GIGA Focus Asien
Nummer 5 | 2016 | ISSN: 1862-359X
Indien ist nach China das zweitwichtigste Herkunftsland graduierter Migranten, die in Deutschland studieren. Die Zuwanderung von Studierenden aus Indien trägt signifikant dazu bei, die Hochschulausbildung in Deutschland wie beabsichtigt zu internationalisieren und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Dieser Zustrom indischer Absolventen lässt sich nur verstärken, wenn wir seine Triebkräfte verstehen.
Der Bekanntheitsgrad Deutschlands als Studienland nimmt in Indien seit einigen Jahren zu, ist aber im Vergleich zu den angestammten Zielländern indischer Studierender, z.B. den USA, Großbritannien und Australien, nach wie vor gering.
Für Deutschland entscheiden sich indische Studierende wegen niedriger Studiengebühren und englischsprachiger Studiengänge, weil sie die Bildungsqualität als hoch einschätzen, während des Studiums in Teilzeit arbeiten und nach ihrem Studienabschluss ein 18-monatiges Visum erhalten können, sowie dank der Blauen Karte EU und der bekanntermaßen günstigen Arbeitsmarktlage.
Die Hauptmotivation der meisten Studierenden, nach Deutschland zu kommen, ist jedoch der Kostenvorteil deutscher Universitäten gegenüber Hochschulen in den USA, Großbritannien und Australien.
Die bei indischen Studierenden in Deutschland beliebtesten Fachrichtungen sind Ingenieurwesen und Informationstechnologie (IT); die überwiegende Mehrheit von ihnen ist in diesen Studiengängen eingeschrieben.
Auf die Idee, in Deutschland zu studieren, werden junge Inder durch ihre sozialen Netzwerke oder private Studienberatungsagenturen gebracht. Letztere sind – neben den sozialen Online-Medien – wichtige Multiplikatoren und unterstützen Studierende, die ein Studium in Deutschland anstreben.
Um von der wachsenden Zuwanderung indischer Studierender nach Europa zu profitieren, muss der Kostenvorteil deutscher Universitäten erhalten bleiben. Da es für Studienberatungsagenturen nur begrenzt attraktiv ist, ein Studium in Deutschland zu empfehlen, sollten Studierenden mehr Möglichkeiten angeboten werden, direkt mit Vertretern deutscher Universitäten Kontakt aufzunehmen. Es sollte zudem deutlich gemacht werden, dass auch nichttechnische Studiengänge aussichtsreich sind.
Indien verzeichnete in den letzten 15 Jahren einen steilen Anstieg (228 Prozent) der Anzahl Studierender, die – meist für ein Aufbaustudium (UIS 2013) – ins Ausland gehen, und steht damit als Herkunftsland graduierter studentischer Migranten nach China an zweiter Stelle (British Council 2014). In einer Studie prognostizierte der British Council (2014), die Zahl der Hochschulabsolventen, die nach ihrem indischen Abschluss im Ausland weiterstudieren, werde von 2012 bis 2024 weltweit am schnellsten wachsen. Erwartet wird eine Zunahme von 88.000 auf 209.000 Studierende. Zwar werden indische Studierende auch weiterhin bevorzugt die USA, Australien und Großbritannien ansteuern, doch rücken seit zehn Jahren einige neue Studienländer – darunter auch Deutschland – immer stärker ins Blickfeld der Auswanderungswilligen. In diesen Ländern ist ein wachsender Zustrom indischen Studierender zu beobachten.
In Deutschland hat sich die Zahl der indischen Studierenden in den letzten fünf Jahren fast verdreifacht. In den Jahren 2014/2015 studierten insgesamt 11.860 Inder in Deutschland (Bruder et al. 2015). Derzeit steht Deutschland unter den von indischen Studierenden am häufigsten gewählten Studienländern nach den USA, Australien, Großbritannien und Kanada an fünfter Stelle und ist somit bei dieser Zielgruppe das beliebteste nicht englischsprachige Land. Für Deutschland ist Indien heute nach China das zweitwichtigste Herkunftsland graduierter ausländischer Studierender und das Land, aus dem die meisten graduierten Technik- und IT-Studierenden kommen. Es wird prognostiziert, dass Deutschlands Beliebtheit als Studienland unter den indischen Studierenden zwischen 2012 und 2024 signifikant zunehmen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil Indiens an der Zunahme ausländischer Studierender im Aufbaustudium 27 Prozent betragen wird, gefolgt von China mit 18 Prozent (British Council 2014). Die Zahl indischer Studierender, die in diesem Zeitraum nach Deutschland kommen werden (10.000), wird voraussichtlich schneller ansteigen als die Zahl derer, die Großbritannien ansteuern werden (7.000) (British Council 2014).
