GIGA Focus Afrika
Nummer 3 | 2017 | ISSN: 1862-3603
Als Reaktion auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen seit dem Jahr 2015 verabschiedete die EU eine Vielzahl an Maßnahmen. Ziel ist, das Migrationsmanagement in Afrika zu stärken, den Menschenschmuggel zu bekämpfen und die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. De facto liegt der Schwerpunkt auf der Blockade von Fluchtrouten, u.a. durch den Aufbau einer Küstenwache in Libyen und den Einsatz von Milizen gegen Flüchtlinge im Sudan.
Die eingeleiteten Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung lassen eine schlüssige Strategie vermissen: In Äthiopien wird nach dem Gießkannenprinzip der Arbeitsmarkt gefördert, aber wenig für die Flüchtlingslager getan. In Eritrea, wo es keinerlei Rechtsstaat gibt, sollen Staatsanwälte zur Unterbindung des Menschenschmuggels ausgebildet werden; im Sudan kommen berüchtigte Milizen zur Grenzsicherung zum Einsatz, und in Libyen werden trotz fehlender staatlicher Strukturen Grenzschützer ausgebildet.
Insgesamt wertet der derzeitige Ansatz der EU autoritäre Regierungen auf, die als Partner bei der Migrationsbekämpfung gesehen werden. Dies macht politische Reformen unwahrscheinlich. Die Motive der Flüchtenden werden undifferenziert als rein ökonomisch bewertet.
In Libyen verstößt die EU gegen ihren eigenen Menschenrechtskodex, wenn sie trotz Warnungen von UN-Organisationen Flüchtlinge nach Libyen zurückschicken lässt, die dort unter extrem unmenschlichen Verhältnissen in Lagern gehalten werden.
Um Fluchtursachen nachhaltig zu bekämpfen, müssen die politische Situation im Herkunftsland sowie die spezifischen Fluchtursachen stärker berücksichtigt werden. Maßgeschneiderte Lösungsansätze könnten die Ermöglichung legaler temporärer Migration aus Westafrika sein, wo ökonomische Fluchtmotive vorherrschen. Die Schaffung legaler Reisemöglichkeiten für Flüchtlingsgruppen mit hoher Anerkennungsquote wäre ein wirksames Mittel, um Menschenhandel und -schmuggel einzudämmen. In Flüchtlingsaufnahmeländern wie Äthiopien oder auch dem Sudan sollten Beschäftigungsmöglichkeiten im Umfeld von Flüchtlingslagern gefördert werden, wovon auch die umliegenden lokalen Gemeinden profitieren sollten.
Nach dem sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Afrika in den Jahren 2014 und 2015 verabschiedete die EU ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Eindämmung der Flucht. Neben dem schon seit dem Jahr 2006 bestehenden Rabat-Prozess wurde im Jahr 2014 der Khartum-Prozess mit dem Ziel etabliert, durch einen Dialog mit den Ländern Ägypten, Eritrea, Äthiopien, Süd-Sudan und Sudan gegen Menschenhandel und -schmuggel vorzugehen und zu diesem Zweck konkrete Projekte zu implementieren.
Ein Jahr später trafen sich europäische und afrikanische Staatschefs auf Malta, um den Valletta Action Plan zu verabschieden, zu dessen Zielen wiederum der Kampf gegen den Menschenschmuggel, aber auch verbesserter Schutz für Migranten sowie verstärkte Kooperation mit den Herkunftsländern bei der Rücknahme und Reintegration von Flüchtlingen zählen. Im Zentrum des Interesses stand somit das „Migrationsmanagement“ unter Wahrung der Menschenrechte, aber auch der Souveränität der teilnehmenden Staaten. Eine Stellungnahme der EU-Kommission im Vorfeld des Valletta-Gipfels machte allerdings deutlich, dass ein Schwerpunkt des Aktionsplanes auf der Begrenzung der Flüchtlingsströme aus Libyen liegen sollte: zu diesem Zweck sollen die libyschen Behörden beim Aufbau einer Küstenwache und beim Training von Grenzschützern an der Südgrenze des Landes unterstützt werden (European Council 2017). Zur Umsetzung der Maßnahmen stellte die EU einen 2,85 Mrd. EUR umfassenden Emergency Trust Fund zur Verfügung. Das Geld soll zum einen für die Verbesserung des Grenzschutzes, zum anderen zur Bildungs- und Beschäftigungsförderung eingesetzt werden. Spezielle Migrationspartnerschaften mit Mali, Niger, Nigeria, Äthiopien und Senegal haben darüber hinaus zum Ziel, gegen Menschenschmuggelringe vorzugehen und die freiwillige Rückkehr in die Heimatländer zu forcieren (European Commission 2017).
