GIGA Focus Nahost
Nummer 3 | 2016 | ISSN: 1862-3611
Mit knapp fünf Millionen Flüchtlingen ist Syrien das bedeutendste Ursprungsland aktueller Fluchtbewegungen. Obwohl mehrere Hunderttausend Syrer im Jahr 2015 nach Europa flohen, lebt die überwiegende Mehrheit von ihnen weiterhin in der direkten Nachbarschaft im Nahen Osten. Eine konfliktsensible Unterstützung der Flüchtlinge in den Hauptaufnahmeländern ist dringend geboten.
Jordanien hat bezogen auf seine Einwohnerzahl mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die Türkei, aber weniger als der Libanon. Rechtlich befinden sich die Flüchtlinge in Jordanien in einem unsicheren Schwebezustand zwischen temporärem Schutz und struktureller Marginalisierung.
Innerhalb Jordaniens lebt die Mehrzahl der Syrer in der Hauptstadt Amman sowie in den grenznahen Städten und Gemeinden des Nordens, ein deutlich geringerer Teil in den offiziellen Flüchtlingslagern. Im Niemandsland des jordanisch-syrisch-irakischen Dreiländerecks harren zudem Zehntausende Fl üchtlinge weitgehend ohne Versorgung aus.
Während in nordjordanischen Städten wie Mafraq Immobilienbesitzer und lokale Unternehmer von der Präsenz der Flüchtlinge und den internationalen Hilfszahlungen profitieren, leiden hingegen neben den Syrern auch viele Jordanier unter dem Preisanstieg und dem angespannten Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Diese Konstellation birgt Konfliktpotenzial, da die Konkurrenzsituation vor Ort Vorurteile zwischen Jordaniern und Syrern vertiefen könnte. Von Einzelfällen abgesehen sind diese aber bis dato noch nicht in Gewalt eskaliert.
Der fortdauernde Krieg in Syrien macht eine Rückkehr der Flüchtlinge in absehbarer Zeit unwahrscheinlich. Da europäische Staaten inklusive Deutschland nicht willens sind, einer größeren Anzahl syrischer Flüchtlinge Schutz zu gewähren, ist eine deutliche Aufstockung der internationalen Hilfe für die Aufnahmeländer in der Region unerlässlich. Die finanzielle Unterstützung sollte dabei die heterogene Lebenswirklichkeit der Syrer in Jordanien – in Städten oder Camps – stärker berücksichtigen.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen berichtete in seinem „Global Trends“-Report vom 20. Juni 2016, dass im Jahr 2015 weltweit 65,3 Mio. Menschen gewaltsam vertrieben waren. Die Zahl lag damit erstmals in der Geschichte bei über 60 Mio. (UNHCR 2016). Vor diesem Hintergrund spricht der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, von „eine[r] Ära totaler Mobilität“ (Tagesschau 2016). Von den 2015 vom UNHCR dokumentierten gewaltsam Vertriebenen sind knapp zwei Drittel (40,8 Mio.) Binnenvertriebene („internally displaced persons“, IDP), die zwar ihre unmittelbare Heimat verlassen, aber keine Staatsgrenze überschritten haben. Mit 21,3 Mio. waren ungefähr ein Drittel der 2015 gewaltsam Vertriebenen weltweit Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und des Zusatzprotokolls von 1967, da sie eine Staatsgrenze übertreten hatten. Demzufolge gilt als Flüchtling jede Person, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung […] außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (GFK, Art. 1.2). Flüchtlinge im völkerrechtlichen Sinne der GFK haben ein international verbrieftes Recht auf Schutz.