Im Jahr 2013 verpflichtete sich die neu gebildete Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag, im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Internationalisierung der deutschen Hochschulausbildung und -forschung die Zahl der ausländischen Studierenden in Deutschland bis zum Jahr 2020 um 25 Prozent auf 350.000 zu erhöhen (CDU/CSU und SPD 2013). Der wachsende Zustrom von Studierenden aus dem Ausland kann dazu beitragen, ein weiteres politisches Ziel zu erreichen, nämlich hoch qualifizierte Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Mit dem rückläufigen demografischen Wandel in Deutschland geht ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften einher (insbesondere fehlt es an qualifizierten Ingenieuren, Wissenschaftlern, IT-Experten und Medizinern). Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit ist bis zum Jahr 2030 mit fast sechs Millionen nicht besetzten Stellen zu rechnen. Um die Qualifizierungslücke zu schließen, wurden u.a. gesetzliche Regelungen verabschiedet, die den Arbeitsmarktzugang für Absolventen deutscher Universitäten aus Drittstaaten erleichtern – diese gelten in Anbetracht ihrer deutschen Zeugnisse und ihrer Deutschland-Erfahrung zunehmend als „ideale“ Einwanderer (The Expert Council 2015). Im Jahr 2012 implementierte Deutschland gemäß der EU-Richtlinie 2009/50/EC („Hochqualifizierten-Richtlinie“) das System der Blauen Karte EU, durch die es für Drittstaatsangehörige einfacher und attraktiver geworden ist, sich eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in Deutschland zu verschaffen (vgl. Gereke 2013; Wogart und Schüller 2011). Mit der Einführung der Blauen Karte EU wurde das deutsche Aufenthaltsgesetz noch in weiteren Punkten geändert – insbesondere wurden die Möglichkeiten verbessert, eine Teilzeitbeschäftigung aufzunehmen; zudem wurde der Zeitraum verlängert, in dem die Absolventen nach ihrem Hochschulabschluss in Deutschland bleiben dürfen, um nach einer geeigneten Stelle zu suchen (Gereke 2013).
In diesem Beitrag wird untersucht, wie diese Maßnahmen von indischen Studierenden, die ins Ausland wollen, aufgenommen wurden, und es wird analysiert, welche Faktoren für den Zustrom indischer Studierender nach Deutschland maßgeblich sind. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie sich indische Studierende im Bewerbungsverfahren für deutsche Universitäten orientieren. Aus den Ergebnissen werden schließlich Empfehlungen für deutsche Politiker und Universitäten sowie für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) abgeleitet.
Die Autorin stützt sich auf Feldforschung in Bangalore. Mit ihrer wachsenden und erfolgreichen IT-Branche erwarb sich die Stadt im Süden Indiens in den letzten 20 Jahren Kultstatus als „indisches Silicon Valley“. Sie ist außerdem eine wichtige „Basisstation“ für Auswanderungswillige und beherbergt zahlreiche private Studienberatungsagenturen, die Studierende bei deren Bewerbung an ausländischen Universitäten unterstützen. Solche Agenturen sind in den letzten 15 Jahren überall in Indien aus dem Boden geschossen und betreiben Hunderte von Beratungszentren in jeder großen Stadt. Befragt wurden Inhaber von Studienberatungsagenturen in Bangalore, die örtliche Anlaufstelle des DAAD, Studierende, die sich ohne die Unterstützung eines Studienberaters für ein Aufbaustudium in Deutschland bewarben, und Absolventen von Aufbaustudiengängen in Deutschland. Weitere Daten stammen von den Websites von Studienberatungsagenturen, aus Facebook-Gruppen und Internet-Foren indischer Studierender, die schon in Deutschland sind oder nach Deutschland wollen, von Websites und Werbematerialien ausländischer Universitäten und von Veranstaltungen (Bildungsmessen, Orientierungsberatung vor der Abreise), die von Studienberatungsagenturen für ihre Kunden organisiert wurden, die sich auf ein Auslandsstudium vorbereiteten.
