des Hongkonger Auslieferungsgesetzes, die drastische Entwertung der nationalen Währung wie in Burma im Jahr 1988 oder Belege für allzu dreiste Wahlfälschungen wie in Iran im Jahr 2009 können Proteste mobilisieren, die sich mitunter zu Anti-Regime Bewegungen entwickeln. Schließlich kann der Erfolg von Protestbewegungen in benachbarten und politisch-institutionell ähnlichen Ländern zum Beispiel und Katalysator für die Artikulation struktureller Unzufriedenheit mit korrupten und ökonomisch erfolglosen Regimen werden, wie etwa im Verlauf des „Arabischen Frühlings“ (Goldstone 2014).
Neben den vielfältigen Gründen für das Auftreten prodemokratischer Massenproteste stellt sich in Hinblick auf die vier aktuellen Fälle vor allem die Frage nach den Faktoren, die über den Erfolg oder Misserfolg dieser Bewegungen entscheiden. Auch hier hat, angestoßen durch die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“, die Forschung in den letzten Jahren eine Reihe von Bestimmungsfaktoren identifiziert. Neben der Zusammensetzung der Protestbewegung und ihrer Strategien werden insbesondere der überwiegende Verzicht auf Gewaltanwendung (Nepstad 2015) sowie die herausragende Rolle des Militärs und seiner Loyalität zur Regimeführung hervorgehoben.
Während im autokratischen Alltag vor allem die zivile Polizei und Geheimdienste die Regimesicherheit garantieren, überwältigen Massenproteste mit zehn- oder gar hunderttausenden Demonstrierenden die Überwachungs- und Zwangsmittel dieser Sicherheitsbehörden. Unter diesen Umständen, die in Anlehnung an David Pion-Berlin und Koautoren (2014) als „Diktatorenendspiel“ bezeichnet werden können, kommt der Armee die Schlüsselrolle zu. In derartigen revolutionären Momenten kann das politische (und nicht selten auch physische, siehe Rumänien im Jahr 1989) Überleben des Diktators nur durch die Drohung oder Anwendung massiver physischer Gewalt durch die Streitkräfte sichergestellt werden. Anders formuliert: Ohne die Unterstützung oder zumindest stillschweigende Akzeptanz des Militärs können Massenproteste keinen demokratischen Wandel erzwingen (Barany 2016). Gleichzeitig droht, wie die Beispiele Ägypten in den Jahren 2011 und 2013 sowie Sudan im Jahr 2018 zeigen, Diktatoren auch direkte Gefahr aus den Streitkräften, die die Proteste als Vorwand und Anlass nutzen können, sich selbst an die Macht zu putschen. Tatsächlich war für Diktatoren lange Zeit die Gefahr, infolge eines Militärputsches gestürzt zu werden, deutlich größer als die Bedrohung durch revolutionäre Massenbewegungen. Allerdings ist weltweit die Putschneigung der Militärs in den letzten Jahrzehnten beständig zurückgegangen, während die Zahl der Massenproteste tendenziell anstieg.
Massenproteste in Diktaturen sind keineswegs so selten, wie man annehmen könnte. Grenzt man überwiegend friedliche Demonstrationen gegen gewaltsame Aufstände ab, wurden allein für die Jahre 1946 bis 2006 insgesamt 79 gegen das Regime gerichtete Massenproteste gezählt (Chenoweth und Lewis 2013). Allerdings sind nicht alle derartigen Fälle auch „Diktatorenendspiele“. Zu einer echten Bedrohung für das Regime, und somit zur Gretchenfrage für das Militär, werden Massenproteste erst dann, wenn Polizei und Geheimdienste nicht mehr Herren der Lage sind. In einem aktuellen Forschungsprojekt haben wir diese Fälle für die Jahre von 1946 bis 2014 identifiziert (Croissant, Kuehn, und Eschenauer 2018a; 2018b). Danach zählen wir insgesamt 40 regimebedrohende Demonstrationsbewegungen, in denen lang andauernde und große Proteste die zivilen Sicherheitsbehörden überforderten und somit das Militär die letztendliche Entscheidungsgewalt über das Fortbestehen des Diktators im Amt innehatte.
