GIGA Focus Nahost
Nummer 6 | 2016 | ISSN: 1862-3611
„Objektiv“ ist die Flüchtlingskrise im Libanon ungleich massiver als jene in Deutschland und Europa. Jeder fünfte Bewohner des Libanon besaβ im Jahr 2015 offiziellen Flüchtlingsstatus, in Deutschland waren es drei Promille. Der Libanon beherbergte im April 2016 mehr als eine Million syrischer Flüchtlinge – etwa 400.000 mehr als die Länder der EU zusammen. Gleichwohl ist der Grad der Versicherheitlichung des Flüchtlingszustromes aus Syrien im Libanon niedriger, das heißt, auβerordentliche Maβnahmen zur „Krisenbewältigung“ wurden in geringerem Maβ als in Europa ergriffen.
Der Libanon reagierte auf den Flüchtlingszustrom vergleichsweise flexibel und das seit Jahren krisenhafte libanesische System wurde zumindest nicht weiter destabilisiert. Dies lässt sich auf drei Ebenen erhellen: Gesellschaft (politische Kultur), Wirtschaft (sozioökonomische Entwicklung) und Politik (Staat).
Im Libanon entwickelten sich im Unterschied zu Europa keine starken sozialen Bewegungen, aus deren Mitte Flüchtlinge systematisch angegriffen wurden, und im Parteiensystem konnten Vertreter eines xenophoben Ansatzes kein rigides Einwanderungsregime durchsetzen.
Zwar verursachte der Flüchtlingszustrom im Libanon starke sozioökonomische Spannungen und verschärfte vor allem das ohnehin gravierende Armutsproblem. Diese Krise entlud sich aber nicht in sozialen Unruhen, vielmehr passte sich das System weitgehend flexibel an.
Die Kapazitäten zur Problemlösung des libanesischen Staates gelten zurecht als schwach. Im vorliegenden Fall schlug die generelle Schwäche des libanesischen politischen Systems aber in Stärke um: Der Zentralstaat überlieβ die Bewältigung des Flüchtlingszustroms insbesondere der Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen, deren Handeln sich häufig als systemstabilisierend erwies.
In Umkehrung eines geflügelten Wortes von Wendell Philipps zu Revolutionen lässt sich anhand des unterschiedlichen Umgangs mit dem Flüchtlingszustrom vieler europäischer und libanesischer Akteure resümieren, dass (Flüchtlings-)Krisen nicht kommen, vielmehr werden sie gemacht. Ein unerhörter Kommentar zu (den Kritikern von) Bundeskanzlerin Merkels Diktum „Wir schaffen das“ aus dem Libanon könnte somit lauten: Selbstverständlich.
Im April 2016 lebten im Libanon über eine Million registrierter syrischer Flüchtlinge – etwa 400.000 mehr als in allen Mitgliedsstaaten der EU, deren Bevölkerung jene des Libanon um das Hundertfache übersteigt (Migration Policy Center of the European University Institute 2016). Vor diesem Hintergrund erscheint erklärungsbedürftig, weshalb sich im Libanon die gesellschaftlich-kulturellen, sozioökonomischen und staatlich-politischen Systemkomponenten bis dato weitgehend erfolgreich an den Flüchtlingsstrom aus Syrien angepasst haben, ohne dass es zu einem hohen Maβ an Politiken der „Versicherheitlichung“ (Buzan,Wæver und de Wilde 1998: 25) gekommen wäre. Mit anderen Worten: Trotz eines „objektiv“ gegebenen Krisenphänomens – dem Zuzug von über