GIGA Focus Middle East
Number 2 | 2019 | ISSN: 1862-3611
In the run-up to the elections planned for autumn 2019, Tunisia appears to be deeply divided in both economic and sociopolitical terms. The government is currently pursuing an austerity programme, as demanded by international donors. Broad social movements, on the other hand, are calling for redistribution and social security policies. The future of this young democracy will depend on whether genuine solutions can be found to these challenges.
Eight years after the overthrow of the authoritarian regime, the Tunisian government is still unable to showcase any tangible sociopolitical achievements. Rising unemployment and the burgeoning of informal forms of employment prevent large sections of society from accessing state social security; hoped-for improvements in the health and education sectors have not yet materialised either.
The framework for these disappointments is provided, among other things, by the austerity measures demanded by international donors as well as by economic liberalisation. These policies block the expansion and alignment of the country’s highly segmented social systems for broad sections of society.
The consequence is diminished trust in political parties and declining voter turnout. In contrast, socio-economic protests are frequent and politicisation against international donors as well as national elites on the rise.
The crisis of parties and elites will only be resolved once effective measures to counter social inequality have been identified and implemented. Ongoing frustration merely plays into the hands of anti-democratic forces. The social balancing of Tunisia’s nascent democracy is thus also in the interests of the European Union as well as of the German Federal Government.
International donors can help defuse the social crisis in Tunisia by making financial aid conditional on the integrity of the upcoming elections being guaranteed and democratic standards being upheld. Further, the expansion of the formal employment sector through strategies that are innovative in nature and compatible with the needs of society is a must.
Verglichen mit den anderen Ländern des Arabischen Frühlings ist die politische Transition Tunesiens eine bisher einzigartige Erfolgsgeschichte: Im Jahr 2013 gelang es den islamistischen und säkularen Parteien aufgrund einer Mediation durch das zivilgesellschaftliche Quartett für nationalen Dialog, eine lähmende Polarisierung zu überwinden und Tunesien in einem historischen, fünf Jahre währenden Konsens zu stabilisieren. Seitdem wurde eine demokratische Verfassung verabschiedet und es kam zu mehreren freien und fairen Wahlen. Dennoch bieten die Fortschritte an der politischen Front keine ausreichende Grundlage für eine Konsolidierung der jungen tunesischen Demokratie. Persönliche Machtkämpfe innerhalb der politischen Eliten, autoritäre Regierungspraktiken und mangelnde sozialpolitische Fortschritte lassen das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen sinken. Für eine nachhaltige Transition müsste eine politische Perspektive für das Land entwickelt werden, welche die sozialen Missstände, die schon zum Sturz des Ben Ali Regimes geführt haben, anerkennt und bearbeitet.
Soziale Gerechtigkeit und mehr soziopolitische Rechte waren zentrale Forderungen in den landesweiten Aufständen der Jahre 2010 und 2011, die im Landesinneren begannen und sich rasch auf das ganze Land ausweiteten. Dass die Proteste des Arabischen Frühlings nicht in den reichen Küstenregionen ausbrachen, ist kein Zufall: In dem von Agrarwirtschaft und Bergbau geprägten Inland sind die Folgen einer jahrzehntelangen Politik der Elitenbereicherung und strukturellen Benachteiligung bis heute besonders hart zu spüren. So profitieren die armen Landstriche im Westen und Süden des Landes kaum von den im regionalen Vergleich gut ausgestatteten sozialen Sicherungssystemen. Doch auch in den Städten sind die Menschen unterschiedlich gut abgesichert. Dazu kommt, dass mit der demokratischen Transition die Erwartungen vieler Tunesier an soziale Gerechtigkeit, angemessene Beschäftigungsverhältnisse und die Beseitigung regionaler Disparitäten gestiegen sind. Verspricht doch Artikel 12 der jüngsten tunesischen Verfassung: „Der Staat strebt soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung und ein Gleichgewicht zwischen den Regionen, basierend auf Entwicklungsindikatoren und dem Prinzip der positiven Diskriminierung, an. […]“ Das Recht auf Gesundheit und Bildung erlangte Verfassungsstatus.
