GIGA Focus Nahost
Nummer 6 | 2020 | ISSN: 1862-3611
Die anhaltende Islamisierung der Türkei unter der AKP-Regierung wird mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Während Präsident Tayyip Erdoğan gegenwärtig stärker auf Repression setzt, übersieht ein allein auf die ideologische Transformation des Landes gerichteter Blick die zentrale Bedeutung des neuen Sicherheitsregimes. Dieses bestimmt zunehmend die türkische Politik und führt dabei zu einer Politisierung des Militärs und einer Militarisierung der Politik.
Erdoğan ist von dem von der Europäischen Union gewünschten Pfad einer rechtlich-institutionellen und „objektiven Kontrolle des Militärs“ abgewichen. Stattdessen beschreitet er Wege einer „subjektiven Kontrolle“, bei der die zivilen mit den militärischen Bereichen stärker miteinander verquickt und Letztere politisiert werden.
Flankiert von einem hochgradig militarisierten Sprachstil, diversifiziert Erdoğan die militärischen und paramilitärischen innen- wie außenpolitischen Instrumentarien des Landes, um sich gegen weitere Putschversuche zu wappnen und das Überleben seines Regimes zu sichern.
Das dabei entstehende Sicherheitsregime hat allerdings Schwächen. Zum einen zeichnen sich Bruchlinien innerhalb der Regierungskoalition ab, die die existierende Loyalität gegenüber Erdoğan verringern könnten. Außerdem ist fraglich, ob eine Paramilitarisierung Erdoğan vor weiteren Putschversuchen bewahren wird.
Es ist an der Zeit, dass die Europäische Union beim Thema Militarisierung eine ganzheitliche Herangehensweise entwickelt. Nur so lässt sich ein derart vielfältiges Spektrum an bewaffneten Organisationen erfassen und die Militarisierung der türkischen Innen- und Außenpolitik analysieren. Der politische Dialog sollte entsprechend den Kopenhagener Kriterien die Demilitarisierung des türkischen Regimes zum Ziel haben.
Die Interpretationsversuche der autoritären Wende in der Türkei nehmen vor allem die von der Regierung forcierte Islamisierung von Staat und Gesellschaft in den Blick, die sich seit nunmehr zwei Jahrzehnten unter der Herrschaft der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) vollzieht. Durch die Überbetonung dieser eingestandenermaßen dysfunktionalen ideologischen Transformation wird allerdings oft übersehen, wo die Grenzen dieses gesellschaftlichen und politischen Umbauprojekts liegen. Als Ausdruck einer organischen Säkularisierung von unten entfremdet sich die türkische Jugend immer mehr von der Religion. Präsident Tayyip Erdoğan hat sein Narrativ, er wolle die Herzen und Köpfe der Gesellschaft erobern, schon länger aus den Augen verloren. Er setzt inzwischen weniger auf Konsens als vielmehr auf Repression. Vor allem aber lässt die vorwiegend ideelle Lesart der AKP-Politik eine weitere Dimension der anhaltenden türkischen Transformation außer Acht, nämlich dass das neu entstehende Sicherheitsregime die repressiven Fähigkeiten des Staates in allen Bereichen der Innen- und Außenpolitik stärkt.
Erdoğan ist ein wahrer Überlebenskünstler. Er trotzte in kurzer Folge mehreren kemalistischen Herausforderungen wie zum Beispiel dem E-Memorandum der Streitkräfte im Jahr 2007 und dem Verbotsverfahren gegen die AKP vor dem Verfassungsgericht im Jahr 2008. Im Jahr 2013 geriet Erdoğans Regierung durch die massiven regierungskritischen Gezi-Proteste und die Korruptionsermittlungen gegen seine Entourage ernsthaft ins Wanken. In der Vergangenheit hätte jedes einzelne dieser Ereignisse ausgereicht, ein türkisches Staatsoberhaupt aus dem Amt zu fegen, doch Erdoğan kam jedes Mal ungestraft davon. Im Gegenteil: Zuletzt verschaffte ihm der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016, den Ankara dem Religionsführer Fethullah Gülen und seiner Anhängerschaft zur Last legt, die weitreichendsten Machtbefugnisse, über die ein türkisches Staatsoberhaupt jemals verfügte. Um das Überleben seiner im Entstehen begriffenen Autokratie, die sich im Jahr 2018 als Hyper-Präsidialsystem institutionalisierte, auch angesichts von Konjunktureinbrüchen, politischen Spannungen und diplomatischen Krisen zu sichern, war er gezwungen, sämtliche Fäden in seinen eigenen Händen zu halten. Insbesondere seit dem Putschversuch im Jahr 2016 versucht Erdoğan einerseits, die politische Kontrolle zu behaupten, indem er das Militär säubert und ein Gegengewicht in Form eines Netzwerks paramilitärischer Kräfte aufbaut. Andererseits verstärkt er seine konfrontative Rhetorik und setzt immer stärker auf Hard Power, um im Inland die Massen zu mobilisieren und oppositionelle Stimmen zu unterdrücken, während er im Ausland seinen diplomatischen Einfluss ausbaut. All dies hat letztlich zu einer Politisierung des Militärs und zu einer Militarisierung der Politik in der Türkei geführt.