Dabei stehen der Streitkräfteführung grundsätzlich drei Handlungsoptionen offen. Zum ersten kann sich das Militär entscheiden, der Regimeführung gegenüber loyal zu bleiben und versuchen, die Proteste durch massive Gewaltanwendung zu beenden. Dies war der Fall etwa im „Schwarzen Mai“ im Jahr 1992 in Thailand, der „Grünen Bewegung“ in Iran im Jahr 2009, und während des „Arabischen Frühlings“ im Jahr 2011 in Libyen, Syrien, Bahrain und im Jemen. Zweitens kann das Militär eine Niederschlagung der Proteste ablehnen und sich, offen oder faktisch durch Verbleib in den Kasernen, auf die Seite der Protestierenden schlagen. Dies führt in der Regel zum Sturz des amtierenden Diktators, wie etwa in den Philippinen im Jahr 1986, wo es der Seitenwechsel der philippinischen Streitkräfte unter General Ramos und ihre aktive Unterstützung der „People’s Power“ Bewegung war, die zum Sturz von Präsident Ferdinand Marcos und dem Beginn einer demokratischen Transition führten. Ähnlich war die Entwicklung in Tunesien im Jahr 2011, in Indonesien im Jahr 1998 sowie in den sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas Ende der 1980er Jahre. Drittens kann die Militärführung die Massenproteste zum Anlass nehmen, um die eigenen Machtbestrebungen zu realisieren und einen Putsch gegen den Diktator zu versuchen. Dies geschah in Haiti im Jahr 1986, in Ägypten in den Jahren 2011 und 2013 und in Burkina Faso im Jahr 2014. Empirisch zeigt sich dabei ein gemischtes Bild. In 19 Fällen (47 Prozent) haben Militärs versucht, das Regime durch massiven Gewalteinsatz zu beschützen. Dagegen haben die Streitkräfte der Regimeführung in über der Hälfte der Fälle die Gefolgschaft verweigert: In 15 Fällen (rund 38 Prozent aller Fälle) haben sie sich den Demonstrierenden angeschlossen oder sind in den Kasernen verblieben. In sechs Fällen (rund 15 Prozent) hat das Militär einen Putsch durchgeführt (siehe Abbildung 1).
Während die Ausprägungen des Militärverhaltens in „Diktatorenendspielen“ gut dokumentiert sind, steht die systematisch vergleichende Erforschung der Erklärungsfaktoren noch am Anfang. Auf der Basis bisheriger Untersuchungen lassen sich jedoch einige vorläufige Befunde formulieren (Croissant et al 2018a, 2018b). Erstens besteht die primäre Motivation der Militärführung im Eigeninteresse am eigenen Verbleib im Amt und dem damit verbundenen Zugang zu staatlichen Ressourcen und Aneignungschancen sowie dem Erhalt der Organisation Militär und ihrer Funktionsfähigkeit (Geddes, Frantz, und Wright 2014). In Diktatorenendspielen entscheiden sich die Generäle daher für diejenige Handlungsoption, mit der sich diese Interessen am ehesten realisieren lassen. Für die Niederschlagung der Protestbewegung wird sich das Militär demnach, zweitens, entscheiden, wenn die Repression den Zusammenhalt der Institution nicht zu stark gefährdet, der Verbleib in der Regimekoalition materiell profitabel ist, und wenn das Regime durch geschickte Besetzungspolitik das Überleben der Militärführung im Amt an das Überleben des Regimes knüpft. Insbesondere Letzteres ist eine besonders effektive Loyalitätsstrategie autoritärer Regime, wie etwa das gegenwärtige Beispiel Syrien zeigt, wo die Militärführung trotz des Auseinanderbrechens der Armee dem Regime gegenüber loyal geblieben ist. Kann das Regime dagegen weder wirtschaftliche noch Zwangsanreize