einer Million syrischer Flüchtlinge – haben die politischen Akteure des Libanon nicht in einem zu erwartenden Ausmaβ zu auβerordentlichen Politiken gegriffen, um unter Berufung auf eine Notsituation dem Flüchtlingszustrom durch systematische Abwehr Einhalt zu gebieten. Erst im Oktober 2014, über ein Jahr nach Beginn des Flüchtlingsstroms aus Syrien, als dieser die Schwelle von einer Million Syrern längst überschritten hatte, beschloss die Regierung ein Maβnahmenpapier, um den Flüchtlingszuzug künftig restriktiv zu bearbeiten. Dabei spricht sogar einiges dafür, dass dessen primärer Adressat nicht die libanesische Gesellschaft als vielmehr die internationale Gemeinschaft war (Dionigi 2016: 15-16). Es sollten also weniger innenpolitisch auβerordentliche Politiken umgesetzt als vielmehr externe Hilfsgelder eingeworben werden („rent seeking“). Seit Anfang des Jahres 2015 hat der Libanon tatsächlich restriktive Maβnahmen ergriffen. So wurden bürokratische Vorschriften zur Erneuerung von Aufenthaltsgenehmigungen eingeführt, die mit hohen Gebühren verbunden sind. Für einen Groβteil der Flüchtlinge ist der Verbleib im Libanon und Zugang zu dessen Institutionen somit zu einem prekären Gut geworden. Zu systematischen Ausweisungen ist es allerdings bisher nicht gekommen. Politische Hauptthemen waren in den Jahren 2015 und 2016 weniger die syrischen Flüchtlinge als vielmehr die mangelnde Müllentsorgung und die Schwäche politischer Institutionen.
Der geringe Grad an Versicherheitlichung des Flüchtlingszuzuges im Libanon ist umso bemerkenswerter, als auf allen drei Ebenen, die hier näher betrachtet werden sollen, Faktoren wirksam sind, die eine Versicherheitlichung als durchaus plausibel hätten erscheinen lassen: Viele Libanesen führen den Bürgerkrieg, der in den Jahren von 1975 bis 1990 tobte, auf die Politisierung der palästinensischen Flüchtlinge zurück, die als Folge des ersten israelisch-arabischen Krieges Ende der 1940er Jahre ins Land strömten. Der Libanon ist zwar kein armes, vielmehr ein Land mit gehobenem mittlerem Einkommen, dessen Bruttonationaleinkommen von 14.120 USD pro Kopf im Jahr 2015 dem globalen Durchschnitt von 15.421 USD nahe kommt (World Bank 2016); das sozioökonomische System des Libanon ist aber von großer Ungleichheit zwischen sozialen Schichten sowie verschiedenen Regionen und damit einhergehender ausgeprägter Armut unterer Schichten in unterprivilegierten Regionen gekennzeichnet (Laithy, Abu-Ismail und Hamda 2008) – und diese Probleme wurden durch den Flüchtlingszustrom akzentuiert. Schlieβlich steht der libanesische Zentralstaat zum einen (durchaus zu Recht) im Ruf niedriger Problemlösungskapazitäten, und zum anderen haben organisierte politische Akteure wie die politischen Parteien die Defizite des Staates regelmäβig genutzt, um ihre Partikularinteressen zu verfolgen – und dies häufig mit ausgeprägten Strategien der Versicherheitlichung politischer Probleme. Wieso ist der Grad der Versicherheitlichung des Flüchtlingszustroms im Libanon dennoch vergleichsweise gering?