Nichtdemokratische Staatschefs fürchten ihre Armeen aus gutem Grund. Eine neuere Studie für den Zeitraum von 1946 bis 2010 zeigt, dass ihr Sturz am häufigsten durch einen Militärputsch herbeigeführt wird, auch wenn solche Putsche insgesamt rückläufig sind (Geddes et al. 2018: 179). Dabei steht für ein Staatsoberhaupt mehr auf dem Spiel als nur der Verlust von Amt und Würden. Lediglich 20 Prozent der abgesetzten Herrscher entgehen nach ihrer Amtszeit einer Bestrafung durch Tod, Inhaftierung oder Vertreibung (Goemans et al. 2009). In einem Land, in dem die Armee üblicherweise alle zehn Jahre (1960, 1971, 1980, 1997, 2007 und 2016), wenn auch in unterschiedlicher Form, politisch interveniert, sollte diese Sorge noch tiefer sitzen. Daher investieren nichtdemokratische Machthaber massiv in Präventivmaßnahmen (coup-proofing measures), um sich gegen einen Staatsstreich durch das Militär zu wappnen. Solche Maßnahmen reichen vom Aufbau persönlicher Loyalitäten bei Offizieren aufgrund ethnischer, religiöser, ideologischer und/oder materieller Aspekte bis hin zur Bildung neuer bewaffneter Einheiten parallel zu den regulären Streitkräften.
Wegen des gegenseitigen Misstrauens zwischen der AKP und dem Militär ging die Partei in ihren ersten Regierungsjahren sehr vorsichtig vor und hielt sich hauptsächlich dadurch an der Macht, dass sie sich den geplanten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zunutze machte. Dieser verpflichtete – neben dem Acquis communautaire – das Land zur Einschränkung der politischen Privilegien des Militärs. Ein geläufiger Begriff dieser Zeit war unter anderem „die militärische Vormundschaft“ (askeri vesayet), die von der AKP-Elite in ihren Reden immer wieder als prägendes Merkmal der „Alten Türkei“ und als finstere Macht, die den Willen der Nation vernebele, aufs Korn genommen wurde. Die Gesetzesänderungen, die mit den Beitrittsbedingungen der EU legitimiert wurden, erreichten mit dem Verfassungsreferendum im Jahr 2010 ihren Höhepunkt. Damit konnten Armeeoffiziere vor ein Zivilgericht gestellt werden, falls sie Verbrechen gegen den Staat begingen. Durch solche Reformen sollte die „objektive Kontrolle des Militärs“ im Sinne Huntingtons institutionalisiert werden. Diese beruht auf einer klaren Trennung zwischen ziviler und militärischer Sphäre und geht mit zivilen Kontrollmechanismen und einer Professionalisierung des Militärs einher. Im Laufe der Zeit entschied sich Erdoğan jedoch für einen für den Nahen und Mittleren Osten eher typischen Weg – die „subjektive Kontrolle des Militärs“, deren theoretisches Ziel in der ausgewogenen Zusammenführung beider Sphären liegt. In der Praxis handelt es sich dabei allerdings meist um eine Politisierung des Militärs, spiegelbildlich zur Militarisierung des Amtsinhabers. Dies war eine eindeutige Abkehr nicht nur von dem Pfad, den die EU vorgezeichnet hatte, sondern auch von der üblichen Praxis in der Alten Türkei. Hier griff die türkische Armee direkt oder indirekt regelmäßig in die Politik ein. Dabei ging es ihr allerdings nicht darum, den politischen Pluralismus abzuschaffen oder schließlich die Exekutivmacht zu ergreifen. Stattdessen legte sie größten Wert darauf, ihr Image als Macht, die „über der Politik steht“, zu wahren, indem sie einmütig als selbsternannte Hüterin des Staates auftrat. Um seine neue Form der zivilen Kontrolle durchzusetzen, hat Erdoğan a) das Militär von illoyalen Offizieren gesäubert, b) versucht, loyale Parteigänger zu protegieren, und c) das Militär umstrukturiert, um seine eigene Vormachtstellung zu festigen.