setzen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Streitkräfte den Diktator fallen lassen. Dabei ist, drittens, ein offener oder impliziter Seitenwechsel immer dann wahrscheinlich, wenn die Militärführung erwarten kann, auch unter einer neuen Regierung im Amt zu bleiben. Dies ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn das Militär in der Vergangenheit nicht an Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Ein Putsch ist, viertens, die potenziell unsicherste Option. Es besteht nicht nur die Gefahr des Fehlschlages des Staatsstreichs sowie die mittelfristige Gefahr einer tief gehenden Politisierung und inneren Spaltung des Militärs. Darüber hinaus schließt sich an einen Militärputsch mitunter auch die Notwendigkeit an, andauernde und nun gegen die neue Militärregierung gerichtete Proteste doch niederschlagen zu müssen. Dies zeigt, zuletzt, dass „Diktatorenendspiele“ hochgradig komplexe und mit Unsicherheit behaftete Situationen sind, in denen es zu signifikanten Fehleinschätzungen kommen kann. So war durch den massiven Gewalteinsatz der thailändischen Streitkräfte im „Schwarzen Mai“ im Jahr 1992 der Zusammenbruch des Regimes von General Suchinda Kraprayoon nicht zu verhindern. Auch hat der Seitenwechsel der Nationalen Volksarmee im Herbst 1989 zwar zum Zusammenbruch der DDR beigetragen, die Militärführung wurde aber dennoch ausgetauscht. Schließlich zeigt das Beispiel Ägyptens nach dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011, dass selbst ein erfolgreicher Putsch dem Militär nicht vollständige politische Kontrolle verschaffen muss: Der anschließende Wahlsieg der Muslimbruderschaft und die andauernden Proteste gegen Präsident Mohammed Mursi führten letztlich zu einem erneuten Militärputsch im Juli 2013 und die Einsetzung einer Militärregierung unter General al-Sisi, der – mittlerweile als Zivilist – noch immer im Amt ist (Stand August 2019).
Diese Beispiele reihen sich in das umfassendere Bild der Auswirkungen von Militärverhalten in Diktatorenendspielen ein. Die Niederschlagung der Proteste führt zwar oft zu einem Überleben des Regimes und in nur fünf Fällen (26%) schloss sich an eine Niederschlagung der Protestbewegung eine Transition zur Demokratie innerhalb der nächsten drei Jahre an. Allerdings wurde in 12 der 19 Repressionsfälle (63%) der Diktator im Laufe des nächsten Jahres abgesetzt, in der Regel durch einen anderen Diktator als Ergebnis eliteninterner Machtkämpfe. Demgegenüber führte ein Seitenwechsel des Militärs in 80 Prozent der Fälle zur demokratischen Transition, auch wenn die Streitkräfte unter der neuen demokratischen Verfassung oft reservierte Politikbereiche und weit gehende Autonomien einfordern konnten. Dies war insbesondere der Fall, wo das Militär unter dem autoritären Regime weit reichende Vorrechte und Entscheidungsprivilegien genossen hatte. Schließlich führten Militärputsche in allen sechs Fällen zur Installation einer Militärregierung, und selbst wo Militärs nach dem Putsch Wahlen abhielten wie in Sudan im Jahr 1985, in Ägypten im Jahr 2011 und in Burkina Faso im Jahr 2014 waren die daraus hervorgehenden Demokratien kurzlebig und wurden bereits nach wenigen Jahren durch erneute Staatsstreiche gestürzt: Sudans Demokratie wurde schon im Jahr 1989 durch einen erneuten Putsch gestürzt; für Burkina liegen noch keine Daten für größere Zeiträume vor (siehe Abbildung 2a-c).