Diese globale Entwicklung einer rapid steigenden Zahl von Staatsgrenzen überschreitenden Flüchtlingen einerseits und von noch mehr Binnenvertriebenen andererseits deckt sich mit den Trends der aktuell weltweit größten Einzelgruppe von gewaltsam Vertriebenen: Syrer nach dem Beginn des Krieges 2011. Bei einer Gesamtbevölkerung Syriens von knapp 23 Mio. Menschen waren Ende 2015 ca. 6,6 Mio. Syrer binnenvertriebene IDPs (Internal Displacement Monitoring Centre 2016). Über 40 Prozent der gegenwärtig in Syrien Lebenden flohen mindestens einmal, einige sogar mehrfach innerhalb ihres Heimatlandes. Hinzu kommt eine enorm hohe Zahl von Todesopfern, die aktuell auf 300.000 bis über 500.000 Menschen geschätzt wird.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk beziffert die Zahl registrierter syrischer Flüchtlinge für Ende 2015 auf 4,8 Mio. (UNHCR 2016: 16). Die Zahl der nicht registrierten Flüchtlinge, die sich außerhalb ihres Heimatlandes aufhalten, dürfte jedoch deutlich höher liegen. Dies lässt sich anhand des Libanons veranschaulichen: Dort leben gegenwärtig ca. 1,1 Mio. vom UNHCR registrierte Flüchtlinge aus Syrien. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge dürfte die Zahl der Syrer im Land aber eher bei zwei Millionen liegen. Der Libanon ist damit das Land, das pro Kopf seiner 4,5 Mio. Einwohner weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat (Lenner und Schmelter 2016) – je nach Schätzung zwischen einem Viertel und der Hälfte der Gesamtbevölkerung. Auf Deutschland übertragen, würde dies einer Zahl von 20 bis 40 Mio. Flüchtlingen entsprechen.
In absoluten Zahlen ist die Türkei das Hauptaufnahmeland von syrischen Flüchtlingen. Bis Januar 2016 hatte der UNHCR hier knapp 2,5 Mio. syrische Flüchtlinge registriert (Bank und Schmelter 2016: 103). Auch wenn die Flucht hunderttausender Syrer im Jahr 2015 nach Europa und insbesondere nach Deutschland und nach Schweden eine neue und signifikante Entwicklung darstellte, verblasst sie doch in Relation zu den Zahlen syrischer Flüchtlinge in den nahöstlichen Nachbarländern.
In Jordanien hatte der UNHCR bis zum Sommer 2016 650.000 Syrer als Flüchtlinge registriert. Die Monarchie unter König Abdallah II. geht jedoch von insgesamt 1,4 Mio. Syrern aus, da ihres Erachtens bereits vor Kriegsbeginn 2011 750.000 Syrer in Jordanien lebten. Diese Zahl dürfte allerdings zu hoch gegriffen sein, zumal die jordanischen Behörden vor 2011 nie von einer Dreiviertelmillion Syrern im Land berichtet hatten. Weder König Abdallah II. noch jordanische Regierungsvertreter begründeten, wie ihrer Meinung nach diese hohe Zahl nichtregistrierter Syrer zustande kommt. Dennoch sind aktuell je nach Schätzung zwischen einem Zehntel und einem Sechstel der heutigen Bevölkerung Jordaniens Syrer. Mit einer Gesamtbevölkerung von 9,2 Mio. hat Jordanien im Vergleich zum Libanon zwar weniger syrische Flüchtlinge aufgenommen, aber relativ gesehen mehr als die Türkei (Lenner und Schmelter 2016).
Bereits in der Vergangenheit war Jordanien aufgrund seiner Lage im Herzen des Nahen Ostens sowie wegen seiner relativen politischen Stabilität immer wieder ein Aufnahmeland für Flüchtlinge aus arabischen Nachbarländern. So leben in Jordanien 2,1 Mio. Flüchtlinge aus Palästina, die vor allem in Folge der israelisch-arabischen Kriege von 1948 und 1967 ins Land kamen. Als Folge der Golfkriege von 1990/1991 und von 2003 haben sich zudem mehrere hunderttausend Iraker temporär oder permanent in Jordanien niedergelassen (Bank 2010: 171 ff.). Kleinere Flüchtlingsgemeinschaften aus anderen Kriegsländern der weiteren Region wie dem Sudan, Somalia sowie jüngst dem Jemen und Libyen kommen hinzu. Des Weiteren leben mehrere Hunderttausend Gastarbeiter im Land, vornehmlich aus Ägypten, dem Sudan sowie aus süd- und südostasiatischen Ländern.