Aus Studien auf Makro-Ebene lässt sich schließen, dass der enorme Zuwachs an indischen Studierenden im Ausland sowohl ökonomische als auch demografische Ursachen hat (z.B. British Council 2014). Die Liberalisierung der indischen Wirtschaft und die sich daraus ergebenden neuen Chancen für Beschäftigung und Mobilität haben zur Entstehung einer neuen Mittelschicht geführt, die mit dem wachsenden indischen BIP stetig breiter wird. Weil immer mehr Menschen in eine Hochschulausbildung investieren wollen und sich das auch leisten können – und weil 50 Prozent der indischen Bevölkerung jünger als 25 Jahre sind –, ist die Nachfrage nach einer Hochschulausbildung im Land enorm gestiegen. Zwar schießen in Indien Colleges und Universitäten mit unterschiedlich hohen und für viele Angehörige der Mittelschicht erschwinglichen Studiengebühren wie Pilze aus dem Boden, doch verfügt nur ein geringer Prozentsatz davon über nationales Renommee. Infolgedessen herrscht ein erbitterter Konkurrenzkampf um den Zugang zu diesen prestigeträchtigen Universitäten. Durch die Internationalisierung der Hochschulausbildung erweist sich auch das Auslandsstudium für die neue Mittelschicht als realisierbare Bildungsstrategie.
Traditionell steuern indische Studierende seit langer Zeit englischsprachige Länder an, insbesondere die USA, Großbritannien und Australien. Doch wie bereits erwähnt werden seit einem Jahrzehnt einige neue Länder – insbesondere europäische Staaten wie Deutschland oder die Niederlande bis hin zu Lettland und Litauen – bei indischen Studierenden zunehmend beliebter. In vielen dieser Länder bemühen sich Universitäten, ausländische Studierende anzuwerben, und einige von ihnen sind Partnerschaften mit Studienberatungsagenturen in Indien eingegangen. In deren Werbematerialien werden häufig bestimmte Punkte hervorgehoben: die Verfügbarkeit hochwertiger Bildung zu erheblich geringeren Kosten als in den USA, Großbritannien usw., englischsprachige Studiengänge, die „internationale“ Atmosphäre der Universitäten und der angebotenen Studiengänge und in einigen Fällen auch Praktika und Beschäftigungschancen nach dem Studium. Viele Universitäten in Mittel- und Osteuropa betonen außerdem, dass sie international anerkannte „Europäische Abschlüsse“ anbieten, und eines der Argumente der sie vertretenden indischen Beratungsagenturen lautet, dass Studierende an diesen Universitäten in andere Schengen-Staaten reisen und unter Umständen nach dem Studium ein Arbeitsvisum erhalten können, das zu einer Aufenthaltsgenehmigung für die EU berechtigt.
Die indischen Studierenden, die vorhaben, im Ausland zu studieren, wissen mehrheitlich nur sehr wenig über die meisten dieser europäischen Länder. Von einigen Beratern war zu erfahren, dass etliche Studierende von den Ländern, für die sie sich bewarben, noch nie etwas gehört hatten, bevor sie sich mit möglichen Studienländern beschäftigten. Deutschland hingegen ist vergleichsweise bekannt und bei Weitem das beliebteste Land Europas. Nach Aussagen der Berater haben sich in den letzten 15 Jahren immer mehr Studierende speziell wegen eines Studiums in Deutschland an sie gewandt.
Trotzdem ist der Bekanntheitsgrad Deutschlands als Studienland im Vergleich zu den USA, Großbritannien, Australien und selbst Neuseeland und Kanada immer noch gering. Zudem haben junge Leute, die ein Studium in Deutschland in Erwägung ziehen, einige Bedenken. Sie fragen sich, ob deutsche Abschlüsse international (vor allem in den USA und in Indien) anerkannt werden, ob die Lehrmethoden der deutschen Universitäten ähnlich sind wie in den USA und Großbritannien, wie „international“ die Zusammensetzung der Studierenden an deutschen Universitäten ist und ob sich indische Studierende in Deutschland sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität gut in den Alltag integrieren können.