Wie lassen sich die Massenproteste in Venezuela, Algerien, Sudan und Hongkong in diesen Befunden verorten? Was lernen wir aus der vergleichenden Forschung über die Möglichkeiten und Grenzen des Einflusses zivilgesellschaftlicher Gruppen und Staaten oder internationaler Organisationen in diesen Fällen? In Venezuela ist es der Regierung Maduro bislang gelungen, die Loyalität der Streitkräfte zu wahren. Dabei spielt vor allem die Gewährung wirtschaftlicher Privilegien eine zentrale Rolle, durch die die Militärführung eng an das Überleben des Regimes gebunden wird. Der Zugang zu staatlich kontrollierten Ressourcen ist insbesondere angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage des von Jahrzehnten der Misswirtschaft und eines harten Sanktionsregimes gebeutelten, zugleich jedoch rohstoffreichen Landes von herausragender Bedeutung für die Eliten. Flankiert wird diese Bestechungstaktik von harter Repression gegen mögliche Abweichler und als disloyal wahrgenommene Mitglieder des Militärs. So berichten Menschenrechtsorganisationen von einer Unterwanderung des Militärs durch regimetreue Geheimdienste, von Verhaftungen und systematischer Folter gegen abweichlerische Soldaten, Offiziere und ihre Familien (Kurmanaev und Herrera 2019).
In Algerien hingegen ist es Machthaber Bouteflika und seinem Bruder Said nicht gelungen, sich der Loyalität der Militärführung zu versichern. Zwar war das Militär eine wichtige Stütze des Regimes und Teil des „Systems“ aus ziviler Büro-kratie, den Sicherheitskräften und Wirtschaftsführern. Allerdings bedrohten die Forderungen der Protestierenden nach Demokratisierung und einem Ende des korrupten „Systems“ die politischen, materiellen und institutionellen Vorrechte der Militärführung um Armeechef Gaid Salah – einschließlich des Zugriffs auf Einkommen aus dem Verkauf von Öl. Von Beobachtern wird der Seitenwechsel des Militärs daher auch als Versuch der Militärführung gewertet, Herr der Lage zu bleiben und eigene Pfründe zu sichern (McDougall 2019). Zugleich konnte sich das Militär als „Bruder des Volkes“ stilisieren, weil es seit dem Ende des Bürgerkrieges nicht in die Unterdrückung der Bevölkerung verwickelt war und die alltägliche Repression und Kontrolle von Dissens durch zivile Sicherheitsorgane und den algerischen Geheimdienst gewährleistet wurde. Auch der Putsch im Sudan lässt sich als Versuch der Militärführung interpretieren, die eigene Machtposition und Einkommensquellen angesichts eines abgewirtschafteten Systems zu bewahren und sich zugleich der Konkurrenten in der Regimeelite, insbesondere aus den Organen der inneren Sicherheit, zu entledigen.
Die Lage in Hongkong stellt sich aufgrund des rechtlichen wie politischen Sonderstatus der ehemaligen britischen Kronkolonie im Gefüge der Volksrepublik China anders dar. Die Proteste richten sich primär gegen die Regierung der Sonderverwaltungszone, den wachsenden chinesischen Einfluss in der ehemaligen britischen Kronkolonie und die als übertrieben wahrgenommene Gewalt der Sicherheitsbehörden. Sie stellen im engeren Sinn somit kein mit den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor 30 Jahren vergleichbares „Endspiel“ für die Zentralregierung in Peking dar. Auch steht die Regimeloyalität der Volksbefreiungsarmee oder der lokalen Hongkonger Polizeikräfte nicht in Frage, zumal letztere in den vergangenen Jahren immer stärker durch festlandchinesische Polizisten aus der Nachbarprovinz Guangdong verstärkt wurden (Lam 2019). Dennoch werden die Proteste als kritischer Moment für die Regierung von Xi Jinping wahrgenommen, nicht zuletzt, weil der Umgang der Zentralregierung mit Hongkong erhebliche Auswirkungen über die Grenzen der Sonderverwaltungszone hinaus haben wird: Sie beeinflussen die öffentliche Meinung und Politik im von Peking als abtrünnige Provinz definierten, demokratisch regierten Taiwan, dem Peking die Wiedervereinigung unter dem Hongkonger Modell „ein Land, zwei Systeme“ anbietet.