Die jordanische Monarchie hat weder die GFK von 1951 noch das Zusatzprotokoll von 1967 unterschrieben. Für die Flüchtlinge aus Syrien kooperieren die jordanischen Behörden mit dem UNHCR deshalb auf Grundlage einer „gemeinsamen Absichtserklärung“ (memorandum of understanding, MoU) von 1998, die 2014 erneuert wurde. Dies bedeutet, dass der UNHCR den geflohenen Syrern, die sich in Jordanien registrieren lassen möchten, eine temporäre, sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung und somit einen Schutzstatus „auf Widerruf“ gewähren darf. Damit haben die in Jordanien registrierten syrischen Flüchtlinge zunächst für ein halbes Jahr den Anspruch auf Nahrungsmittelhilfe, eine bezuschusste Gesundheitsversorgung und eingeschränkten Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen. Während die jordanischen Behörden von 2011 bis 2013 anschließend die Aufenthaltstitel der Flüchtlinge ohne größere Restriktionen verlängerten und ihnen subventionierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellten, wird letztere seit November 2014 nur noch von nichtstaatlichen Hilfsorganisationen gewährt (Carrion 2016). Einen Rechtsanspruch haben die syrischen Flüchtlinge auf diese Unterstützungsleistungen nach Ablauf der Sechsmonatsfrist jedoch nicht mehr. Zudem gibt es für die jordanischen Behörden de jure die Möglichkeit, die Flüchtlinge nach Ablauf des halbjährlichen Schutzstatus auszuweisen. Dies ist zwar bis dato nur in Einzelfällen erfolgt, belässt die syrischen Flüchtlinge aber in einem dauerhaften Schwebe- und Unsicherheitszustand (Carrion 2016; Bank und Schmelter 2016).
Die Syrer in Jordanien gehören mehrheitlich der sunnitisch-arabischen Unter- und Mittelschicht an. Seit 2011 sind vorwiegend Familien geflohen und die Zahl der Kinder und Jugendlichen ist entsprechend hoch. Viele von ihnen kommen aus dem Süden des Landes, insbesondere aus dem Regierungsbezirk Dar‘a, wo der Aufstand gegen das autoritäre Regime unter Präsident Baschar al-Assad Mitte März 2011 seinen Ausgang nahm. Mit der Ausweitung des Krieges in Syrien kamen sukzessive immer mehr Flüchtlinge aus anderen Landesteilen nach Jordanien: aus dem Umland der Hauptstadt Damaskus (Rif Dimaschq), aus dem Gebiet um die zentralsyrischen Städte Homs und Hama sowie aus der nordsyrischen Metropole Aleppo.
Die meisten Flüchtlinge aus Syrien lassen sich keinem der dominanten politischen Lager des Syrienkonflikts zuordnen. Am ehesten gibt es wohl Sympathien mit der säkularen und der moderat-islamistischen Opposition, auch die „Freie Syrische Armee“ wurde immer wieder erwähnt. Es liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, wie viele Flüchtlinge mit dem Assad-Regime oder dschihadistischen Terrororganisationen wie der Nusra-Front (Jabhat an-Nusra), dem syrischen al-Qa’ida-Ableger, und dem sogenannten Islamischen Staat sympathisieren. Bei der klaren Mehrheit der in Jordanien lebenden Syrer handelt es sich offenbar um Kriegsflüchtlinge und nicht um Flüchtlingskrieger.