Es sind im wesentlichen drei (zugeschriebene) Merkmale, die syrische Asylsuchende von Mehrheiten der Bevölkerungsgruppen sowohl in Europa als auch dem Libanon unterscheiden: Sie besitzen eine andere Nationalität, sie sind als Flüchtlinge nicht Teil der angestammten Bevölkerung, und sie gehören einer Minderheitenreligion an. Grob gesprochen, können angestammte Gesellschaften gegenüber „Fremden“ eine Kultur der Inklusion oder Exklusion entwickeln, wobei zu betonen ist, dass solche Kulturen zwischen verschiedenen Segmenten der aufnehmenden Gesellschaften stark variieren können und langfristig nicht stabil sein müssen. Insbesondere für letzteres Phänomen gibt es im Fall der syrischen Flüchtlinge im Libanon starke Belege: Die ausgeprägte Willkommenskultur zu Anfang der Flüchtlingskrise ist mit Problemen, die durch die zunehmende Zahl und Verweildauer der Flüchtlinge auftraten, einem partiellen Exklusivismus gewichen. Insbesondere in unterprivilegierten Regionen waren schlecht ausgestattete Kommunen damit überfordert, die Konkurrenz zwischen angestammter Bevölkerung und Flüchtlingen um knappe Ressourcen angemessen zu regeln. Auch schürte es sexistische Ressentiments gegen Flüchtlinge, wenn syrische Frauen und Mädchen (bzw. deren Familien) der Armut zu entfliehen versuchten, indem sie einkommensstärkere Libanesen heirateten (bzw. entsprechende Ehen arrangierten) und/oder diesen promiskuitive Lebensstile eröffneten (Dionigi 2016: 21). Gleichwohl erscheint primär erklärungsbedürftig, weshalb der massive Flüchtlingszustrom im Libanon nicht zu sehr viel massiveren kulturell-politischen Konflikten geführt hat.
Der libanesische Nationalismus ist weniger gefestigt, als dies in den meisten europäischen Ländern der Fall ist. Dies liegt nicht nur daran, dass der libanesische Nationalstaat jung ist – das Land erklärte seine Unabhängigkeit erst im Jahr 1943 –, sondern lässt sich historisch in erster Linie darauf zurückführen, dass der Libanon als politisches Gebilde einschlieβlich seiner Grenzen wesentlich im Rahmen des Sykes-Picot-Abkommens von europäischen Kolonialmächten, Frankreich und Groβbritannien, definiert wurde. Im Rahmen seiner Herrschaft über das Mandat für Syrien und den Libanon – eines vom Völkerbund legitimierten Kolonialregimes – beförderte Frankreich im Libanon, der als eine von Syrien getrennte Einheit überhaupt erst von Paris konstruiert wurde, ein durch Sektarianismus zerklüftetes System. Dieses lieβ zwar auch widersprüchliche Strömungen mit umstrittenen inklusivistischen und exklusivistischen Elementen gedeihen, die die Idee vom Libanon höchst unterschiedlich interpretierten und von Panarabismus bis zu (christlichem) Phönizianismus reichten und insbesondere auch immer wieder das Verhältnis zu Syrien zu politisieren versuchten. Es hat sich aber kein von einer breiten Mehrheit getragener, exklusiver libanesischer Nationalismus durchsetzen können. Erst im Jahr 2009 eröffnete der Libanon eine Botschaft in Damaskus, und die Grenzziehung zwischen Syrien und dem Libanon ist bis heute nicht genau geregelt. Vieles spricht somit dafür, dass der Flüchtlingszustrom ein Ereignis war, das auch deshalb geschehen konnte, weil der Libanon im Gegensatz zu europäischen Ländern nicht über ideologische Abwehrreflexe verfügte.
Im Unterschied zu vielen europäischen Gesellschaften, die Flucht und Vertreibung in groβem Ausmaβ am eigenen Leib zum letzten Mal im Zuge des Zweiten Weltkrieges erfahren hatten und nicht erwarten, dass sie diesem Problem erneut ausgesetzt sein könnten, ist die libanesische kollektive Erinnerung daran lebendig. Vor den Schrecken des libanesischen Bürgerkrieges (1975-90) flohen viele Libanesen aller Schichten buchstäblich in alle Welt. Zuletzt produzierte die israelische Armee im Sommerkrieg im Jahr 2006 einen massiven Flüchtlingsstrom vor allem aus schiitischen Siedlungsgebieten. Syrien nahm seinerzeit über hunderttausend Vertriebene auf. Da viele Libanesen in dem Bewusstsein eigener Flüchtlingserfahrungen leben und antizipieren, dass auch sie eines Tages wieder darauf angewiesen sein könnten, als Flüchtlinge beherbergt zu werden, neigen sie dazu, beim „Flüchtlingsspiel“ kooperative Regeln anzuwenden.