Folgt man den Erkenntnissen der vergleichenden Forschung, sind die Aussichten für eine längerfristige Demokratisierung in den vier Fällen keineswegs rosig. Solange das Militär in Venezuela einigermaßen geeint ist und die Militärführung durch die Gewährung materieller und politischer Privilegien sowie den gezielten Einsatz von Zwangsmitteln loyal gehalten werden kann, ist nicht mit einer Abkehr der Militärführung von Maduro zu rechnen. Dies begründet sich nicht zuletzt darin, dass die Militärführung durch ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen während der Proteste kaum mit einer Amnestie unter einer potenziell von der Opposition gestellten Regierung rechnen kann. Diesbezügliche Versprechen von Parlamentspräsident Guaidó waren und werden nicht ausreichend sein, um die Generalität zu einer Abkehr vom Regime zu bewegen. Wie die vergleichende historische Perspektive zeigt, heißt dies aber nicht, dass Maduro sich sicher fühlen kann. Wenn sich die Lage erneut zuspitzt, könnte der Präsident durch interne Herausforderer gestürzt werden oder die Militärführung gar einen Militärputsch in Betracht ziehen. Die größte Gefahr für das Regime stellt derzeit jedoch vorrangig die Spaltung des Militärs in einen regimeloyalen Teil und ein oder mehrere oppositionelle Teile dar. Dann könnte Venezuela ein „syrisches Szenario“ von Bürgerkrieg und noch weit massiveren Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies wird noch komplizierter durch die Beteiligung nichtstaatlicher bewaffneter Akteure wie paramilitärischer Truppen, Milizen, die „Colectivos“ und die organisierte Kriminalität, die teils mit dem Militär und der Regierung verbunden sind (Kurtenbach 2019).
In Algerien ist es der Armeeführung durch ihren Seitenwechsel vorläufig gelungen, die weitere politische Entwicklung des Landes mitgestalten zu können, ohne selbst die Macht übernehmen zu müssen. Zugleich boten die Demonstrationen ihr die Möglichkeit, Konkurrenten aus dem „System“, insbesondere die Führung des Geheimdienstes, kaltzustellen. Allerdings sind Transitionsprozesse längerfristig für die alten Eliten kaum steuerbar, und Teile der Protestbewegung verweigern sich einer Kooperation mit der Militärführung um Gaid Salah, die als Vertreter des alten Regimes wahrgenommen wird. Im Hinblick auf die zukünftige demokratische Entwicklung wird das Militär jedoch auf absehbare Zeit eine wichtige Rolle spielen. Im günstigsten Fall finden Militärführung und Opposition einen Kompromiss, der politische Reformen einleitet, dabei aber die Interessen des Militärs sicherstellt. Die vergleichende Forschung zeigt zudem, dass dem Militär einmal eingeräumte Privilegien mittel- bis langfristig schrittweise abgebaut werden können, wenn demokratische Verfahren sich etabliert und gefestigt haben und zivilgesellschaftliche Akteure gestärkt sind (Croissant und Kuehn 2011). Gleiches gilt prinzipiell für den Sudan, wo sich im August 2019 unter Vermittlung der Afrikanischen Union Militärs und Vertreter der Opposition auf eine „Verfassungserklärung“ geeinigt haben, die eine dreijährige Übergangsperiode unter einer zivil-militärischen Koalitionsregierung vorsieht.