Trotz dieser Bedenken gilt Deutschland aus mehreren Gründen als attraktives Studienland. Erstens werden die meisten Studierenden zunächst durch die relativ geringen Kosten eines Aufbaustudiums motiviert, Deutschland als Studienland in Betracht zu ziehen. Da sich die Studiengebühren an US-amerikanischen und britischen Universitäten pro Jahr auf ein Mehrfaches des durchschnittlichen Jahreseinkommens indischer Mittelschichtsangehöriger belaufen, erscheint ein Studium in Deutschland vielen als erschwinglicher Weg zu einer internationalen Qualifikation. Zweitens bietet Deutschland zahlreiche Aufbaustudiengänge in englischer Sprache an. Mit 848 solcher Studiengänge rangiert Deutschland in absoluten Zahlen an zweiter Stelle nach den Niederlanden (1.007 Studiengänge) (Bruder et al. 2015: 139). Die meisten Studierenden gaben an, sie hätten Deutschland wahrscheinlich nicht als Studienland in Betracht gezogen, wenn die Aufbaustudiengänge an den Universitäten nur in deutscher Sprache angeboten würden. Dennoch lehnen es die Studierenden nicht ab, Deutsch zu lernen. Sie erfahren sowohl von ihren Beratern als auch von Kontaktpersonen in ihren sozialen Netzwerken, die selbst in Deutschland studieren, dass eine gewisse Sprachbeherrschung wichtig ist, um im Land gut zurechtzukommen, und unabdingbar, um die eigenen Beschäftigungschancen zu verbessern. Dies wird nicht als abschreckend wahrgenommen. Tatsächlich absolvieren viele Studierende vor ihrem Aufbruch gern einen Deutschkurs der Niveaustufe A1 oder sogar A2. Die Kurse am Goethe-Institut sind sehr begehrt, aber oft auf Monate hinaus ausgebucht. Als Reaktion auf die große Nachfrage nach Deutschunterricht haben etliche Beratungsagenturen angefangen, selbst Deutschkurse anzubieten, auch viele private Sprachlehrinstitute unterrichten mittlerweile neben Englisch und Französisch auch Deutsch. Nach Aussagen der Berater ist eine Zulassung zu Studiengängen an deutschen Universitäten, in denen teilweise auf Deutsch unterrichtet wird, leichter zu bekommen, und einige Studierende, die befürchteten, für ihren bevorzugten Studiengang in englischer Sprache eine Ablehnung zu erhalten, haben sogar liebend gern Intensivsprachunterricht in Deutsch genommen, um sich für solche zweisprachigen Studiengänge bewerben zu können.
Drittens gelten deutsche Universitäten als hochwertig und ein Studium in Deutschland damit als erstrebenswert. Deutschland gilt als „Technik-Drehscheibe“ und als besonders gutes Land für Studienabschlüsse in den Fachrichtungen Ingenieurwesen (insbesondere Maschinenbau oder Fahrzeugtechnik) und Informationstechnologie (IT). 54 Prozent aller in Deutschland studierenden Inder sind für ein Ingenieurstudium eingeschrieben. Weitere 30 Prozent studieren IT, Mathematik und Naturwissenschaften. Dies entspricht dem allgemeinen Trend, dass ausländische Studierende technische Fächer bevorzugen (Bruder et. al. 2015: 136). Staatliche deutsche Universitäten sind umkämpft und es ist nicht leicht, eine Zulassung zu bekommen. Dies steigert noch das Prestige eines Abschlusses in Deutschland. Einige der befragten Studierenden erzählten, sie hätten sich unter anderem auch deshalb für ein Studium in Deutschland entschieden, weil hier spezialisierte technische Fachstudiengänge angeboten werden, die in den USA oder Großbritannien nicht existieren. So erklärte eine Studentin, die im Studiengang Embedded Systems Engineering eingeschrieben war, dass an US-amerikanischen Universitäten lediglich ein Masterstudiengang Elektrotechnik mit Hauptfach Embedded Systems angeboten werde.
Viertens sind die Möglichkeiten, einer bezahlten Beschäftigung nachgehen und studienbegleitende Praktika absolvieren zu können, für viele Studierende ein wichtiges Entscheidungskriterium für ein bestimmtes Studienland. In Deutschland dürfen Studierende 120 volle oder 240 halbe Tage pro Jahr arbeiten (seit dem Jahr 2012, davor waren es 90 Tage). Zudem erklärten Berater und Studierende, sie hätten von Studierenden aus Deutschland gehört, dass Praktika und Forschungsassistenzen sehr gut bezahlt würden. Befragte, die (an verschiedenen Universitäten) technische Masterstudiengänge absolviert hatten, berichteten, sie hätten als Forschungsassistenten arbeiten können und seien so gut bezahlt worden, dass sie ihre Eltern nur um eine sehr geringe finanzielle Unterstützung bitten mussten. Studierende, die eine Bewerbung in Deutschland in Betracht ziehen, werden über solche Erfahrungen über ihre sozialen Netzwerke und auch durch soziale Medien im Internet informiert.