Der Libanon verfügt über eine konsolidierte Kultur des interreligiösen Dialoges und Miteinanders. Somit werden die Flüchtlinge aus Syrien, bei denen es sich ganz überwiegend um sunnitische Muslime handelt, nicht per se als religiöse „Fremdkörper“ wahrgenommen. Dies ist keineswegs trivial (wie dies im Fall des sunnitisch geprägten Jordanien, das über eine halbe Million syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, erscheinen mag) (vgl. Bank 2016): Sunniten bilden mit knapp 30 Prozent nach Christen und Schiiten „lediglich“ die drittgröβte religiöse Groβgruppe im Libanon. Religionszugehörigkeit ist im Libanon durchaus politisiert; so sind die meisten etablierten politischen Parteien mit religiösen Gruppierungen assoziiert. Beim Umgang mit den palästinensischen Flüchtlingen und im Rahmen des Bürgerkrieges wurden religiöse Zugehörigkeiten durchaus Politiken einer starken Versicherheitlichung unterzogen. Unter sonst gleichen Bedingungen erscheinen die kulturellen Widerstandskräfte gegen Versicherheitlichung von Religion im Libanon aber stärker als in Europa, und zwar sowohl auf der Ebene der politischen Eliten als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. Dies kommt in politischen Allianzen über religiöse Grenzen hinweg sowie in der gegenüber dem europäischen paternalistischen Gedanken der Toleranz sehr viel inklusiveren Idee der Akzeptanz religiöser Vielfalt zum Ausdruck.
Der Libanon sah im Unterschied zu Jordanien davon ab, die Besiedlung der syrischen Flüchtlinge zentralstaatlich zu lenken und in Flüchtlingslager zu kanalisieren (Turner 2015). Unabhängig davon, ob dies primär Folge einer bewussten Entscheidung war, einer Wiederholung der von vielen Libanesen als hoch problematisch wahrgenommenen Politisierung der palästinensischen Flüchtlinge in Lagern vorzubeugen, oder aber Ausdruck einer Politik des Laissez-faire: Die Konsequenzen waren weitreichend. Die syrischen Flüchtlinge siedelten weitgehend frei und folgten dabei einem Muster sozioökonomischer Homogenität. Viele der überwiegend armen Flüchtlinge zogen in unterprivilegierte Regionen der Gouvernements Bekaa, Nordlibanon und Libanonberg, von denen etliche in Zeiten vor dem Bürgerkrieg als Arbeitsmigranten gegangen waren. Dort verstärkten sie bestehende soziale Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit und Armut.
Im Unterschied zu Deutschland und Europa, wo die Flüchtlingskrise vor allem als kulturelles Problem wahrgenommen wurde, manifestierte sie sich im Libanon primär als sozioökonomischer Widerspruch. Weshalb führte dies nicht zu sozialen Unruhen? Hauptgründe hierfür sind zum einen, dass es unter potenziell organisations- und durchsetzungsfähigen sozialen Gruppen der Mittel- und Oberschichten Gewinner der Flüchtlingskrise gab und sich deren Verluste gleichzeitig in engen Grenzen hielten. Zum anderen waren die Verlierer, die unteren Schichten, nicht organisationsfähig. Auβerdem wurden aufkeimende soziale Spannungen zwischen armen Segmenten der einheimischen Bevölkerung und Flüchtlingen teilweise durch extern finanzierte Hilfsprojekte aufgefangen.
Aus systemischer Sicht absorbierte der libanesische Arbeitsmarkt den Flüchtlingsstrom in flexibler Weise. Aufgrund eines groβen informellen Sektors und eines (für unqualifizierte Arbeit) nur niedrig regulierten formalen Arbeitsmarktes sind die Arbeitsbeziehungen im Libanon relativ frei. Der massive Zustrom von Flüchtlingen verursachte jedoch einen deutlichen Rückgang des Lohnniveaus vor allem in Niedriglohnsektoren. Von der Verbilligung der „Ware“ Arbeitskraft auf der Angebotsseite profitierte die Nachfrageseite, vor allem mittlere und kleinere Unternehmen, aber auch private Haushalte gehobener Schichten.