In Hongkong wird die Zentralregierung einer größeren Unabhängigkeit der Sonderverwaltungsregion nicht zustimmen. Allerdings stellt die gewaltsame Niederschlagung durch die Volksbefreiungsarmee trotz allen Säbelrasselns keine realistische Perspektive dar, zu groß wäre der Schaden für das Ansehen von Partei- und Militärführung und den essentiell wichtigen Wirtschaftsstandort. Nicht zuletzt hat die Volksbefreiungsarmee im Jahr 1989 sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie zukünftige Einsätze zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit ablehnt, was zum umfassenden Ausbau des zivilen Staatssicherheitsapparates geführt hat. Stattdessen scheint das Regime auf eine Kombination mehrerer kurz- bis mittelfristiger Strategien zu setzen, die die Delegitimierung der Proteste und den verdeckten Einsatz festlandchinesischer Polizeikräfte, einschließlich der paramilitärischen Bewaffneten Volkspolizei, vereint (Lam 2019).
Die vier Fälle zeigen, dass die Einflussmöglichkeiten von außen eng begrenzt sind. Dies wird besonders deutlich am Fall Venezuela. Die Anerkennung von Parlamentspräsident Guaidó als legitimem Staatsoberhaupt durch große Teile der internationalen Gemeinschaft hat den Protesten zwar zeitweise neue Energie gegeben, eine Lösung des Konflikts hat sie jedoch nicht gebracht. Auch ist der Sanktionsspielraum angesichts des bereits bestehenden, sehr umfassenden Sanktionsregimes und des Widerstandes Russlands und Chinas weitgehend ausgeschöpft. Die von US-Präsident Trump mehrfach angedrohte militärische Intervention ist ebenfalls unrealistisch. Die internationale Reaktion auf die Ereignisse in Algerien wiederum war sehr zurückhaltend und der Großteil der Protestbewegung scheint die Einmischung internationaler Akteure auch abzulehnen. Auf der Basis der vergleichenden Forschung können demokratische Länder eine unterstützende Rolle spielen, indem sie kurz- bis mittelfristig eine Kompromisslösung befürworten, und längerfristig die Stärkung der aktuell noch vergleichsweise schwach organisierten algerischen Zivilgesellschaft unterstützen, die eine schrittweise Demokratisierung und den Rückbau der Vorrechte des Militärs vorantreiben kann.
Dies sollte auch im Sudan das Ziel prodemokratischer Unterstützungsbestrebungen sein. Jedoch illustriert das Land das Dilemma und die Grenzen des Umgangs demokratischer Regierungen mit Militärputschen gegen Diktatoren. Während der Sturz des langjährigen Diktators al-Bashir zunächst von westlichen Regierungen begrüßt wurde, reagierte die Militärregierung auf die anhaltenden Proteste, die nun eine größere Mitsprache ziviler Akteure forderten, mit Repression. Allerdings ist die wichtige Rolle der Afrikanischen Union (AU) bei der Ausarbeitung der „Verfassungserklärung“ auch ein Beispiel dafür, dass regionale Organisationen durchaus über Möglichkeiten verfügen, bei der Aushandlung eines Interessenausgleichs zwischen Militär und Opposition mitzuwirken. In Venezuela hingegen haben regionale Akteure keinen Interessenausgleich bewirken können; vielmehr hat die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) durch ihre eindeutige Positionierung zugunsten der Opposition den Konflikt eher verschärft (Kurtenbach 2019). Schließlich zeigt der Fall Hongkong, wie Versuche externer Einflussnahme in die von Peking als „innere Angelegenheiten“ bezeichneten Vorgänge rasch kontraproduktiv sein können. So vergleicht die chinesische Regierung die Proteste mit den „Farbrevolutionen“ der 2000er Jahre, die sowohl von Russland und China als auch von den USA als gesteuerte Akte der Destabilisierung und Unterwanderung interpretiert werden (Lam 2019). Daher bleibt westlichen Regierungen realistischerweise wenig mehr, als zur Mäßigung aufzurufen und friedliche Konfliktlösungen anzumahnen.
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