Im Juni 2016 verkündete die EU dann ihr neues Migration Partnership Framework, das zum Ziel hat, Migrationsströme besser zu steuern, den Menschenschmuggel zu bekämpfen und die Zahl der Todesfälle im Mittelmeer zu minimieren (European Commission 2016). Die EU unterscheidet zwischen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen, wobei erstere in etwa inhaltsgleich mit den auf dem Valletta-Gipfel beschlossenen Punkten sind. Langfristig sollen Fluchtursachen bekämpft werden, indem die afrikanischen Partnerländer in ihrer „politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung“ unterstützt werden. Zu diesem Zweck wurden mit vier westafrikanischen Ländern (Senegal, Mali, Niger, Nigeria) und dem ostafrikanischen Äthiopien Verträge abgeschlossen, die maßgeschneiderte Lösungen anbieten sollen. Geplant ist nach EU-Angaben der Einsatz von 8 Mrd. EUR in den Jahren 2016 bis 2020 zur Unterstützung dieser Schlüsselländer (European Commission 2016).
Angesichts der innenpolitischen Debatten in Europa im Zuge der „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 und dem Erstarken des Rechtspopulismus ist es verständlich, dass die europäische Politik einen gewissen Aktionismus entwickelt hat, um die Lage in den Griff zu bekommen. Kurzfristig setzt die EU zunächst auf verstärkte Repression durch Stärkung des Grenzschutzes sowie vermehrte Rückführung von Migranten. Längerfristig soll ein Mix aus unterschiedlichen entwicklungsfördernden Maßnahmen potenzielle Flüchtlinge dazu bewegen, ihre Heimat gar nicht erst zu verlassen.
Doch wie sehen solche Projekte aus? Hier soll ein kurzer Blick auf die Länder der Fluchtroute im Osten Afrikas, die sich von Eritrea über Äthiopien und den Sudan nach Libyen erstreckt, geworfen werden.
Äthiopien ist nicht nur eines der wichtigsten regionalen Partnerländer Europas am strategisch wichtigen Horn von Afrika, sondern gleichzeitig Aufnahmeland von etwa einer halben Million Flüchtlingen aus Somalia, dem Süd-Sudan und Eritrea. Regiert wird das Land im autoritären Stil von einer Partei, die bei den letzten Wahlen im Jahr 2015 hundert Prozent der Parlamentssitze erhielt. Seit letztem Herbst herrscht der Ausnahmezustand, der nach monatelangen Protesten verschiedener Volksgruppen gegen Unterdrückung und politische Marginalisierung verhängt wurde. Die Hauptgruppe der aus Äthiopien nach Europa gelangenden Flüchtlinge sind Eritreer, von denen sich derzeit ca. 160.000 im Nachbarland aufhalten, die meisten von ihnen in Camps mit nur geringen Zukunftsperspektiven. Die Mehrzahl der Geflüchteten träumt von einer Weiterreise über den Sudan und Libyen nach Europa (ODI 2017). Wegen der guten Chancen der Eritreer, in Europa Asyl zu erhalten, hat sich auch eine nicht bekannte Zahl von Äthiopiern diesem Treck angeschlossen. Wie versucht nun die EU, die neue Migrationspartnerschaft mit Äthiopien konkret umzusetzen?
Bislang gibt es ein EU-Projekt namens SINCE (Stemming Irregular Migration in Northern and Central Ethiopia), das Teil des Khartum-Prozesses ist und vom EU Trust Fund finanziert wird. Das Ziel liest sich wie aus einem Handbuch für klassische Entwicklungshilfe: so sollen die Lebensbedingungen der Not leidenden äthiopischen Bevölkerung, einschließlich potenzieller Migranten mit speziellem Fokus auf Jugendliche und Frauen verbessert werden. Geografische Schwerpunkte sind die Hauptstadt Addis Abeba und alle bevölkerungsreichen Regionen des 100-Millionen-Einwohner-Staates, nämlich Amhara, Tigray, Oromia und die Südregion (EU und ICMPD 2016). Nun gibt es zwar in Äthiopien massive Arbeitsmigrationsströme in die Golfstaaten, von armutsbedingter Massenmigration von Frauen und jungen Menschen nach Europa ist eher wenig bekannt. Daher erweckt das Projekt den Anschein, als werde nach dem Gießkannenprinzip Geld an die jeweiligen Regionalregierungen vergeben. Sinnvoller erscheint dagegen das Regional Development and Protection Programme (RDDP) für Äthiopien mit dem Ziel, die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern und die ökonomischen Perspektiven der dort lebenden Eritreer und Somalier zu verbessern. Zudem gibt es ein von einem europäischen Geberkonsortium finanziertes Projekt, das die Schaffung von Arbeitsplätzen für Flüchtlinge und Einheimische in sogenannten Industriezonen zum Ziel hat (BBC News 2017).