In der Alten Türkei standen bei den Sitzungen des Obersten Militärrats (Yüksek Askeri Şura, YAŞ) jedes Jahr im August routinemäßig Entlassungen aus der Armee wegen „reaktionärer“ [sprich: „islamistischer“] Umtriebe auf der Tagesordnung. Nach seiner Intervention im Jahr 1997 intensivierte das Militär seine Bemühungen, sich von religiösen Einflüssen zu befreien und zu einer möglichst homogenen, säkularen Struktur zu gelangen. Doch keine dieser Säuberungen ist mit den Umwälzungen innerhalb der Armee während der Regierungszeit der AKP vergleichbar. Nach einer Serie von Gerichtsverfahren, allen voran Ergenekon im Jahr 2008 und Sledgehammer aus dem Jahr 2010, richtete sich die erste Säuberungswelle gegen die Eurasianisten im Militär. Offiziere, manche im Ruhestand, andere noch im Dienst, landeten zu Hunderten im Gefängnis, weil sie eine Verschwörung zum Sturz der AKP-Regierung angezettelt haben sollten (Taş 2014). Es stellte sich heraus, dass das, was damals als Todesstoß für den türkischen „tiefen Staat“ gefeiert wurde, nicht viel mehr zum Ziel hatte, als die interne Beförderungsreihenfolge auszuhebeln und im Schnellverfahren loyale/gülenistische Offiziere zu protegieren. Seit der Sitzung des Obersten Militärrats im August 2010 hat es die AKP geschafft, der Armee ihre eigene Beförderungs- und Pensionierungsliste aufzudrücken und gleichzeitig die Beförderung von Offizieren zu blockieren, die mit den Fällen Ergenekon und Sledgehammer in Verbindung gebracht wurden. Der sich im Zeitverlauf verstärkende Bruch zwischen der AKP und den Gülenisten kulminierte im Jahr 2016 in einem gescheiterten Putschversuch und einer zweiten Säuberungswelle, die bis heute anhält. Per Dekret vom 20. Juli 2016 wurden etwa 149 von insgesamt 325 Generälen und Admiralen und insgesamt mehr als 20.000 Armeeangehörige wegen angeblicher Verbindungen zu Gülen entlassen. Nachdem sich die Reihen des Militärs durch diese Säuberungen deutlich gelichtet hatten, bot sich Erdoğan die einmalige Gelegenheit, die Armee als Institution nach seinen eigenen Vorstellungen umzugestalten. Bis zum Jahr 2019 wurden etwa 51.144 neue Armeeangehörige rekrutiert. Das Hauptkriterium für eine Beförderung ist seither Loyalität. Dabei zeigen die erzwungene Pensionierung der Generäle Metin Temel und Zekai Aksakallı sowie die verweigerte Beförderung von Cihat Yaycı – die alle bei der Niederschlagung des gescheiterten Putschversuchs im Jahr 2016 bzw. der darauffolgenden gülenistischen Säuberung eine wichtige Rolle gespielt hatten –, dass ideologische Loyalität allein nicht ausreicht, sondern gleichfalls persönliche Loyalität (sowohl gegenüber Erdoğan als auch gegenüber dem Verteidigungsminister Hulusi Akar) erforderlich ist. Welches Ziel Erdoğan langfristig für die Armee anstrebt, zeigt sich zudem in der Schließung aller bestehenden Militärakademien, die als Festungen der kemalistischen Indoktrination gelten, und der Gründung einer Universität für nationale Verteidigung, die als neue Dachorganisation für eine militärische Ausbildung fungiert.
Während Säuberungen, erzwungene Pensionierungen und Beförderungen von Loyalisten weiter durchgeführt wurden, baute Erdoğan seinen Zugriff auf die Armee durch bestimmte institutionelle Veränderungen aus, um ihre Autonomie zu beschneiden. Die Pflichten und Befugnisse des Generalstabs wurden per Dekret stark eingeschränkt und gleichzeitig die Land-, See- und Luftstreitkräftekommandos dem Verteidigungsminister unterstellt. Nunmehr hat der Staatspräsident die Befugnis, die Befehlshaber der verschiedenen Streitkräfte zu ernennen, sich von ihnen berichten zu lassen und ihnen direkte Befehle zu erteilen. Außerdem wurde die Zahl der zivilen YAŞ-Mitglieder erhöht, um die Kontrolle durch Zivilisten zu stärken (Akça 2018).
Die Feinjustierung der Armee durch die AKP-Elite hat dem Korpsgeist geschadet und zugleich einer zunehmenden Politisierung auf allen militärischen Rängen Vorschub geleistet. Berufliche Wertmaßstäbe und die leistungsorientierte Beförderung aufgrund von Kompetenz und Dienstalter sind irrelevant geworden. Folglich hängt der Verlauf einer Offizierskarriere immer stärker von guten Beziehungen zur politischen Führung ab. Bei AKP-Veranstaltungen und in den Parteibüros sind heute überall Fotos von Offizieren der mittleren und höheren Ränge zu sehen. Jedoch kann man die türkische Armee, selbst wenn sie immer mehr als Arm der Partei gilt, wohl nicht uneingeschränkt als Erdoğans Armee bezeichnen. Die Spaltung zwischen den Atlantikern (die für den Nordatlantikpakt eintreten) und den (anti-westlichen) Eurasianisten unter den höheren Rängen der zweitgrößten NATO-Armee ist altbekannt. Seit dem Jahr 2014 hatte Erdoğan mehrere hochrangige Offiziere eingesetzt, die in den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen verurteilt worden waren, um damit die antigülenistische Fraktion in der Armee zu stärken. Inzwischen werden diese von ihm bei Beförderungen in den YAŞ jedoch wieder stillschweigend übergangen. Noch immer mangelt es Erdoğan an einer loyalen Basis, insbesondere unter den hochrangigen Militärs. In Wahrheit steht und fällt das ganze System in Abhängigkeit von dem gegenseitigen Vertrauen zwischen Erdoğan und Akar sowie dessen Aufstieg vom ehemaligen Generalstabschef zum Verteidigungsminister (Gürcan 2020). Ob die Zusammenarbeit zwischen Akar und dem jetzigen Generalstabschef Yaşar Güler auch noch zwischen deren beider Nachfolger Bestand haben wird, ist dagegen eine andere Frage.