Die dadurch bei vielen Tunesiern geweckten Hoffnungen wurden bislang bitter enttäuscht. Acht Jahre nach dem Sturz des autoritären Regimes kann die tunesische Regierung kaum sozialpolitische Erfolge vorweisen. So existiert bislang keine umfassende Strategie, den steigenden Lebenshaltungskosten, der hohen Arbeitslosigkeit und dem wachsenden informellen Sektor Einhalt zu gebieten. Auch zeichnet sich keine Abkehr von dem traditionell stark segmentierten System der sozialen Sicherung ab, in der verschiedene Berufs- und Bevölkerungsgruppen unterschiedlichen Schutz genießen. Schließlich sind die staatlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung nur unwesentlich gestiegen. Damit bleibt der Zugang zu sozialen Leistungen extrem ungleich verteilt.
Besonders sichtbar ist die Ungleichheit im Gesundheitssektor. So führte die tunesische Regierung bereits unter dem autoritären Regime von Ben Ali eine bezuschusste Gesundheitsversorgung (AMG) für die Bevölkerungsgruppen ein, die keinen Sozialversicherungsanspruch besitzen. Nach einer Erweiterung im Jahr 2011 existiert heute rein rechtlich eine flächendeckende staatliche Gesundheitsfürsorge, die jedoch wegen bürokratischer Hürden längst nicht alle Tunesier erreicht. Auch ist die Behandlung von Patienten mit speziellen Bedürfnissen aufgrund der chronischen Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems vielerorts nur in privaten Krankenhäusern möglich. Zum Beispiel arbeiten circa 60 Prozent der Fachärzte in Privatkliniken, obwohl letztere nur ein Fünftel der Krankenhausbetten stellen (Ministère de la Santé 2016). Zudem fehlt es vielen der öffentlichen Krankenhäuser an technischer Ausstattung. Während private Behandlungen Krankenversicherten anteilig erstattet werden, trägt der Rest der Tunesier diese vollständig selbst: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) machten Out-of-pocket-Zahlungen, das heißt direkte Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte, im Jahr 2015 knapp 40 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben aus (vgl. Abb. 1). Zählt man private Krankenversicherungen hinzu, wird knapp die Hälfte aller Gesundheitsausgaben von den Haushalten selbst getragen (Arfa und Elgazzar 2013). Dies ist vor allem für die untere Mittelschicht und die armen Bevölkerungsteile eine erhebliche finanzielle Belastung. Eine Studie von Wissenschaftlern der Universitäten Sfax und Karthago aus dem Jahr 2017 konnte zeigen, dass private Gesundheitsausgaben für etwa 13 Prozent der Armutslücke, also dem Betrag, der einer betroffenen Person zur Überwindung ihrer Armut fehlt, verantwortlich sind (Ayadi und Zouari 2017).