Ein enormer „Pull“-Faktor sind schließlich die guten Beschäftigungschancen in Deutschland nach dem Studium. Während einige im Auslandsstudium einen Weg zur dauerhaften Auswanderung sehen, möchte die Mehrheit wenigstens für einige Jahre im Ausland arbeiten. Nachdem Großbritannien seine Regelungen zum Arbeitsvisum nach dem Masterabschluss im Jahr 2012 abgeschafft hatte (UK Home Office 2012), ging das Interesse an einer Hochschulausbildung in Großbritannien drastisch zurück. Im gleichen Jahr wurde in Deutschland der Zeitraum, in dem Studierende aus Drittstaaten nach ihrem Abschluss bleiben dürfen, um nach einer Stelle zu suchen, von 12 auf 18 Monate (mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern) verlängert. Außerdem verabschiedete das deutsche Parlament im Jahr 2012 die Hochqualifizierten-Richtlinie der EU. Die Blaue Karte EU ist eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, die es hoch qualifizierten Einwanderern aus Nicht-EU-Staaten leichter macht, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Mit der Einführung der Blauen Karte EU in Deutschland wurde das geforderte Mindesteinkommen hoch qualifizierter ausländischer Arbeitnehmer, die im Land arbeiten wollen, abgesenkt (von 66.000 auf 49.600 EUR bzw. auf 38.688 EUR für Berufe, die auf der Positivliste stehen) und Unternehmen dürfen solche Arbeitskräfte ohne Vorrangprüfung einstellen. Die Karte bietet noch weitere Vorteile, u.a. die Gleichstellung mit EU-Bürgern hinsichtlich der Lohn- und Arbeitsbedingungen, Anspruch auf soziale Rechte wie Sozialversicherung, Familienzusammenführung und die Möglichkeit, nach nur zwei Jahren eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis zu beantragen. Zusammengenommen führen diese Visabestimmungen dazu, dass indischen Studierenden, die nach Deutschland kommen wollen, eine Arbeitsaufnahme im Land nach dem Studium als realisierbar und attraktiv erscheint.
Deutschland gilt weithin als ein Land mit ausgezeichneten Berufsperspektiven, insbesondere für Ingenieure und IT-Experten, die auf der deutschen Positivliste gefragter Qualifikationen stehen. Auch der Stellenmarkt in den USA gilt als ausgesprochen chancenreich, in Großbritannien hingegen werden die Berufsperspektiven als düster eingeschätzt. Einige Berater berichteten über indische Ingenieure, die in Großbritannien erfolgreich ein Aufbaustudium abgeschlossen hatten, dort aber keine Stelle finden konnten und sich daraufhin für einen weiteren Abschluss in Deutschland einschrieben, in der Hoffnung, damit auf dem deutschen Arbeitsmarkt konkurrenzfähiger zu sein. Zudem hätten Studierende mit Bachelorabschluss in einem technischen Fach, das nichts mit Software-Entwicklung zu tun hat, angesichts des anhaltenden Software-Booms in Indien oft Schwierigkeiten, eine Stelle in ihrem Fachgebiet zu finden; viele seien gezwungen, in Software-Schmieden als Software-Entwickler zu arbeiten. Es herrscht die Auffassung, dass Ingenieure in Deutschland bessere Chancen haben, Arbeit zu finden, die ihrer Ausbildung entspricht.
Die Studierenden erwarten, dass es ihnen mit einem deutschen Masterabschluss leichter fallen wird, Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu finden und ihre Wettbewerbschancen zu verbessern. Anzumerken ist, dass erst die Möglichkeit eines Studiums in Deutschland die Studierenden auf die Idee bringt, hier zu arbeiten. Keine der befragten Personen gab an, sich Gedanken über Beschäftigungschancen in Deutschland gemacht zu haben, bevor ihr Interesse für das Land als Studienland geweckt wurde. Von den 8.879 Blauen Karten, die von August 2012 bis Juni 2013 ausgegeben wurden, gingen ca. 70 Prozent an Drittstaatsangehörige, die bereits zuvor in Deutschland gelebt hatten und zumeist Absolventen einer deutschen Universität waren (Gereke 2013). Das lässt darauf schließen, dass die Blaue Karte EU – jedenfalls bei Studierenden indischer Herkunft in Deutschland – besser angenommen wird, als Wogart und Schüller (2011) prognostiziert hatten.