Im Gegensatz zur antimilitaristischen Agenda der ersten Jahre seiner Amtszeit ist die Entmilitarisierung inzwischen kein besonders großes Anliegen des türkischen Präsidenten mehr. Beginnend mit der Unterdrückung der Kurden in Südostanatolien bis hin zu militärischen Interventionen im Ausland greift Ankara zunehmend auf Zwangs- und Gewaltmaßnahmen zurück. Auch wenn in einer kriegsgeschüttelten, instabilen Region Investitionen in die militärische Macht ein rationales Kalkül erkennen lassen, hat sich die herrschende AKP-Elite bewusst für die Militarisierung der Innen- wie der Außenpolitik entschieden, um das eigene Regime zu konsolidieren.
Die Militarisierung in der Türkei lässt sich sowohl horizontal (über verschiedene Politikfelder hinweg) als auch vertikal (anhand der Vergrößerung der bewaffneten Gruppen) aufzeigen. Die horizontale Militarisierung, das zunehmende Vertrauen auf das Militär und eine militaristische Sprache sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik beruhen auf einem populistischen Framing der Politik als einem „zweiten Befreiungskrieg“ der Türkei gegen die westlich-imperialistische Elite und ihre Kollaborateure im Inland. Dies hilft Erdoğan, die Unterstützung in der einheimischen Bevölkerung zu konsolidieren und Oppositionelle abzuschrecken. Während jede Anfechtung seiner Politik (von der Abwertung der türkischen Lira bis hin zu den Frauenrechten) als Teil einer großen Verschwörung dargestellt wird, macht das militaristische Gerede vom Befreiungskrieg jedes soziale oder wirtschaftliche Problem zu einer lediglich zweitrangigen Angelegenheit, die hinter dem „Überleben der Nation“ (milletin bekasi) zurückzustehen hat.
Darüber hinaus haben die türkischen Interventionen in Syrien, Libyen und Aserbaidschan, die dem Narrativ zufolge den Einsatz von Bodentruppen erforderten, Erdoğans Popularität erhöht und eine nationalistische Stimmung geschürt, die über die traditionelle Basis der AKP hinausgeht und die De-facto-Koalition des Präsidenten mit der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) zementiert. Auch die Unterhaltung von wachsamen gesellschaftlichen Gruppen, die Erdogan unterstützen, und die Bindung der Armee im Ausland sind einschlägige Strategien, um sich gegen einen Militärputsch zu wappnen. Vor allem aber – und dies steht nicht im Widerspruch zu seinem Pragmatismus und seinen Kehrtwendungen in der Vergangenheit – könnte die Militarisierung das Einzige sein, was Erdoğan noch bleibt, da eine Normalisierung von Politik und Rechtsstaatlichkeit in der Zukunft eher unwahrscheinlich sein dürfte. Angesichts der sich verstärkenden Isolation der Türkei im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika ist wiederum Hard Power der einzige Hebel, mit dem Erdoğan international seine Bedingungen diktieren kann.
Im Hinblick auf die vertikale Militarisierung erlebt die Türkei einerseits eine zunehmende Paramilitarisierung der vorhandenen Sicherheitskräfte und deren stärkere Anbindung an das Präsidentenamt und andererseits einen vielschichtigen Neuaufbau von paramilitärischen Kräften.
Ähnlich groß wie die reguläre Armee befehligt das Innenministerium inzwischen eine immense Anzahl bewaffneter Gruppen. Hierzu gehören die Gendarmerie, die Sicherheitswachen (security guards), die Polizei, die Nachtwächter (night guards) und die Küstenwache. Dazu kommt eine weitere Schicht paramilitärischer Gruppen, die folgende Gruppen einschließt, sich aber nicht nur darauf beschränkt: SADAT, Stellvertretermilizen, Mafia und regierungsnahe Bürgerwehren). Alle sind informell mit dem Regime verbunden und sollen Erdoğan vor zukünftigen Bedrohungen aus den Reihen des Militärs schützen und seine Repressionsinstrumente diversifizieren.
Gendarmerie: Die paramilitärische Polizei der Türkei, die Gendarmerie, wurde zusammen mit der Küstenwache dem Innenministerium unterstellt und ihre Anbindung an das Militär auf Zeiten der militärischen Mobilmachung beschränkt. Im Jahr 2019 unterzeichnete sie außerdem eine gemeinsame Absichtserklärung mit der russischen Nationalgarde Rosgvardiya für die Bereiche öffentliche Sicherheit, Schutz staatlicher Einrichtungen und Extremismusbekämpfung.
Die Sicherheitswachen (ehemals Dorfschützer): Ursprünglich im Jahr 1985 als vorübergehende Maßnahme zum Schutz von Dörfern im Osten der Türkei und zur Unterstützung der Armee eingerichtet, wurde das System der Dorfschützer nach und nach in die bestehende Sicherheitsstruktur integriert. Die Bezeichnung Dorfschützer wurde in Sicherheitswachen geändert, ihr Tätigkeitsfeld erweitert und ihnen das Recht erteilt, Handfeuerwaffen zu besitzen und zu tragen. Zur Verjüngung der Sicherheitswachen versetzte die Regierung im Jahr 2017 mehr als 18.000 Dorfschützer in den Ruhestand und rekrutierte über 25.000 neue Mitglieder.