Zudem gibt es große Unterschiede im Netz der sozialen Sicherungssysteme in den verschiedenen Regionen Tunesiens. So sind die Menschen im Westen und Süden des Landes in einem überaus hohen Maß von Armut und sozialer Ungleichheit betroffen, was sich letztlich an der Lebenserwartung ablesen lässt. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag in Regionen wie Kasserine und Tataouine vor dem Regimewechsel bei unter 70 Jahren, in Städten wie Tunis bei 77 Jahren (African Development Bank 2014). Verursacht wird dies unter anderem von einer lückenhaften medizinischen Infrastruktur im Landesinneren. Hatte Tunis im Jahr 2016 eine Ärztedichte von 3,5 pro 1.000 Einwohner, was in etwa dem OECD-Durchschnitt entspricht, so gibt es in Sidi Bouzid, Kasserine und Tataouine für die gleiche Einwohnerzahl nur 0,4 bis 0,6 Ärzte. Zudem müssen die Menschen oft hunderte von Kilometern in das nächstgelegene Krankenhaus fahren, um sich behandeln zu lassen: In Tataouine betrug die durchschnittliche Entfernung zum nächsten Kreiskrankenhaus mit Kapazitäten der Grund- und Regelversorgung pro Einwohner 59 Kilometer, zu einer Allgemeinklinik mit Schwerpunktversorgung sogar 307 Kilometer (mehr als das fünffache) (Ministère de la Santé 2016). Damit wird in vielen ländlichen Regionen insbesondere die Behandlung von schwerwiegenden und chronischen Erkrankungen erschwert. Obwohl der Politik diese regionalen Ungleichheiten bewusst sind, mangelt es an der Umsetzung entsprechender Reform- und Entwicklungsmaßnahmen (Mattes 2016).
Auch beim Zugang zum Bildungssystem gibt es deutliche Probleme. Zwar besteht in Tunesien eine allgemeine Schulpflicht. In vielen öffentlichen Schulen fehlen jedoch ausreichend Materialien und gut ausgebildete Lehrer. Zudem müssen die Schüler in ländlichen Regionen weite Wege bis zur nächsten Schule zurücklegen, was sich negativ auf die Schulbesuchsquote auswirkt. Diese Schieflage spiegelt sich in den offiziellen Abschlussraten wider: In Tunis und Sfax bestanden im Jahr 2017 40 bzw. 52 Prozent der zugelassenen Schüler im ersten Durchgang das tunesische Abitur, in Tataouine waren dies nur 25 und in Kasserine sogar nur 19 Prozent (Tunisie Résultats Baccalauréat Session Principale 2017). Diese Ungleichheit im Zugang zu Bildung und damit letztlich auch die Bereitstellung von qualifizierten Arbeitskräften könnte sich durch die Ausbreitung von kostenpflichtigen Privatschulen weiter verstärken. Zwar sind Privatschulen heute noch die Ausnahme, die Anzahl von privaten Grundschulen hat sich zwischen 2011 und 2017 jedoch von 109 auf 414 knapp verdreifacht (Ben Naser 2018).
Besonderen Unmut erzeugt die Versorgungsschieflage im Gesundheits- und Bildungsbereich in den Regionen, die vergleichsweise reich an natürlichen Bodenschätzen sind. In den Phosphatminen von Gafsa protestierten die Arbeiter bereits in den Jahren 2008 bis 2009 für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Seit dem Regimewechsel hat dort die Häufigkeit und Intensität von Streiks weiter zugenommen. Die Provinz Tataouine, die über 40 Prozent der nationalen Ölvorkommen verfügt, ist in den letzten Jahren zu einer Hochburg von Protesten gegen die existierende Marginalisierung geworden. Auch wenn die tunesische Ölproduktion im Vergleich zum Nachbarland Algerien deutlich geringer ist, entwickelte sich die im Jahr 2015 im Landesinneren gestartete Kampagne „Winou el Petrol?“ (Wo ist das Öl?) zu einem landesweiten Schlachtruf gegen die weit verbreitete Korruption und die soziale Ungleichheit im Land.
Angesichts der sozialen Lage des Landes sind die Herausforderungen für die tunesische Regierung gewaltig. Zwar liegt das Land mit Hinblick auf seine sozialpolitischen Indikatoren weiterhin vor seinen nordafrikanischen Nachbarn, jedoch ergibt sich aus den vielfach enttäuschten Erwartungen der Tunesier nach dem Regimewechsel eine besonders brisante Lage. Zunächst hatte sich im Zuge der Revolution die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechtert, mit verheerenden Folgen für den Staatshaushalt. Dieser wird durch die während des Ben Ali Regimes angehäuften Schulden noch weiter belastet: 2017 mussten mit einem Fünftel des Haushaltes Verpflichtungen an ausländische Gläubiger getilgt werden. Diese Summen fehlten somit bei der Bekämpfung der gegenwärtigen sozialen Krise.