In Eritrea, das Mitglied des Khartum-Prozesses und unter den afrikanischen Ländern ist, die die größten Flüchtlingsströme hervorbringen, gibt es keine einschlägigen EU-Projekte. Unter dem Stichwort „Better Migration Management“, einem 46-Mio.-EUR-Programm, das der Bildung von Kapazitäten in Regierungsinstitutionen sowie dem rechtlichen Vorgehen gegen organisierten Menschenschmuggel dienen soll, findet sich jedoch ein erstaunliches Projekt in Eritrea, das unter der Leitung der GIZ von einem EU-Länderkonsortium implementiert werden soll. Die GIZ sagt über das Projekt Folgendes:
„In ausgewählten Ländern sollen Trainings für Grenzbeamte zu den Rechten von Migranten und Flüchtlingen angeboten werden, um die Einhaltung der Menschenrechte sicherzustellen. Außerdem sollen die Beamten befähigt werden, schutzbedürftige Migranten und Flüchtlinge besser zu identifizieren und an passende Hilfsangebote weiterzuleiten. Im Sudan und in Eritrea ist geplant, die nationale Migrationspolitik zu beraten, sodass Menschenrechte und internationales Recht in der Gesetzgebung verankert werden. In Eritrea sollen zudem Justizbeamte wie beispielsweise Staatsanwälte geschult werden, um effektiver gegen Menschenschmuggel vorgehen zu können“ (GIZ o.D.).
Das Eritrea-Projekt ist in jeder Hinsicht ohne klaren Fokus und an Absurdität kaum zu überbieten. Das Land erlaubt den Grenzübertritt nur mit einem Ausreisevisum, in dessen Genuss nur ein Bruchteil der Bevölkerung kommt. Eritreer, die vor dem zeitlich nicht begrenzten Nationaldienst fliehen, überqueren daher mithilfe von lokalen Helfern und Militärs, die systematisch in den Schmuggel ihrer eigenen Rekruten eingebunden sind, die Grenzen nach Äthiopien und Sudan, an denen Schießbefehl herrscht. Drakonische Strafen für aufgegriffene Deserteure sind an der Tagesordnung, auch wenn die Massenflucht nicht systematisch unterbunden wird, da die Geflüchteten von Europa aus Geld an ihre Familien schicken und somit auch eine neue Einkommensquelle für das Regime darstellen. Zusätzlich erhebt die Regierung eine Diasporasteuer in Höhe von zwei Prozent auf alle Einnahmen, auch auf Sozialleistungen, die die Geflüchteten in Europa erhalten (Hirt und Mohammad 2017).
Die GIZ will mithilfe ihres Programms diese Probleme durch geschulte Staatsanwälte angehen, die gegen den Menschenschmuggel einschreiten sollen. Problem hierbei ist, dass es in Eritrea an den rudimentärsten rechtsstaatlichen Grundlagen mangelt. Das Land hat weder eine Verfassung noch ist der Oberste Gerichtshof besetzt. Die Institution des Staatsanwaltes gibt es schlicht nicht, da der Staat, bzw. die Führungsclique um den Präsidenten, eine kleine Gruppe von Kadern der Regierungspartei und hochrangigen Militärs, sich nicht lange mit formaler Rechtsprechung abgibt. Menschen in Eritrea werden meist ohne Gerichtsverhandlung verhaftet und nach Monaten oder Jahren im Glücksfall wieder freigelassen. Die formale Ausbildung von Juristen wurde nach der Schließung der Universität in Asmara im Jahr 2006 eingestellt. Konflikte in der Bevölkerung werden nach traditionellem Gewohnheitsrecht gelöst. Dieses Beispiel von Fluchtursachenbekämpfung durch die EU/GIZ demonstriert, dass die europäischen Akteure die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen für die Implementierung von Projekten ignorieren und damit sogar regimestabilisierend wirken.