Die Polizei: Die Paramilitarisierung der normalen Polizeikräfte durch militärische Ausrüstung und weitreichende Befugnisse zur Unterdrückung von Protestbewegungen in den Großstädten gewann nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013 an Dynamik und wurde mit dem Reformpaket zur inneren Sicherheit (İç Güvenlik Paketi) im Jahr 2015 manifestiert. Zum Schutz von Erdoğan wurde eine neue mobile Strafverfolgungseinheit namens Bereitschaftspolizeiliche Verstärkungseinheit (Takviye Hazır Kuvvet Polis Birimi) mit Dienststellen in Ankara (2018) und Istanbul (2020) eingerichtet.
Die Nachtwächter (night guards): Im Jahr 2016 führte Erdoğan die alte Praxis der Stadtteilwache wieder ein, die im Jahr 2008 aufgegeben worden war, und unterstellte sie der AKP. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2020 erhält das nunmehr 21.000 Mann starke Nachtwächtersystem außerdem weitreichende Befugnisse zur Durchführung von Identitätskontrollen, Leibesvisitationen, Fahrzeugdurchsuchungen und darf gegebenenfalls tödliche Gewalt ausüben.
SADAT: Adnan Tanriverdi, ein ehemaliger Ein-Sterne-General, der im Jahr 1996 wegen islamistischer Verbindungen entlassen worden war, gründete im Jahr 2012 – mitten im Arabischen Frühling – SADAT International Defense Consultancy, ein privates Unternehmen, das Ausbildungslehrgänge für irreguläre Kriegsführung anbietet. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 wurde Tanriverdi zum Chefsicherheitsberater von Erdoğan ernannt, trat aber nach seiner apokalyptischen öffentlichen Erklärung vom Dezember 2019 zurück. Er erklärte, dass sein Kampf lediglich darin bestehe, den Weg für die bevorstehende Ankunft des ersehnten Mahdi – einer messianischen Gestalt im Islam – zu ebnen. Mehreren Aussagen und Medienberichten zufolge soll Ankara einige paramilitärische Dienstleistungen – wie zum Beispiel Rekrutierung, Ausbildung, Logistik und Transport von Milizen – in Libyen und Syrien an die SADAT vergeben haben, was jedoch bis heute durch das Unternehmen abgestritten wird (Eissenstat 2017).
Stellvertretermilizen: Auf der Grundlage eines im Jahr 2015 unterzeichneten Übereinkommens mit den USA wurden im Rahmen eines Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramms für gemäßigte syrische Oppositionelle mehrere Milizgruppen in der Türkei stationiert. Der Einsatz dieser Milizen bei den Auslandseinsätzen der Türkei erreichte eine neue Stufe, als Erdoğan die Präsenz syrischer Söldner neben der türkischen Armee bei deren Operationen in Libyen einräumte. Zudem und im Widerspruch zum Dementi Ankaras weisen internationale Medienberichte darauf hin, dass die Türkei nach Aserbaidschan ebenfalls syrische Söldner entsandt hat, um das Land in den kürzlich wieder aufgeflammten Kampfhandlungen gegen Armenien um die umstrittene Region Berg-Karabach zu unterstützen. Dieser Trend passt zu einer Erklärung des SADAT-Gründers Tanrıverdi aus dem Jahr 2019, dass die Türkei für Auslandsoperationen eine private Söldnertruppe wie Blackwater (von den USA ab dem Jahr 2003 im Irak beauftragt) oder Wagner (von Russland seit dem Jahr 2015 in Syrien und Libyen eingesetzt) aufstellen müsse. Im innenpolitischen Bereich gehören zu dieser Kategorie das Esedullah-Team – eine Spezialeinheit, der angeblich Mitglieder der Nusra-Front angehören, die im Jahr 2015 im Konflikt um die Städte im vorwiegend kurdischen Südosten der Türkei auftauchte und für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Morde in dieser Zeit verantwortlich gemacht wird.
Mafia und Gangs: Die Beziehungen des türkischen Staates zu Mafiaorganisationen und Gangs gehen weit in die Vergangenheit zurück. Was früher in Form von verdeckten Operationen durchgeführt wurde, spielt sich heute vor aller Augen so ab, als wäre das ein ganz normales Vorgehen. Während die allgemeine Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und der systemische Umbau der Sicherheitskräfte den Nährboden für Mafiaorganisationen und Gangs bereitete, organisierten führende Mafiabosse wie Sedat Peker Kundgebungen, um die Koalition aus AKP und MHP bei Wahlen zu unterstützen. Ein transnationales Beispiel für diese geheimen Absprachen sind die engen Verbindungen zwischen dem AKP-Abgeordneten Metin Külünk und einer gewaltbereiten Gang, der Osmanen Germania, die nach Angaben deutscher Medien für mehrere Einschüchterungsversuche gegenüber türkischen Dissidenten im Ausland verantwortlich war (ZDF 2017).