Angehörige höherer und mittlerer Schichten waren weiterhin insofern Nutznieβer extern finanzierter Entwicklungsprojekte, als für deren Umsetzung libanesische Partner benötigt wurden. Da es sich bei der Hälfte der syrischen Flüchtlinge um Kinder handelt, wurden beispielsweise im Bildungssektor Projekte für Flüchtlingskinder aufgelegt. So finanzierten internationale Geber Doppelschichten, um syrische Flüchtlinge in das libanesische Schulsystem zu integrieren. Auch wurden Projekte im Gesundheitssystem vor allem im Bereich der Primärversorgung gefördert. Zwar reicht die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft bei weitem nicht aus, um den syrischen Flüchtlingen einen angemessenen Zugang zu zentralen Gütern menschlicher Entwicklung wie Bildung und Gesundheit zu verschaffen, aber ein Zusammenbruch des Systems wurde verhindert. Dies lag auch daran, dass libanesische Akteure vom Flüchtlingszuzug profitierten. Gemäβ einer gemeinsamen Studie von UNHCR und UNDP (2015: 8, 16-17) verhalfen allein die von vier UN-Organisationen – dem Flüchtlingskommissariat UNHCR, dem Kinderhilfswerk UNICEF, dem Welternährungsprogramm WFP und dem Entwicklungsprogramm UNDP – geleisteten Hilfszahlungen dem Libanon im Jahr 2014 (unter Vernachlässigung der durch Arbeitskraft und Ersparnisse der Flüchtlinge erzielten Effekte) zu einem Zusatzwachstum des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 1,3 Prozent, wobei von diesem der Faktor Kapital doppelt so stark profitierte wie der Faktor Arbeit. UNHCR/UNDP (2015: 8, 19) schätzen zwar, dass damit die durch den Flüchtlingszustrom vor allem im Tourismussektor entstandenen volkswirtschaftlichen Verluste nicht vollständig aufgefangen werden konnten. Sie rechnen dabei aber die durch Arbeitskraft und Ersparnisse der Flüchtlinge erzielten Effekte nicht ein und vernachlässigen, dass die Tourismusbranche nach einem massiven Einbruch im Jahr 2011 in den Folgejahren wieder Zuwächse zu verzeichnen hatte (vgl. Longuenesse 2014/2015). Gleichzeitig hielten sich die durch den Flüchtlingszustrom enstandenen „Störpotenziale“ für mittlere und obere Schichten in Grenzen: Sichtbar äuβerten sie sich in den gutbürgerlichen Nachbarschaften und Vergnügungsvierteln in der Metropolregion Beirut vor allem in der Zunahme bettelnder syrischer Kinder (und ihrer Mütter).
Hauptverlierer der Flüchtlingskrise war – neben armen syrischen Flüchtlingen – das libanesische „Lumpenproletariat“. Dessen Interessen sind aber kaum organisiert, und die Bedingungen hierfür verschlechterten sich durch den Zuzug syrischer Flüchtlinge weiter. Die meisten syrischen Flüchtlinge hatten auβer der Annahme extrem schlecht bezahlter Arbeit im informellen Sektor keine andere Möglichkeit, als sich beim UNHCR als Flüchtlinge registrieren zu lassen, um in den Genuss grundlegender Sozialleistungen zu kommen. Insbesondere zu Beginn der Flüchtlingskrise haben diese zu einem weiteren relativen Abstieg der ärmsten Segmente der libanesischen Gesellschaft beigetragen. Allerdings lernten die Geber aus Projekten, die ausschliesslich Flüchtlingen und ihren Familien zugute kamen, das „Do-No-Harm-Prinzip“ stärker zu beachten und Projekte so zu reorganisieren, dass auch bedürftige Libanesen profitierten. Damit wurde zwar das massive Problem wachsender sozialer Ungleichheit im Libanon nicht grundsätzlich gelöst, zumal im Verlauf der Flüchtlingskrise aufgrund mangelnder Finanzierung auch für die Armutsreduzierung essenzielle Programme zwischenzeitlich gekürzt wurden – so im Jahr 2015 die Verteilung von Nahrungsmittelgutscheinen an besonders bedürftige Flüchtlinge durch das WFP (WFP 2015) –, eine Eskalation der sozioökonomischen Spannungen konnte mit Hilfe extern finanzierter Programme bis dato aber abgewendet werden.