Auch wenn nur wenige verlässliche Daten über ihre genaue räumlich-demografische Verteilung vorliegen, zeigt sich, dass im Jahr 2016 die größte Gruppe der Syrer mit ungefähr 400.000 Menschen in der Agglomeration der Hauptstadt Amman (circa vier Mio. Einwohner) lebt. Unklar ist, wie viele von ihnen erst in Folge des Krieges hierher kamen und wie viele bereits vor 2011 hier lebten. Die Mehrzahl der syrischen Flüchtlinge hat sich jedoch in den Gemeinden und Flüchtlingslagern Nordjordaniens unweit der Grenze zu Syrien niedergelassen, vor allem in den Regierungsbezirken Irbid und Mafraq. In manchen Ortschaften stellen sie inzwischen die Bevölkerungsmehrheit.
Anders als der libanesische Staat haben die jordanischen Behörden für die gewaltsam vertriebenen Syrer nach 2011 fünf offizielle Flüchtlingslager – Zaatari, Azraq, King Abdallah Park, Cyber City und Zarqa – bereitgestellt (Turner 2015; Bank und Schmelter 2016: 107-111). Addiert man die geschätzten Zahlen von deren Bewohnern, so kommt man im Frühsommer 2016 auf ungefähr 200.000 – also weniger als ein Drittel der vom UNHCR registrierten Flüchtlinge aus Syrien und deutlich weniger als die geschätzten 400.000 in den Städten und Gemeinden Nordjordaniens.
Im Juli 2012 eröffnete das größte und bekannteste Flüchtlingslager, Zaatari, das knapp zehn Kilometer von Mafraq, der Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks, entfernt liegt. Lebten hier 2012 und 2013 noch bis zu 200.000 Menschen, so hat sich ihre Zahl sukzessive auf aktuell circa 80.000 verringert. Die jordanische Monarchie unter König Abdallah II. hat ein starkes Interesse daran, dass sich diese Zahl der „gut sichtbaren“ Flüchtlinge nicht weiter verringert, weil andernfalls die jordanischen Ansprüche auf Unterstützungsleistungen herabgesetzt werden könnten. Innerhalb des Zaatari-Camps haben bereits früh diverse, mit dem UNHCR kooperierende internationale und lokale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Hilfsprogramme übernommen (Tobin 2016; Sullivan und Simpson 2016). Die jordanischen Behörden sind lediglich für die Kontrolle der Zugänge durch Polizeikräfte verantwortlich (Tobin 2016: 5). Das Betreten und insbesondere das Verlassen des Flüchtlingscamps ist seit 2015 deutlich schwieriger geworden. Von jordanischen Sicherheitskräften außerhalb des Lagers aufgegriffene Bewohner werden festgenommen und teilweise nach Syrien abgeschoben.
Neben den offiziellen Flüchtlingslagern hat sich seit 2014 eine Ansammlung mehrerer „wilder Camps“ entwickelt. Diese liegen in der unwirtlichen Wüste im Niemandsland des jordanisch-syrisch-irakischen Dreiländerecks, fernab von größeren Siedlungen, umfassender Infrastruktur und grundlegender Versorgung. Ein aufgeschütteter Sandwall (berm) trennt über eine Länge von knapp 100 Kilometern das Gebiet vom syrischen Territorium. Innerhalb des Sandwalls sollen sich unterschiedlichen Schätzungen zufolge im Juli 2016 zwischen 65.000 und 100.000 Flüchtlinge in provisorischen Zeltansiedlungen aufgehalten haben. Viele flohen vor den seit 2015 massiv eskalierten Kämpfen um die nordsyrische Metropole Aleppo; eine andere große Gruppe kommt aus dem Herrschaftsgebiet des „Islamischen Staats“ (IS), der immer brutaler gegen die Zivilbevölkerung vorgeht (Rosiny 2016).