Regierungsnahe Bürgerwehren: Durch die islamistische Bedrohung unter der AKP-Regierung alarmiert, schossen im Jahr 2007 – meist unter dem Banner der Nationalen Kräfte (Kuvayi Milliye) – mehrere Organisationen aus dem Boden, die die türkische Unabhängigkeit vor den westlichen Imperialisten und ihren Kollaborateuren – nämlich der AKP – retten wollten (Cevik und Tas 2013). Zehn Jahre später kam es zu einer weiteren Mobilisierungswelle durch Bürgerwehren, die mit einem identischen militaristischen Diskurs von sich reden machten, nun aber die AKP in ihrem „Unabhängigkeitskrieg“ unterstützten. Dazu gehören zum Beispiel die Sondereinsatzgruppen des Volkes (Halk Özel Harekatı), die nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 bewaffnet und in Tarnuniformen und polizeiwagenähnlichen Fahrzeugen durch die Straßen patrouillierten, oder auch die Osmanischen Vereine (Osmanlı Ocakları), welche mit ihren Angriffen auf Presseleute oder Büros der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) bekannt wurden. Durch ihre Aktionen demonstrierten diese Organisationen ihre Entschlossenheit: Sie waren bereit, ihr Leben für den Boss – für Erdoğan – zu opfern. Abgesehen von einem militaristischen Diskurs, der einhergeht mit einer Verherrlichung des Märtyrertodes, wurden Medienberichten zufolge einige ihrer Anführer militärisch ausgebildet und kämpften in Syrien.
Die Regierung schuf zudem einen Rechtsrahmen für ihr neues Sicherheitsregime. Als Erstes verkündete Erdoğan am 14. Juli 2016, einen Tag vor dem gescheiterten Putschversuch, das Gesetz Nr. 6722, welches den Sicherheitskräften pauschal Straflosigkeit für jegliche während der Ausgangssperre verursachten Schäden und Rechtsverletzungen zusicherte. Viele sehen in diesem Gesetz eine Wiedereinführung des EMASYA-Protokolls (Protokoll über Sicherheit, öffentliche Ordnung und Hilfseinheiten). Es gewährt dem Militär nicht nur Immunität, sondern überträgt ihm auch die Befehlsgewalt über alle Sicherheitskräfte im Antiterrorkrieg, um die öffentliche Ordnung im Land wiederherzustellen. Zweitens befreit Artikel 37 des Gesetzes Nr. 6755 vom 8. November 2016 die Staatsbediensteten von jeglicher rechtlichen oder administrativen Verantwortung für Entscheidungen, die sie zur Abwehr des Putschversuchs im Jahr 2016 und der anschließenden Terroranschläge getroffen hatten. Aufgrund seiner umfassenden und vagen Terrorismusdefinition, die in der heutigen politischen Situation der Türkei auf jede Art von Dissens zutreffen könnte, wird mit diesem Dekret die strafrechtliche Verantwortlichkeit aller Staatsbediensteten unbefristet aufgehoben. Drittens wurde eben diese weitreichende Immunität mit Artikel 121 des Dekrets Nr. 696 vom 24. Dezember 2017, ebenfalls ohne Befristung, auf Zivilpersonen ausgedehnt, die sich an der Abwehr des Putschversuchs und der anschließenden Terroranschläge beteiligt hatten. Durch diese Gesetzesänderungen werden durch die Regierung alle Initiativen, die Gründung von Milizen und individuelle Bewaffnung möglich gemacht, um das Überleben des Regimes abzusichern.
Das Sicherheitsregime der Neuen Türkei wird weiter ausgebaut (s. Abb. 2). Es ist nicht bekannt, ob es dafür einen Masterplan gibt. Allerdings ist die Durchlässigkeit zwischen derart unterschiedlichen Gruppierungen bemerkenswert (z.B. syrische Kämpfer, die die türkische Staatsbürgerschaft und Positionen in der türkischen Armee erhalten; Mitglieder AKP-freundlicher Organisationen, die in Syrien kämpfen; Mafiagrößen, die sich in lokalen Parteibüros der AKP festsetzen). Wieder einmal zeigen uns die geheimen Absprachen zwischen zahlreichen unterschiedlichen Kräften, die in einmütiger Komplizenschaft Straftaten begehen, dass keines dieser Elemente separat zu betrachten ist. So löste beispielsweise der Fall von Ahmet Kurtuluş, einem ehemaligen stellvertretenden Leiter des AKP-Büros in Izmir, der am 31. Mai 2019 in seinem Wohnhaus erschossen wurde, eine Debatte über ein lokales Netzwerk der organisierten Kriminalität aus, in das AKP-Abgeordnete, Mafiagruppen, Justiz, Geheimdienste und Sicherheitskräfte verstrickt waren. Das mutmaßliche Netzwerk erpresste Geld von Geschäftsleuten, um deren Namen aus allen Ermittlungen herauszuhalten, die mit der Gülen-Bewegung zu tun hatten, und war außerdem an einem Plan zur Ermordung des amerikanischen Pastors Andrew Brunson beteiligt (McKay 2020).