Die Kapazitäten zur Problemlösung des libanesischen Staates gelten gemeinhin als niedrig, und zentrale Institutionen – insbesondere die etablierten politischen Parteien, die öffentliche Verwaltung, das Parlament sowie Polizei und Justiz – werden als hochgradig korrupt wahrgenommen. Diese negativen Einschätzungen können sich durchaus auf Fakten stützen. So ist es über ein Jahr lang nicht gelungen, die seit Sommer 2015 schwelende „Müllkrise“ befriedigend zu lösen. Die demokratische Legitimität und Funktionsfähigkeit des Staates ist jahrelang untergraben worden: Erst nach mehr als anderthalbjähriger Vakanz ist Ende Oktober 2016 ein neuer Präsident gewählt worden, und das von einem Parlament, dessen Legislaturperiode seit dem Jahr 2013 abgelaufen ist und das sich seine Amtszeit ohne verfassugsmäβige Grundlage bis zum Jahr 2017 selbst verlängert hat. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise lässt sich allerdings argumentieren, dass es gerade die Schwäche des Staates im allgemeinen und seiner zentralen Institutionen im besonderen war, die das libanesische politische System relativ flexibel auf den Flüchtlingszustrom reagieren lieβ. Dies bedeutet jedoch auch, dass mit der Wahl von Michel Aoun zum Präsidenten und der Aussicht auf Parlamentswahlen im Jahr 2017 eine Situation eingetreten ist, in der sich Politiken der Versicherheitlichung, die bis dato als politische Rhetorik abgetan werden konnten – etwa die von Auβenminister Gebran Bassil, dem Schwiegersohn Aouns, propagierte zwangsweise Rückführung syrischer Flüchtlinge in sogenannte „sichere Zonen“ in Syrien –, manifestieren könnten.
Insbesondere zu Beginn des Flüchtlingszustroms in den Jahren 2012/2013 überlieβ der libanesische Zentralstaat die „Bearbeitung“ des Flüchtlingszustroms weitgehend anderen Akteuren: dem Privatsektor und zivilgesellschaftlichen Initiativen (insbesondere bei der Beschaffung von Arbeit und Unterkunft), internationalen Organisationen (insbesondere bei der Registrierung und Versorgung mit grundlegenden Gütern wie Nahrungsmitteln) sowie einzelnen Ministerien (vor allem im Bildungssektor) und (quasi-)staatlichen Institutionen (insbesondere im Bereich Sicherheit). Die Tatenlosigkeit des libanensischen Staates ist zwar einerseits zu Recht kritisiert worden (Nashed 2016); andererseits scheint im Licht des die Interessen und Rechte von Flüchtlingen häufig verletzenden Umgangs europäischer Staaten mit dem Flüchtlingszustrom die Überantwortung der Aufgabe an eine professionelle internationale Organisation wie dem UNHCR sowie an private Akteure zumindest teilweise systemstabilisierend zu wirken. Positiver ausgedrückt: Die politische Kultur des Libanon mit seinem vergleichsweise schwach entwickelten Konzept staatlicher Souveränität hat es ermöglicht, dass statt eines überforderten Staates zum großen Teil gesellschaftliche Akteure und internationale Organisationen den Flüchtlingszustrom bearbeiteten und dadurch einen denkbaren Zusammenbruch des libanesischen Systems verhinderten.