Seit Frühjahr 2016 lassen die jordanischen Behörden nach intensiven und langwierigen Durchsuchungen kleinere Kontingente der in der Wüste Gestrandeten einreisen. Sie kommen vor allem im Azraq-Camp unter, das Ende Juni 2016 bereits 50.000 Syrer beherbergte und damit innerhalb weniger Wochen eine Erhöhung um 20.000 Flüchtlinge erlebte. Die Situation innerhalb des Sandwalls hat sich seit dem 21. Juni 2016 weiter zugespitzt, als ein mutmaßlich vom IS verübter Terroranschlag in Rukban sieben jordanische Grenzsoldaten tötete. Daraufhin erklärten die jordanischen Sicherheitsbehörden das gesamte Grenzgebiet zu einer geschlossenen Militärzone. Bereits Ende 2013 und erneut im Verlauf des Jahres 2014 schloss die jordanische Regierung die Grenze in den westlichen Landesteilen aus Furcht vor einer Infiltration dschihadistischer Terrororganisationen, insbesondere des IS und der Nusra-Front. Diese faktische Grenzschließung bedeutet, dass syrische Flüchtlinge seit über zwei Jahren keinerlei Möglichkeit mehr haben, nach Jordanien zu gelangen. Zudem brach nach dem Terroranschlag die Versorgung der innerhalb des berm Gestrandeten zusammen. Menschenrechts- und Hilfsorganisationen kritisieren den jordanischen Staat für diese de facto-Bestrafung der Flüchtlinge, weil diese ja selbst vor den Gewalttätern geflohen waren, die die jordanischen Grenzsoldaten getötet hatten. Trotz alledem dauert der menschenunwürdige Umgang mit den gewaltsam Vertriebenen im jordanisch-syrischen Niemandsland an.
Für die syrischen Bewohner der nordjordanischen Städte und Gemeinden ist die Situation nicht so akut lebensbedrohlich wie für die nichtregistrierten Flüchtlinge in Rukban und anderen wilden Camps, die sich seit 2014 spontan und sehr provisorisch entwickelt haben. Die Flüchtlinge und andere grenzüberschreitende Effekte des Syrienkriegs haben hier die sozioökonomischen Bedingungen der Menschen stark verändert. Am Beispiel von Mafraq, einer konservativen, traditionell von Landwirtschaft und Handel mit dem Irak geprägten Stadt in Nordjordanien, lässt sich diese Transformation der grenznahen Gebiete gut veranschaulichen. Die Einwohnerzahl von Mafraq hat sich seit Beginn des Syrienkriegs durch den Zuzug von ungefähr 100.000 Syrern auf 200.000 Einwohner verdoppelt. Dieses rapide Wachstum brachte es mit sich, dass der jordanische Staat als Sicherheitsakteur in Form von Polizei, Gendarmerie und Geheimdienst vor Ort präsenter auftritt als je zuvor. Durch die Bevölkerungszunahme benötigt Mafraq inzwischen viel mehr lokalstaatliche Dienstleistungen, wie Wasser-, Strom- und Gesundheitsversorgung sowie Müllentsorgung. Während die Sicherheitsmaßnahmen der Kontrolle der autoritären Monarchie unterliegen, ist die Stadtverwaltung von Mafraq für die Finanzierung der Dienstleistungen in hohem Maße von internationalen Geberinstitutionen abhängig. Weder generiert sie selbst genügend Einnahmen, zum Beispiel über Steuern, noch erhält sie auch nur ansatzweise ausreichend Gelder aus dem notorisch klammen jordanischen Staatshaushalt.