Im Sudan ist geplant, schutzbedürftige Flüchtlinge besser zu unterstützen, sie gut zu versorgen und eine psychosoziale Betreuung für unbegleitete Jugendliche aufzubauen. Der UNHCR unterhält im Ost-Sudan seit den 1970er-Jahren Flüchtlingslager, die heute eher den Charakter permanenter Siedlungen haben. Die Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen erscheint also durchaus sinnvoll. Allerdings verlässt das Gros der Flüchtlinge diese grenznahen Lager nicht nur aufgrund mangelnder ökonomischer Möglichkeiten so schnell wie möglich, sondern weil dort die Gefahr besteht, von Menschenhändlern aufgegriffen zu werden, die Lösegelder von Angehörigen erpressen, oder aber den miteinander kooperierenden sudanesischen und eritreischen Behörden in die Hände zu fallen und deportiert zu werden. Insbesondere nach der Etablierung des Khartum-Prozesses wurden im Sudan im Auftrag der Regierung vermehrt eritreische Flüchtlinge von den sogenannten Rapid Support Forces aufgegriffen. Diese militärischen Einsatzkräfte waren zuvor unter dem Namen Djandjaweed-Milizen für die Verübung von Massakern in Darfur bekannt (Shah 2017).
In Nordafrika plant die EU ein Regional Development and Protection Programme (RDPP), welches u.a. die Einrichtung von „migrantenfreundlichen Inklusivleistungen“ vorsieht, die den sozialen Zusammenhang stärken und Beschäftigungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene schaffen sollen. Hierzu soll es mehr Kleinkredite sowie Crowdfunding-Plattformen in Nordafrika geben. In Libyen setzt die EU 20 Mio. EUR mit der Absicht ein, angesichts der weitverbreiteten Ausbeutung und der systematischen Misshandlung von Flüchtlingen ein Minimum an menschenwürdigen Lebensbedingungen für Migranten zu garantieren. Hierzu soll es Interventionen in Aufnahmezentren und Haftanstalten für Migranten geben, die derzeit personell unzureichend ausgestattet seien (European Commission 2017: 3). Hier wird ignoriert, dass es sich bei Libyen um einen gescheiterten Staat handelt, in dem weite Gebiete von Warlords oder Ablegern des IS kontrolliert werden. Hier werden Migranten von organisierten Menschenhändlern und -schmugglern, aber auch von Sicherheitskräften festgehalten, um Lösegeld zu erpressen. Sie werden gezwungen, Verwandte anzurufen, die meist mehrere tausend Euro bezahlen müssen, bevor sie aus der Gefangenschaft entlassen werden (van Reisen und Mawere 2017; SAHAN und IGAD 2016: 14).
Insgesamt läuft die derzeit von der EU verfolgte Strategie zur Bekämpfung der Fluchtursachen auf eine Aufwertung autoritärer Regierungen hinaus, die von europäischen Politikern als Partner bei der Migrationsbekämpfung gesehen werden. Konsequenz ist, dass politische Reformen unwahrscheinlicher werden: der eritreische Präsident Isaias Afewerki sieht sich von der EU keineswegs unter Druck gesetzt, den zeitlich unbefristeten Nationaldienst als Hauptfluchtursache zu beenden. Äthiopiens Premier Hailemariam Desalegn diskutiert zwar mit Oppositionsgruppen, ohne aber das Machtmonopol seiner Regierungskoalition infrage stellen zu lassen, und Sudans Omar al-Beshir sieht sich gar legitimiert, die berüchtigten Djandjaweed-Milizen unter anderem Namen gegen Flüchtlinge einzusetzen. Erfolgreiche Fluchtursachenbekämpfung sieht anders aus. Noch immer scheinen viele europäische Entscheidungsträger die Motive der Flüchtenden als rein ökonomisch motiviert zu betrachten, allerdings sind es oft gerade die politischen Rahmenbedingungen, die es ihnen unmöglich machen, in der Heimat für ihren Lebensunterhalt zu sorgen (Bertelsmann Stiftung 2017).