Dennoch studieren die meisten jungen Leute nur dann bereitwillig in Deutschland, wenn sie keine Studiengebühren bezahlen müssen. Studierende, die in Deutschland nur eine Zulassung zu kostenpflichtigen Studiengängen erhalten, entscheiden sich dann oft für die USA, selbst wenn sie dafür noch mehr Geld aufbringen müssen. Mit über 4.000 Universitäten, einer der größten Ökonomien der Welt und einer langen Geschichte als „Mekka“ für indische Studierende nehmen die USA hinsichtlich Bildungsqualität und Chancen für die meisten indischen Studierenden weiterhin den ersten Platz ein. Die Studierenden glauben auch, dass sie sich in einem Land, in dem Englisch – eine ihnen bekannte Sprache – die Hauptverkehrssprache ist, leichter integrieren und erfolgreich sein können. Daher gilt Deutschland bei den Studierenden, die hierher kommen, aus all den oben genannten Gründen zwar als attraktives Studienland, bleibt aber trotzdem vor allem eine hervorragende zweite Wahl nach den USA.
Neben den Websites deutscher Universitäten, des DAAD und der Studienberatungsagenturen spielen Studienberatern zufolge soziale Netzwerke und soziale Medien zunehmend eine Schlüsselrolle, wenn Studierende ein Auslandsstudium planen. Insbesondere weil Deutschland und sein Bildungssystem für die meisten Inder relativ unbekanntes Terrain sind, werden hier studierende Landsleute zu wichtigen Multiplikatoren, die über die Bildungsqualität in Deutschland, das Bewerbungsverfahren, die Chancen auf eine Zulassung an verschiedenen Universitäten, Praktikumsmöglichkeiten, längerfristige Berufsperspektiven, deutsche Arbeitsvisa für Hochschulabsolventen und die Blaue Karte EU, die Suche nach einer Unterkunft, das Leben in Deutschland usw. Auskunft geben können. Studierende, die erwägen, nach Deutschland zu gehen, suchen über ihre sozialen Netzwerke (College-Absolventen, Freunde von Freunden, die in Deutschland studieren oder studiert haben) und in verschiedenen sozialen Online-Medien nach Informationen zu diesen Fragen. Der Informationsfluss aus der Peergroup zu diesen Fragestellungen läuft beispielsweise über die Frage-und-Antwort-Website Quora.com und über Facebook-Seiten von oder für indische Studierende in Deutschland oder von indischen Studierenden, die sich an bestimmten deutschen Universitäten bzw. für konkrete Studiengänge bewerben.
Auf den DAAD werden die meisten Studierenden erst aufmerksam, nachdem sie begonnen haben, im Internet über das Studium in Deutschland zu recherchieren; auf die DAAD-Website wird sehr häufig verwiesen. Doch wenn es darum geht, Studierende auf Deutschland als Studienland überhaupt erst aufmerksam zu machen, scheint der DAAD keine große Rolle zu spielen. Die meisten Studierenden gaben an, dass sie durch ihre sozialen Netzwerke oder durch eine Studienberatung zum ersten Mal auf die Möglichkeit eines Studiums in Deutschland hingewiesen wurden. Neben seinem Sitz in Neu-Delhi unterhält der DAAD Auskunftsstellen oder Informationszentren in Bangalore, Chennai, Mumbai und Pune. Die im Jahr 2012 eingerichtete Auskunftsstelle in Bangalore organisiert Informationsveranstaltungen an Colleges vor Ort sowie Webinare zum Thema Studieren und Forschen in Deutschland. Nach Angaben des DAAD-Managers gehen dort pro Monat etwa 150 telefonische Anfragen ein. Die meisten Anfragen werden telefonisch oder per E-Mail beantwortet, Termine werden nur vergeben, wenn sich herausstellt, dass eine eingehendere Beratung notwendig ist. Studierende, die sich an eine DAAD-Auskunftsstelle wenden, glauben oft, diese biete gratis dieselben Dienstleistungen an, für die sie bei den Studienberatern bezahlen müssen (siehe unten). Nach Aussagen von Beratern sind viele enttäuscht, wenn sie von der Auskunftsstelle nur diverse Informationsquellen über einen Studienaufenthalt in Deutschland genannt bekommen, denn für sie bestehe die größte Schwierigkeit darin, diese Informationen zu verstehen und sich daran zu orientieren. Viele Studierende, die nach eigenen Angaben mit der Beratung durch die DAAD-Auskunftsstelle zufrieden waren, hatten dennoch das Bedürfnis, sich zur weiteren Unterstützung an einen Studienberater zu wenden.