Wesentlich entscheidender als bei der Finanzierung städtischer Dienstleistungen ist die Rolle der internationalen Hilfsorganisationen bei der Überlebenssicherung der Flüchtlinge, da die überwiegende Mehrheit der in Jordanien lebenden Syrer von Hilfsleistungen abhängig ist. Die Hilfsorganisationen haben häufig Schwierigkeiten, die Bedürftigen angemessen zu erreichen. Zudem operieren sie oft von Amman aus, das zwei Autostunden entfernt ist. Dadurch haben sich pragmatische, aber kaum an die lokalen Umstände angepasste Maßnahmen der Hilfe etabliert. In Mafraq ist es zum Beispiel gängige Praxis, dass Hilfsorganisationen die Miete mehrköpfiger Familien für ein halbes Jahr bezahlen, womit zumindest für einen gewissen Zeitraum eine gemeinsame Unterkunft gesichert ist. Nach Ablauf der Sechsmonatsfrist, die dem temporären Rechtsstatus der syrischen Flüchtlinge entspricht, stellt sich die Frage aber von neuem: Wird der Familie weiterhin die Miete bezahlt? Darf sie in der Wohnung bleiben, ohne Miete zu zahlen, da die Mitglieder ohne jordanische Arbeitserlaubnis auf legalem Weg kein Geld verdienen können? Oder muss sie die Wohnung räumen? Auch ist damit weder die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln noch mit Gesundheitsdienstleistungen oder der Zugang zu grundlegenden Bildungseinrichtungen sichergestellt. Diese Fragen unterstreichen die prekären Verhältnisse, unter denen viele Syrer in Mafraq trotz internationaler Hilfe leben.
Solche Praktiken der internationalen Hilfe haben die lokale Ökonomie von Mafraq grundlegend verändert: Zunächst führten sie zu massiven Preisanstiegen bei Mieten. Es ist keine Seltenheit, dass Wohnungen gegenwärtig für das Fünf- bis Siebenfache des üblichen Preises vermietet werden. Hierunter leiden jedoch nicht nur die Syrer, wenn zum Beispiel ihr Mietzuschuss ausläuft. Auch viele ärmere Jordanier im struktur- und einkommensschwachen Mafraq können sich die immensen Mieten nicht mehr leisten. Viele von ihnen sind gezwungen, in kleinere, schlechtere Wohnungen umzuziehen oder mit mehr Leuten in derselben Wohnung zu leben. Auf der anderen Seite hat die Mietpreisblase Profiteure hervorgebracht, namentlich die Immobilienbesitzer, die immense Gewinne einstreichen. In Mafraq gehören sie oft zu den politisch mit der Monarchie vernetzten Großfamilien. Auch die Landbesitzer profitieren, die den für den Bauboom benötigten Grund und Boden zu deutlich höheren Preisen veräußern können. Selbst die Gastronomie und der Kleinhandel machen bessere Geschäfte als in der Vergangenheit. Hatte es etwa in Mafraq vor 2011 kaum Cafés und Restaurants gegeben, sind diese mit dem Zuzug zehntausender Syrer neu entstanden.
Diesen wenigen jordanischen Profiteuren stehen die vielen Bewohner gegenüber, die sich als Verlierer der Entwicklung fühlen. Weniger wohlhabende Jordanier äußern deshalb ihren Unmut, dass sie sich das Leben „in ihrer Stadt“ nicht mehr leisten können. So kursieren auch viele Vorurteile über die (vermeintliche) Bevorzugung der Syrer, etwa hinsichtlich der temporären Mietübernahme durch internationale Hilfsorganisationen. Des Weiteren monieren einige Jordanier, dass die Syrer ihnen ihre Arbeitsplätze streitig machen würden, da sie zu deutlich niedrigeren Löhnen arbeiteten. Viele Syrer in Mafraq gehen einer informellen Beschäftigung ohne Arbeitserlaubnis nach. Allerdings geschieht dies zumeist in Sektoren, in denen Jordanier typischerweise ohnehin nicht tätig sind, wie in der Landwirtschaft als Erntehelfer oder in den Textilfabriken der nahe gelegenen Sonderwirtschaftszone. In und um Mafraq lässt sich am ehesten eine partielle ökonomische Verdrängung nichtjordanischer Gastarbeiter durch syrische Arbeiter konstatieren.