Dennoch ist das Problem der weiterhin existierenden Ungleichheiten nicht allein fiskalischer Natur, sondern hängt eng mit den politischen Entwicklungen nach dem Jahr 2011 zusammen. So setzten die politischen Parteien im Kampf um Stimmen und Unterstützung zunächst auf ideologische Polarisierung, anstatt sich sozialen Fragen zuzuwenden, was zwei Jahre nach dem Regimewechsel im Jahr 2013 zu einer ersten Regierungskrise führte. Doch auch die im Anschluss ausgehandelte Konsenspolitik wirkte sich insgesamt negativ auf die Erarbeitung nachhaltiger sozialer Strategien aus. Der Mangel an Übereinstimmung zwischen den führenden Parteien in Bezug auf sozial- und wirtschaftspolitische Fragen bedingte eine Fortsetzung des Status quo. Faktisch wurde deswegen die parteiübergreifende Zusammenarbeit auf eine Mischung aus Altbewährtem und einer neoliberalen Sparpolitik reduziert, welche weit in die Zeit Ben Alis zurückgeht und die bestehenden sozialen Ungleichheiten weiter verschärfte.
Aufgrund fehlender neuer politischer Strategien wurde Forderungen nach besserer sozialer Absicherung zunächst mit altbewährten Maßnahmen begegnet. So entstand nach der Revolution eine hohe Anzahl von neuen Stellen im öffentlichen Dienst, der neben einem garantierten Einkommen auch Zugang zur staatlichen Sozialversicherung gewährleistete. Zudem wurden auf Druck der mächtigen Gewerkschaft Union Générale Tunesienne du Travail (UGTT), die eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung Tunesiens spielte, die Gehälter im öffentlichen Sektor angehoben. Zwischen 2011 und 2016 stiegen deswegen die Staatsausgaben für Löhne von umgerechnet 3,0 auf 5,3 Milliarden Euro.
Diese Vermischung von Sozial- und Beschäftigungspolitik geht nicht nur an den eigentlichen Bedürfnissen der staatlichen Verwaltung vorbei, sondern ist auch im Hinblick auf die Beseitigung der sozialen Ungleichheiten ineffizient. Allerdings hatte die Regierung in den Jahren seit dem Regimewechsel keine politischen Alternativen, um lautstarken Forderungen nach angemessener Beschäftigung zu begegnen. Nicht nur ist das wirtschaftliche Wachstum seit dem Jahr 2010 eingebrochen, sondern darüber hinaus hat die Bereitschaft des Privatsektors, Arbeitsplätze zu schaffen, innerhalb der demokratischen Ordnung deutlich abgenommen. Unter dem Ben Ali Regime waren Geschäftsleute aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Regime und der engen Verflechtung mit der ehemaligen Einheitspartei RCD deutlich responsiver gegenüber politischen Forderungen, neue Arbeitsplätze bereit zu stellen (Meddeb 2015).
Zudem wurden in der ersten Phase der demokratischen Transition die Subventionen für Grundnahrungsmittel weiter erhöht. Obwohl eine solche Subventionspolitik ebenfalls ungeeignet ist, soziale Ungleichheiten zu bekämpfen – die gesamte Bevölkerung profitiert davon gleichermaßen und nicht nur die benachteiligten Bevölkerungsgruppen –, wäre ihr grundsätzlicher Abbau vor dem Hintergrund fehlender alternativer Sicherungsmechanismen äußerst problematisch. Denn während die Gewerkschaft UGGT die von ihr vertretenen Beschäftigten vor weiterem Abbau von staatlichen Leistungen zu schützen vermag, haben breite Teile der Bevölkerung keine entsprechende Interessenvertretung. Damit stellen Subventionen für Grundnahrungsmittel, Heizöl und Kraftstoff für viele arme und informell beschäftigte Tunesier die einzige real spürbare Verbindung zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen dar.