Trotz verschiedenster Versuche, Fluchtrouten durch den afrikanischen Kontinent undurchlässiger zu machen, sind die Zahlen der in Italien ankommenden Flüchtlinge nur vorübergehend zurückgegangen. Anfang Juli 2017 drohte die italienische Regierung gar, in Zukunft keine Flüchtlingsboote mehr aufzunehmen, wenn andere europäische Länder sich weiterhin weigern würden, die Last zu teilen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen im Jahr 2015 gut 150.000 Flüchtlinge und Migranten über das Mittelmeer nach Italien, im Jahr 2016 waren es über 180.000 und bis Ende Juni 2017 bereits mehr als 95.000. Die von der EU kurzfristig favorisierte Antwort auf diesen Anstieg ist die Ausbildung libyscher Küstenwächter, die im Idealfall die maritime Grenze schließen sollen. Das Problem, dass es sich bei Libyen um einen gescheiterten Staat mit drei konkurrierenden Regierungen und vielen unter Lokalverwaltung bzw. unter der Herrschaft von IS- und Al-Qaida-Ablegern stehenden Gebieten handelt, in denen keinerlei rechtsstaatliche Strukturen bestehen, wird ignoriert, indem man sich auf die Regierung der Nationalen Einheit stützt, die faktisch kaum Kontrolle über das Land ausübt. Dabei sind die Zustände durchaus bekannt: in einer aktuellen Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes heißt es, „dass in Libyen derzeit kein funktionierendes Justizwesen existiert” und dass kein staatliches Gewaltmonopol vorhanden ist (Sea Watch News 2017).
Ein UN-Report vom Juni 2017 fasst die zahlreichen gegen die libyschen Küstenwächter erhobenen Vorwürfe zusammen: demnach sind Mitglieder der Küstenwache eng mit diversen konkurrierenden Menschenhändlerringen verbunden und aktiv am Menschenschmuggel beteiligt. Sie gehen regelmäßig gewaltsam gegen Flüchtlinge vor und behinderten Schiffe von Nichtregierungsorganisationen wie Sea Watch und Ärzte ohne Grenzen bei der Seenotrettung. Beim Versuch, das Schmuggelgeschäft von Konkurrenten zu untergraben, beschossen Mitglieder der Küstenwache Migrantenboote auf dem Meer und führten so den Tod zahlreicher Menschen herbei. Zudem nahmen Küstenwächter Migranten fest, um sie zum Zwecke der Zwangsarbeit und sexuellen Ausbeutung zu internieren (UN Security Council 2017: 41, 103 und 133).
Unabhängig von der zweifelhaften Reputation der Küstenwache bedeutet eine Zurückweisung von Flüchtlingen nach Libyen einen eklatanten Bruch mit den ethischen Werten der EU. In einer aktuellen Fernsehreportage beschreibt der Journalist Michael Obert die Zustände in den Haftlagern vor Ort, wo Menschen wie Vieh zusammengepfercht werden und unter unsäglichen hygienischen Bedingungen dahinvegetieren müssen, mit den Worten: „für mich ist das die Hölle“ (TTT 2017). Auch UNICEF berichtete im Februar 2017, dass tausende Frauen und Kinder monatelang in „Höllenlöchern“ festgehalten und regelmäßig vergewaltigt und missbraucht würden (UNICEF 2017). Dennoch machen sich unvermindert weitere Flüchtlinge und Migranten nach Libyen auf, in der Hoffnung, die Festung Europa zu erreichen. In einer aktuellen Analyse kommt der UNHCR zu dem Schluss, dass die Wirtschaftskrise sowie systematischer Missbrauch und Ausbeutung von Flüchtlingen und Migranten in Libyen den Migrationsdruck nach Europa erhöhen (UNHCR und Altai Consulting 2017). Auf Dauer kann eine Abschottungspolitik, die sich lediglich auf die Verbesserung des „Grenzmanagements“ in Staaten ohne rechtsstaatliche Mechanismen konzentriert, nicht wirken. Sie läuft eher Gefahr, menschenverachtende Regime zu stabilisieren, die blühende Schmuggelindustrie in Libyen zu fördern und somit den Flüchtlingsstrom aufrechtzuerhalten.