Die dargelegte systemische Sichtweise sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass arme syrische Flüchtlinge und bedürftige Libanesen teilweise einen hohen Preis zu zahlen hatten. Den groβen Spielraum für private Akteure nutzten nicht nur einer „Willkommenskultur“ verpflichtete private Haushalte und zivilgesellschaftliche Organisationen, sondern auch profitorientierte Geschäftsleute und Grundbesitzer, die die Notlage von Flüchtlingen etwa durch hohe Mieten für Plätze in Behelfsunterkünften ausnutzten. Weiterhin war das geringe Maβ zentralstaatlicher Aktivität mit mangelder Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien verbunden, weshalb sich Flüchtlinge Willkürmaβnahmen durch lokale Behörden ausgesetzt sahen, beispielsweise in Form von Ausgangssperren.
Auf der Ebene politischer Kommunikation haben prominente Mitglieder der politischen Klasse des Libanon den Zustrom syrischer Flüchtlinge zu einem zentralen sicherheitspolitischen Thema erhoben. So hat Auβenminister Bassil wiederholt die Metapher der „Existenzbedrohung“ bemüht (Eshaf 2016). Allerdings haben sich die zentralstaatlichen politischen Institutionen bisher als zu schwach erwiesen, um umfassende und weitreichende Maβnahmen von oben durchzusetzen, die geeignet wären, die Zahl der im Libanon lebenden syrischen Flüchtlinge stark zu reduzieren. Jenseits der Zentralregierung wurden allerdings auch im Libanon auβerordentliche Maβnahmen im Bereich materieller Sicherheitspolitiken lanciert, die ihren Niederschlag insbesondere in der Zusammenarbeit „regulärer“ und „irregulärer“ Sicherheitskräfte fanden. So schlug Anfang August 2014 die von der Hisbollah unterstützte Libanesische Armee (LAF) gegen die von syrischen Jihadisten getragene Al-Nusra Front die Schlacht um Arsal, eine nahe der syrischen Grenze gelegene Ortschaft im Bezirk Balbeek (Leigh 2014). Auch beim schweren Terroranschlag im Beiruter Schiiten-Viertel Burj al-Barajneh vom November 2015, zu dem sich der Islamische Staat bekannte, konnte sich die Hisbollah als legitimer Akteur im libanesischen Kampf gegen den Terror profilieren (Nader 2015). Gleichzeitig vernachlässigten die syrischen Sicherheitskräfte allerdings, konsequent gegen Gewalttäter vorzugehen, die infolge der Schlacht von Arsal zu Sündenböcken degradierte syrische Flüchtlinge drangsalierten.