Studienberatungsagenturen gibt es überall in Indien und sie sind wichtige Wegweiser für ein Auslandsstudium. Nach Schätzung von Studienberatern gibt es allein in Bangalore 150 bis 300 solcher Agenturen. Einige von ihnen operieren landesweit und haben Niederlassungen in ganz Indien, andere sind deutlich kleiner. Die größten Beratungsagenturen geben an, pro Jahr 800 bis 1.000 Studierende ins Ausland zu schicken, bei den kleinsten sind es 50 bis 100 Studierende. „Wenn sich die Leute ins Ausland bewerben“, beobachtete ein Berater, „dann haben sie das Gefühl, dass ihr ganzes Leben auf dem Spiel steht. Sie suchen jemanden, der sie an die Hand nimmt und durch das ganze Verfahren lotst.“
Die Beratungsagenturen sind wichtig, weil sie die Migrationsströme der Studierenden erst ermöglichen und lenken. Nach Aussage einiger Berater sind viele ihrer Kunden anfangs nicht nur unsicher, in welchem Land sie studieren, sondern auch, welchen Studiengang sie wählen sollen. Die Berater helfen den Studierenden, ein „Profil“ zu erstellen, indem sie Persönlichkeits- und Eignungstests durchführen und den Studierenden und ihren Familien Informationen über verschiedene Länder und deren Bildungssysteme, Arbeitsmärkte und Visabestimmungen, angebotene Studiengänge an verschiedenen Universitäten und deren Studiengebühren sowie über Finanzierungsquellen unterbreiten. Sodann erstellen sie anhand der Interessen, des akademischen Werdegangs, der Zukunftspläne und der finanziellen Mittel der Studierenden eine Prioritätenliste der infrage kommenden Länder, Universitäten und Studiengänge. Darüber hinaus werden die Studierenden von ihren Beratern vom ersten bis zum letzten Schritt des Bewerbungsverfahrens betreut. Die Berater informieren ihre Kunden über die standardisierten Tests, die sie bestehen müssen (manchmal übernehmen sie sogar die Anmeldung zu diesen Tests und bereiten darauf vor), bieten Beratung und Formulierungshilfe bei der Erstellung sämtlicher Bewerbungsunterlagen (insbesondere bei der Erklärung über die eigene Zielsetzung) und helfen ihnen beim Ausfüllen der Visaanträge und sogar bei der Beantragung von Bankkrediten. Schließlich stellen die Berater Kontakte zu Netzwerken von Studierenden in den Ländern bzw. an den Universitäten her, die ihre Kunden in Erwägung ziehen. Aus diesen Netzwerken beziehen sie dann wertvolle Tipps und Feedback aufgrund persönlicher Erfahrungen. So sind die Beratungsagenturen zu „One-Stop-Shops“ geworden für alles, was mit einem Auslandsstudium zusammenhängt, und können sehr viele auswanderungswillige Studierende als Kunden gewinnen.
Fast alle Agenturen unterhalten Partnerschaften mit ausländischen Universitäten und bekommen für jede Vermittlung eine Provision. Da die Universitäten der meisten Studienländer von ausländischen Studierenden sehr hohe Studiengebühren erheben (deutlich höhere als von inländischen Studierenden), sind viele Universitäten bereit, den Agenturen substanzielle Anreize zu bieten, um die Zuwanderung von Studierenden zu erhöhen (eine Beraterin erzählte mir, dass sie von ihren Partneruniversitäten in Großbritannien für jede Vermittlung mindestens 1.300 EUR erhalte). Die Berater bieten Studierenden, die sich an ihren Partneruniversitäten bewerben wollen, ihre Dienste gratis an, verlangen für Bewerbungen an anderen Universitäten jedoch eine Gebühr (normalerweise einen Festbetrag von rund 500 EUR für Bewerbungen an fünf Universitäten bzw. für fünf Studiengänge). Weil sie ein wachsendes Interesse feststellen und fördern, in anderen Ländern zu studieren als den angestammten Zielen indischer Studierender, gehen immer mehr dieser Zentren auch Partnerschaften mit Universitäten in Europa (von Schweden, Frankreich und Italien bis Litauen und Lettland) sowie in Singapur, China und anderen Ländern ein. Einige wenige Beratungsagenturen unterhalten auch Partnerschaften mit Privatuniversitäten in Deutschland (die Studiengebühren verlangen und daher ein finanzielles Interesse an Partnerschaften mit Studienberatern haben), aber es bestehen keine derartigen Partnerschaften mit staatlichen Universitäten (an denen die Mehrheit der indischen Studierenden in Deutschland eingeschrieben ist). Ein geringer Teil der Agenturen unterhält keine Partnerschaften mit Universitäten, sondern arbeitet in allen Fällen gegen eine Gebühr.