Der derzeitige Aktionismus der EU und die Vergabe von Mitteln zur Fluchtursachenbekämpfung nach dem Gießkannenprinzip, die sich wie im Beispiel Äthiopien teilweise wenig von herkömmlicher Entwicklungszusammenarbeit unterscheidet, wird in dieser Form wenig bewirken. Vor allem müssen maßgeschneiderte Lösungsstrategien erarbeitet werden, die die jeweilige politische Situation in den Herkunftsländern berücksichtigt. Ein Land wie Äthiopien, das sehr viele Flüchtlinge aufnimmt und sich gleichzeitig um wirtschaftliche Entwicklung bemüht, muss anders behandelt werden als ein Regime, das wissentlich einen Massenexodus hervorruft und durch Reformunwilligkeit perpetuiert, wie die politische Führung Eritreas. Im Sudan ist hingegen professioneller Menschenschmuggel und -handel seit Jahren fest etabliert. Im Kontrast dazu gibt es Länder in Westafrika, in denen traditionell temporäre Arbeitsmigration ausgeübt wird, die durch Rücküberweisungen der Migranten auch der Entwicklung zugutekommt, und die über eine wesentlich stärker ausgebildete und freier agierende Zivilgesellschaft verfügen (Rühl 2017). Doch auch zivilgesellschaftliche Gruppen im Exil, wie z.B. die zahlreichen eritreischen Menschenrechtsgruppen in Europa, werden selten als Ratgeber herangezogen, wenn es um die Gestaltung bilateraler Zusammenarbeit und die Verbesserung der Situation im Heimatland geht.
Solche maßgeschneiderten Lösungsansätze könnten wie folgt aussehen:
Temporäre legale Migration kann für viele Länder Westafrikas eine mögliche Lösung sein, die es ermöglicht, zum Arbeiten legal nach Europa einzureisen und danach wieder zurückzukehren (Follmar-Otto 2007). Hierbei ist darauf zu achten, dass eine solche Migration zum Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse führen kann, wie sie bereits heute in der saisonalen Landwirtschaft weitverbreitet sind. Zudem verhindern kurzfristige Arbeitsverhältnisse die Qualifikation von Arbeitsmigranten, die bei ihrer Rückkehr einen Beitrag zur Entwicklung leisten könnten.
Immer wieder werden vom UNHCR und von Menschenrechtsorganisationen vergeblich Asylverfahren auf afrikanischem Boden für Flüchtlinge mit hohem Anerkennungspotenzial gefordert, wie z.B. im Falle Eritreas. Eine solche Möglichkeit würde ein wirksames Mittel gegen Menschenhandel und -schmuggel darstellen. Für anerkannte Asylberechtigte sollten demnach legale Reisemöglichkeiten geschaffen werden, oder es sollten zumindest vermehrt Resettlement-Programme nach dem Vorbild der USA und Kanadas eingerichtet werden. Diese Länder nehmen eine kleine Zahl von Flüchtlingen aus Drittstaaten auf und gewähren ihnen einen dauerhaften Aufenthaltsstatus.
Regierungen, die sich als reformunwillig gezeigt haben und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben und begehen wie in den Fällen Eritrea und Sudan, sollten nicht durch Entwicklungshilfeleistungen belohnt werden, die nicht an Reformbedingungen geknüpft sind. Das eritreische Regime profitiert derzeit dreifach vom Status quo: die Geflüchteten überweisen Geld an die Zurückgebliebenen und helfen so, das Regime zu stabilisieren, ohne dass hierbei wie in Westafrika Synergieeffekte auftreten, da marktwirtschaftliche Strukturen in Eritrea zerstört und durch eine Kommandowirtschaft ersetzt wurden. Günstlinge der Regierung profitieren (auch im Sudan) vom Menschenschmuggel und können so kooptiert werden, und schließlich fließt noch europäisches Geld in die Staatskassen der Länder, die für ihre fehlende Transparenz berüchtigt sind.
In Ländern, die hunderttausende Flüchtlinge beherbergen wie Äthiopien, sollte viel stärker in die Schaffung von Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten vor Ort investiert werden, wovon auch die umliegenden lokalen Gemeinden profitieren sollten. Migrationsrouten werden weniger durch Restriktion beeinflusst als durch die Wahrnehmung, in einem Land willkommen zu sein: Geflüchtete sind eher gewillt, in der Nähe ihres Herkunftslandes zu bleiben, wenn sie Arbeit und ein Auskommen haben und ihre Kinder zur Schule schicken können. Die Förderung von Kleinstunternehmen und Schaffung von Perspektiven außerhalb der Camps kann hierbei hilfreich sein. Auch im Sudan geht es nicht um die Ausbildung von Grenzschützern, sondern es sollte in Kleinkredite und Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort investiert werden, um Flüchtlingen eine Bleibeperspektive zu bieten.
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