Der Umbau der türkischen Sicherheitsstruktur und die Diversifizierung seiner Instrumentarien ist in erster Linie die Antwort Erdoğans auf mögliche Bedrohungen vonseiten der Eliten und des Volkes. Denkbar wären hier ein weiterer Putschversuch, um ihn zu stürzen, ein regierungsfeindlicher Volksaufstand nach dem Vorbild der Gezi-Proteste (aufgrund des stetig wachsenden Drucks auf einen säkularen Lebensstil oder falls Erdoğan Wahlen verlieren sollte und die Macht nicht aus der Hand geben will) oder ein Bürgerkrieg in Verbindung mit einem Kurdenaufstand. Die paramilitärischen Organisationen, seien sie formell oder informell, werden helfen, den Widerstand der Bevölkerung gegen jeden Versuch zum Sturz Erdoğans zu koordinieren. Tatsächlich wirkt schon die glaubwürdige Drohung, dass solche Kräfte gegen Oppositionelle eingesetzt werden könnten, als deutliche Abschreckung gegen das Aufkommen einer Welle von neuen Gezi-Protesten. Trotzdem geht die Regierung weiterhin sehr harsch gegen öffentliche Demonstrationen jeglicher Art vor (egal ob es dabei um Frauenrechte oder Umweltprobleme geht), die zu größeren Mobilisierungen auf der Straße Anlass geben könnten.
Abgesehen von der Vielzahl an bewaffneten Gruppen offenbart die AKP auch durch ihr Verhalten, dass sie sich mittels einer besseren Organisation und Bewaffung ihrer Basis ganz bewusst auf ein Worst-Case-Szenario vorzubereiten versucht. So gut wie täglich signalisiert eine neue Nachrichtenmeldung in der Türkei (z. B. das Diyanet-Rundschreiben aus dem Jahr 2016 über die Bildung von Jugendverbänden, die den 45.000 Moscheen des Landes zugeordnet werden sollen, oder vor Kurzem die öffentliche Debatte über die Ausbreitung bewaffneter Salafisten-Vereine in der Türkei), dass sich die Militarisierung der Gesellschaft nicht nur auf sprachliche Mittel oder die enorme Anziehungskraft populärer historischer TV-Serien, wie etwa „Die Auferstehung“ (Diriliş), beschränkt. Nachdem Unmengen an Waffen und Munition aus den Beständen des Militärs, die man in der Nacht des 15. Juli 2016 an regierungsfreundliche Bürgerwehren verteilt hatte, verschwunden waren, veröffentlichen später viele Gefolgsleute des Regimes in den sozialen Netzwerken Fotos, auf denen sie zum Beispiel mit MP5-Maschinenpistolen posierten und sich bereit erklärten, die Feinde der Nation mit Waffengewalt zu bekämpfen. Eine regierungsfreundliche Schriftstellerin, Sevda Noyan, sagte kürzlich in einer TV-Talkshow: „Unsere Familie kann mit 50 Leuten fertig werden. Wir sind sehr gut ausgerüstet, materiell und ideell. Wir stehen an der Seite unseres Führers und werden ihn niemals im Stich lassen. Die [säkulare Opposition] sollen sich vorsehen. In unserer Nachbarschaft gibt es immer noch etliche davon. Meine Liste liegt bereit“ (Gürsel 2020). Mit der Rechtsverordnung Nr. 676 wurden zudem die Auflagen für Personen, denen der Erwerb und Besitz von Waffen verboten war, aufgehoben. Nach Angaben der Umut-Stiftung befinden sich in der Türkei derzeit mehr als 20 Millionen Waffen im Umlauf und 90 Prozent davon sind nicht registriert. Angesichts des generellen militaristischen Diskurses von Erdoğan, der in „jedem jungen Mann einen potenziellen Kandidaten für ein Kommando“ zum Schutz der Nation sieht, ergibt das alles Sinn.
Ganz sicher geht es dabei nicht allein darum, sich gegen einen Putsch zu wappnen. Durch Absprachen mit paramilitärischen Organisationen kann das Regime rechtswidrige Maßnahmen durchführen, die innerhalb der formalen Struktur des Militärs vielleicht nicht möglich gewesen wären (Cubukcu 2018). Darüber hinaus braucht Erdoğan diese Gewaltakteure, um das neue Regime nach seinen Vorstellungen zu etablieren. Ein anschauliches Beispiel für diesen Trend sind die Nachtwächter, die wie eine Moralpolizei auftreten und die Bevölkerung kontrollieren.
Allerdings werden nicht alle Bedrohungen Erdoğans, der weiterhin in einem politischen Minenfeld unterwegs ist, durch das Entstehen eines neuen Sicherheitsregimes beseitigt. Da wäre zunächst die Frage, wie Loyalität ihm gegenüber aufrechterhalten werden kann. Entweder muss Erdoğan die ideologische Komponente seiner Herrschaftsweise am Leben erhalten, oder er muss den Wirtschaftsmotor so auf Hochtouren laufen lassen, dass die materiellen Anreize für seine Unterstützer dauerhaft garantiert sind; beide Dimensionen stehen allerdings auf wackeligen Beinen. Da er sich außerdem von einer Reihe von Gruppen innerhalb der rivalisierenden Machtelite bedroht fühlt, war die Machtkonzentration in seiner Person für den türkischen Präsidenten tatsächlich eine Überlebensstrategie, um die Gruppe, mit der er die Macht tatsächlich teilen muss, möglichst klein zu halten. Trotzdem sah sich Erdoğan angesichts des Personalmangels im Verwaltungssektor und sinkender Stimmenanteile bei Wahlen gezwungen, formelle und informelle Koalitionen mit linken wie rechten Ultranationalisten einzugehen, die sich mehr denn je an den Früchten seiner Amtszeit erfreuen. Diese Zweckehe zwischen Partnern, die sich eigentlich gegenseitig misstrauen, hat den Weg für den (Wieder-)Aufstieg alternativer Machtzentren geebnet. Ein Licht auf diesen möglichen Bruch der aktuellen Regierungskoalition werfen der Aufstieg von Mafiaboss Alaattin Çakıcı, eines Erdoğan-Gegners, der von MHP-Parteichef Devlet Bahçeli unterstützt wird, sowie ein Foto, das kürzlich viral ging und auf dem Çakıcı zusammen mit anderen staatlichen Vertretern der Alten Türkei zu sehen ist. Darunter sind unter anderem der ehemalige Polizeichef und frühere Innenminister Mehmet Ağar, der Ex-General Engin Alan und der einstige Oberst Korkut Eken.