Trotz solcher Vorurteile gegenüber Syrern ist die Lage in Mafraq – von Einzelfällen abgesehen – bis dato nicht gewaltsam eskaliert. Einige jordanische Bewohner der Stadt hatten als Protestaktion im Jahr 2013 mit eigenen Zelten ein kleines Flüchtlingslager imitiert. Diese Aktion richtete sich aber in erster Linie gegen die Untätigkeit der jordanischen Behörden. Im Jahr 2015 hatte ein Jordanier einen Syrer als Folge eines Diebstahldelikts getötet (Sullivan und Simpson 2016: 18). Solche vereinzelten Vorfälle führten bislang jedoch nicht zur Gewalteskalation zwischen den Gruppen. Zum einen liegt dies sicherlich an der massiven Präsenz jordanischer Sicherheitskräfte. Zum anderen hegen viele Jordanier auch Sympathien für die Syrer, weil sie Opfer eines brutalen Krieges sind und großes Leid erfahren haben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ankunft vieler Syrer und die Praktiken der internationalen Flüchtlingshilfe eine starke sozioökonomische Transformation in Nordjordanien hervorgerufen haben. Den wenigen lokalen Profiteuren stehen dabei viele Jordanier gegenüber, die strukturell marginalisiert wurden. Diese Konstellation birgt mittelfristig ein hohes Konfliktpotenzial, auch wenn dieses bislang nicht in gewaltsamen Aktionen eskaliert ist.
Der fortdauernde Krieg in Syrien macht eine Rückkehr der Flüchtlinge in absehbarer Zeit unmöglich. Dass europäische Staaten inklusive Deutschland vor diesem Hintergrund nicht willens sind, einer größeren Anzahl syrischer Flüchtlinge Schutz zu gewähren, ist höchst problematisch und bedauernswert. Da auch die reichen Golfmonarchien nur sehr wenige Syrienflüchtlinge aufnehmen, ist eine weitere, deutliche Aufstockung der internationalen Finanzhilfe für die Hauptaufnahmeländer Jordanien, Libanon, die Türkei, aber auch Irak dringend geboten. Dabei sollte sichergestellt werden, dass anders als in der Vergangenheit die Gelder, zum Beispiel der „Supporting Syria and the Region“-Konferenz vom 4. Februar 2016 in London, nicht nur zugesagt, sondern auch wirklich ausgezahlt werden. Die Unterfinanzierung des UNHCR und des UN-Welternährungsprogramms im Jahr 2015, in deren Folge die Hilfsleistungen in Jordanien und im Libanon kurzfristig um bis zu 30 Prozent reduziert werden mussten, sind warnende Beispiele. Die Kürzung der Hilfszahlungen führte zu einer wesentlich schlechteren Versorgung der Flüchtlinge vor Ort und trug dazu bei, dass sich im Frühjahr und Sommer 2015 sehr viele Syrer trotz der lebensgefährlichen Fluchtrouten auf den Weg in Richtung Europa machten.
Eine deutliche Erhöhung und Verstetigung der internationalen Hilfsgelder sind notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen für eine nachhaltige Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in den nahöstlichen Aufnahmeländern. Wichtig ist vielmehr auch eine an die lokalen Bedingungen und die heterogene Lebenswirklichkeit angepasste Versorgung. Während für die Syrer in wilden Camps wie Rukban unmittelbare Nothilfe und eine grundlegende Versorgung überlebensnotwendig sind, müsste Syrern im Zaatari-Lager neben der Grundversorgung zum Beispiel mehr Unterstützung für Schul-, Aus- und Weiterbildung zukommen. Syrische Kinder und Jugendliche in Städten wie Mafraq sollten noch besser ins Schulsystem integriert werden und erwachsene Syrer eine Arbeitserlaubnis erhalten und einer geregelten, legalen Arbeit nachgehen dürfen, um sich mittelfristig aus der Abhängigkeit prekärer Hilfsleistungen befreien zu können. Internationale Geberinstitutionen sollten in diesem Punkt ihre Hilfe an Jordanien stärker konditionieren.
All dies verlangt nach einer besseren Kooperation zwischen internationalen Gebern, jordanischen staatlichen Institutionen und lokalen Partnern vor Ort. Nur über eine gezielte Zusammenarbeit lässt sich die Mammutaufgabe der Versorgung der syrischen Flüchtlinge in Jordanien meistern.
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