Bis dato hat das libanesische System den massiven Zustrom syrischer Flüchtlinge unter vergleichsweise geringem Rückgriff auf Politiken der Versicherheitlichung bearbeitet. Dabei spricht vieles dafür, dass das libanesische System seine „Flüchtlingskrise“ bis auf weiteres unbeschadet, d.h. ohne weitere Destabilisierung, bewältigt hat, weil sich der Zentralstaat kaum an der „Problemlösung“ beteiligt hat. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob die durch die Präsidentenwahl möglicherweise eingeläutete Renaissance des libanesischen Zentralstaates dazu führen könnte, dass der „Flüchtlingskrise“ in naher Zukunft mit effektiven Politiken der Versicherheitlichung begegnet wird. Einige Indizien weisen durchaus in diese Richtung, insbesondere der im November 2016 begonnene – nach massiven Protesten allerdings wieder auf Eis gelegte – Bau einer Mauer um das gröβte palästinensische Flüchtlingslager des Libanon, Ain al-Hilweh, in dem auch Tausende palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien Zuflucht gefunden haben. Ist somit ein Szenario wahrscheinlich, dass der Libanon seine Flüchtlingspolitik in naher Zukunft radikal ändern und etwa die von Auβenminister Bassil propagierte massenweise Rückführung syrischer Flüchtlinge umsetzen wird? Dies scheint zwar nicht ausgeschlossen, es gibt aber auch gewichtige Argumente, die dagegen sprechen. So verbirgt sich hinter der Androhungung drastischer Maβnahmen gegen syrische Flüchtlinge auch die Intention, weitere Hilfsgelder einzuwerben („rent seeking“). Zudem ist fraglich, wie ausgeprägt das Interesse der politischen Führung des Libanon an einer massenhaften Ausweisung der Flüchtlinge tatsächlich ist: Das syrische System hat sich, insbesondere auch im sozioökonomischen und sicherheitspolitischen Bereich, erfolgreich an den Flüchtlingszustrom angepasst, und durch eine massenhafte Ausweisung wären kaum Gewinne zu erzielen. Nicht zuletzt hätte selbst eine gestärkte libanesische Regierung Schwierigkeiten, die zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstände und logistischen Herausforderungen zu überwinden, die weitreichende drastische Maβnahmen gegen Flüchtlinge wie Massenausweisungen mit sich brächten.
Libanesische Akteure haben auf eine „objektiv“ ungleich gröβere „Flüchtlingskrise“ relativ flexibel, mit einem vergleichsweise geringen Maβ an Versicherheitlichung reagiert. Somit erscheint es nicht von vornherein abwegig, die Frage zu stellen, was „wir“ vom Libanon lernen könnten. Allein diese Frage zu stellen, mag bereits einen wichtigen Lerneffekt darstellen: Die meisten europäischen politischen und gesellschaftlichen Akteure sind „normalerweise“ der Überzeugung, dass die kulturellen Errungenschaften und politischen Strukturen Europas jenen des Globalen Südens im allgemeinen und des Nahen Ostens im besonderen so weit überlegen sind, dass sich die Frage des Lernens politisch darin erschöpft, ob und wie Europa und Deutschland seine zu Modellen stilisierten Strukturen auf „unterentwickelte“ Länder und Regionen übertragen sollte und könnte.
Im Hinblick auf eine substanzielle Antwort auf die Frage, was Europa von der libanesischen Behandlung des Flüchtlingsstromes lernen könnte, lassen sich zum einen durchaus schlagkräftige Argumente für die Entgegnung „Nichts“ finden: Die flexible Behandlung des Flüchtlingszustroms im Libanon war nicht zuletzt eine Folge dessen, dass ein schwacher, demokratisch defizitärer Staat weder willens noch fähig war, eine auf Prinzipien der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit basierende, aktive Flüchtlingspolitik zu betreiben. Dialektisch provoziert diese normativ berechtigte Zurückweisung des libanesischen Vorbildcharakters freilich die Gegenfrage, ob Europas Flüchtlingspolitik die Erfüllung dieser Normen für sich beanspruchen kann.
Zum anderen gibt es ein gutes Argument, doch vom Libanon zu lernen: Angesichts der flexiblen Verarbeitung des enormen Flüchtlingszustroms im Libanon erscheint es nämlich als keineswegs zwingend, dass viele Akteure Europas und Deutschlands trotz gefestigter sozioökonomischer, politischer und normativer Strukturen zur Bearbeitung eines vergleichsweise geringen Flüchtlingszuzuges auf Krisenmodus geschaltet haben. Der deutschen Regierung, namentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, kann zugute gehalten werden, dass sie diesen Krisenmodus durch ihr Diktum „Wir schaffen das“ in produktive Bahnen zu lenken bemüht war. Deren Kritiker müssen sich mit Blick auf Libanon jedoch die Frage gefallen lassen, weshalb sie sich dem widersetzten, obwohl Deutschland über vergleichsweise hohe materielle und immaterielle Ressourcen zur Bewältigung einer relativ begrenzten Herausforderung verfügt.
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