Eine weitere Frage ist, ob die Vorbeugungsmaßnahmen gegen einen neuen Putschversuch wirklich funktionieren. Neuere Studien zeigen, dass solche Strategien – vor allem der Aufbau zusätzlicher Sicherheitskräfte als Gegengewicht zur Armee – nur teilweise erfolgreich sind und die allgemeine Putschgefahr weiterhin besteht, solange die Amtsnachfolge nicht geregelt ist (Albrecht 2015). Im Gegenteil, durch die Aufstellung paramilitärischer Kräfte kann die Gefahr einer Gegenreaktion in Form eines Putsches zunehmen (De Bruin 2018). Die AKP-Regierung kommt gern und regelmäßig auf das Problem einer möglichen Militärintervention der Kemalisten zu sprechen, um ihre konservative Basis bei der Stange zu halten und den antikemalistischen Opferdiskurs zu pflegen. Allerdings hält die Regierung mit ihren ständig wiederholten Warnungen vor dieser potenziellen Bedrohung diese Möglichkeit am Leben und gesteht damit den kemalistischen Kräften reale Macht zu. Damit verleiht sie dieser Vermutung Substanz, macht sie zur Normalität und gewöhnt die Öffentlichkeit an die Möglichkeit eines solchen Zukunftsszenarios.
Die aufsehenerregenden Schachzüge wie die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee verschleiern die tiefergehende Dimension des Wandels in der Türkei. Die Neue Türkei stützt sich auf ein weit gespanntes Netzwerk aus vielfältigen militärischen und paramilitärischen Organisationen. Die Europäische Union konzentriert sich bislang vor allem auf die demokratische Kontrolle der Streitkräfte durch Institutionen. So werden beispielsweise im „Türkei-Bericht 2020“ der Europäischen Kommission zwar die rechtlichen und institutionellen Rahmen zur Regulierung der Sicherheitskräfte und Geheimdienste untersucht, aber der allgemeine Trend zur Paramilitarisierung wird nicht angesprochen. Dieser rein formale Ansatz lässt jedoch außer Acht, dass die türkische Politik derzeit ohne Rücksicht auf die Verfassung agiert, und vernachlässigt zudem die politischen und informellen Dimensionen der Beziehungen zwischen ziviler und militärischer Sphäre. Zugleich beleuchtet das Endergebnis im Fall der Türkei, auf welche Grenzen das länderübergreifende EU-Modell stößt, wenn es darum geht, zivile Kontrolle zu stärken (Cizre 2004). Insbesondere angesichts der derzeitigen Entwicklung in Richtung einer zunehmenden Militarisierung der türkischen Politik sollte die EU einen eher ganzheitlichen Rahmen entwickeln, der über den formalen, institutionellen Ansatz hinausreicht und die Besonderheiten der Kandidatenländer unter die Lupe nimmt. Zudem wird die Militarisierung der türkischen Innenpolitik in den „Fortschrittsberichten“ der EU immer noch lediglich als innere Angelegenheit behandelt, die mit dem Konflikt in den Städten des überwiegend kurdischen Südostens zu tun hat. In einer ganzheitlichen Betrachtung sollte jedoch neben der Diversifizierung der militärischen und paramilitärischen Formationen auch die allgemeine Aufrüstung der Gesellschaft thematisiert werden. Selbst wenn die EU dem Einsatz von Hard Power in der aggressiven Außenpolitik der Türkei große Aufmerksamkeit schenkt, muss letzten Endes verstanden werden, dass die Militarisierung der Innenpolitik und die Militarisierung der Außenpolitik einander ergänzen und daher gemeinsam zu betrachten sind. Zur Formulierung und Umsetzung dieser beiden Politikfelder werden nicht nur die gleiche populistisch-militaristische Rhetorik, sondern auch die gleichen Instrumente und Strategien eingesetzt.
Ob Alte oder Neue Türkei, das Land braucht die EU sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, was der EU einen erheblichen Einfluss auf die Türkei verschafft. Auch die EU braucht für ihre eigene Sicherheit eine stabile, nichtpolitisierte Türkei. Die öffentliche Kritik der europäischen Staats- und Regierungschefs schürt nur antiwestliche Emotionen in der Türkei und unterfüttert die populistische Rhetorik der AKP. Um die gewünschten Wirkungen zu erzielen, müssen stattdessen bilaterale politische und bürokratische Kanäle geschaffen oder wiederbelebt werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Marion Schweitzer, Textpraxis Hamburg.
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