Beratungsagenturen, die mit ausländischen Universitäten Partnerschaften eingegangen sind, beraten zwar – gegen Gebühr – auch Studierende, die sich an staatlichen Universitäten in Deutschland bewerben wollen, doch ist anzunehmen, dass sie von sich aus eher kein Studium in Deutschland empfehlen werden, denn dies widerspräche ihren Geschäftsinteressen: Die Provisionen, die sie von ihren Partneruniversitäten erhalten, übersteigen bei Weitem die Gebühren, die ihnen Studierende für Bewerbungen in Deutschland zahlen würden. Allerdings berichtete die Inhaberin einer solchen Beratungsagentur, sie habe im Jahr zuvor 300 Studierende nach Deutschland vermittelt. Davon sei etwa die Hälfte mit einem Interesse an Deutschland an sie herangetreten, die andere Hälfte – Ingenieure mit hervorragenden Zeugnissen, für die ein Studium in den USA jedoch aus finanziellen Gründen problematisch gewesen sei – habe die Wahl aufgrund ihrer Empfehlung getroffen. Demnach ist der Einfluss verschiedener Studienberatungsagenturen auf die studentische Zuwanderung nach Deutschland unterschiedlich zu bewerten.
Da staatliche Universitäten in Deutschland nur geringe oder gar keine Studiengebühren erheben und nicht einfach nur mehr Studierende, sondern vor allem die begabtesten anlocken wollen, wäre der Versuch nicht sinnvoll, das Studium in Deutschland nach dem Vorbild der USA, Großbritanniens und Australiens durch Partnerschaften mit Studienberatungsagenturen zu fördern. Auch wäre der Versuch, die von Beratern angebotenen Dienstleistungen zu kopieren, nicht kosteneffizient. Stattdessen sollten sich die Anstrengungen vor allem auf eine kostengünstige und dennoch wirksame Verbreitung von Informationen über Studium, Arbeit und Leben in Deutschland konzentrieren, um diese Option stärker bekannt zu machen.
Deutsche Politiker und Universitäten haben verschiedene Möglichkeiten, indische Studierende besser anzusprechen, um die Hochschulausbildung und -forschung stärker zu internationalisieren und mehr hoch qualifizierte Fachkräfte anzuziehen.
Die Interviews haben ergeben, dass die Anreize für indische Studienberater, mit staatlichen Universitäten in Deutschland Partnerschaften einzugehen und Deutschland als Studienland zu empfehlen, sehr begrenzt sind. Daher ist es angesichts der mangelnden Vertrautheit der meisten Studierenden mit Deutschland als Studienland wichtig, ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie mit Mitarbeitern deutscher Universitäten (und nicht nur mit dem Personal des DAAD in Indien) direkt in Kontakt treten können. Skype-Seminare (z.B. mit Mitarbeitern einzelner Universitäten oder Vertretern der technischen Fakultäten verschiedener Universitäten) würden dies kostengünstig ermöglichen. Diese Seminare könnten im landesweiten Netz der Goethe-Institute stattfinden und vom DAAD koordiniert werden.
Wenn Interesse besteht, auch Studierende anderer Fachrichtungen anzuziehen – besonders der Mathematik und Naturwissenschaften, die ebenfalls auf der Positivliste stehen – und damit weitere Aufbaustudiengänge zu internationalisieren, sollten speziell diese Studiengänge beworben und die Berufsaussichten für deren Absolventen hervorgehoben werden. Auch dies ließe sich mit Skype-Seminaren bewerkstelligen. Deutsche Universitäten sind auf Bildungsmessen in Indien nur in geringem Maße vertreten. Es sollten sich daher mehr Universitäten bemühen, an solchen Messen teilzunehmen, um direkt mit Studierenden in Kontakt zu kommen. Diese Maßnahmen werden die Sichtbarkeit Deutschlands als Studienland in Indien erheblich verstärken und die Verbreitung einprägsamer Informationen über Studium, Arbeit und Leben in Deutschland erleichtern.
Sollten die Kostenvorteile einer Hochschulausbildung in Deutschland wegfallen, würden die verbleibenden „Pull“-Faktoren für Studierende unter Umständen nicht mehr ausreichen, um die Beliebtheit Deutschlands als Studienland zu erhalten. Die Beibehaltung dieses Kostenvorteils ist entscheidend, um die Zuwanderung von Studierenden aus Indien aufrechtzuerhalten und auszubauen. Mehr noch: Aus den Erfahrungen Großbritanniens lässt sich schließen, dass die Zuwanderung von Studierenden nach Deutschland sehr wahrscheinlich auch durch eine Verschlechterung der beruflichen Chancen nach dem Studium negativ beeinflusst würde.
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