Die nach dem Jahr 2011 betriebene Beschäftigungs- und Subventionspolitik gerät mit der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und internationalen Gebern eingeforderte Sparpolitik zunehmend unter Druck. Die tunesische Regierung sicherte im Gegenzug für die 2013 und 2016 mit dem IWF vereinbarten Finanzhilfen Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor, Subventionsabbau und eine Reform und gegebenenfalls Privatisierung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe zu. Darüber hinaus forderte die EU eine Liberalisierung des Außenhandels und die Weltbank eine Öffnung des nationalen Marktes für transnationale Konzerne. Auch wenn die Maßnahmen zunächst nur zögerlich umgesetzt wurden, stiegen in einer bereits prekären Wirtschaftslage die Preise für Transport, Wasser, Energie und viele Verbrauchsgüter an, was sich gepaart mit der steigenden Inflationsrate negativ auf die Lebenshaltungskosten breiter Bevölkerungsschichten auswirkte.
Obwohl sowohl die Weltbank als auch der IWF grundsätzlich eine Steigerung der Sozialausgaben und eine Ausweitung des Sozialversicherungsnetzes empfahlen, führten die in diesem Zusammenhang getätigten Maßnahmen nicht zu einer umfassenden Reform, sondern – wie bereits in der Vergangenheit – zu bestenfalls punktuellen Verbesserungen, um sozialen Protesten die Spitze zu nehmen. So reagierte beispielsweise Sozialminister Mohammed Trabelsi im Januar 2018 auf gewaltsame Massenproteste in mehreren tunesischen Städten, die sich gegen die Subventionskürzungen und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer richteten, mit der Bereitstellung von Sozialleistungen in Höhe von umgerechnet 23,0 Millionen Euro für etwa 120.000 benachteiligte Familien (L’Express 2018). Angesichts der allgemeinen Preissteigerungen stellten diese Hilfen lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein dar und änderten nichts an der strukturellen Schieflage innerhalb des tunesischen Sozialsystems.
Die hohe Arbeitslosigkeit und die sich permanent vergrößernde Schattenwirtschaft stellen zwei zentrale Probleme bei der Ausweitung und Vereinheitlichung des gesetzlichen Sozialversicherungssystems dar. Zwischen 2010 und 2017 stieg die Arbeitslosigkeit von 13,0 auf ca. 15,0 Prozent an, wobei die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen sogar ein Niveau von 36,0 Prozent erreicht hat. Parallel dazu haben informelle Beschäftigungsformen zugenommen. Einer Studie des tunesischen Zentrums für sozialwissenschaftliche Forschung und Studien (CRES) und der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) zufolge sank der Anteil der informell Beschäftigten zwischen 2005-2010 von 34,0 Prozent auf 28,0 Prozent, um zwischen 2011 und 2015 wieder auf 32,0 Prozent anzusteigen. In privaten Unternehmen lag dieser Anteil sogar bei 43,0 Prozent. Bei einer Gesamtbevölkerung von 11,5 Millionen und insgesamt 3,4 Millionen Beschäftigten sind damit über eine Million Tunesier informell beschäftigt (CRES und AfDB 2016).
Neben den finanziellen Einbußen, welche die Weltbank für das Jahr 2013 auf etwa 1,2 Milliarden USD und damit 7,0 Prozent der jährlichen Steuereinnahmen schätzte (Ayadi et al. 2013), versetzt informelle Beschäftigung viele Tunesier in eine prekäre Situation. So haben viele der Betroffenen keinen Zugang zu rechtlicher Sicherung und Gesundheitsversorgung bei gleichzeitig hohen Risiken am Arbeitsplatz, insbesondere in zentralen Wirtschaftszweigen wie der Landwirtschaft und dem Baugewerbe. Laut oben genannter Studie sind im formalen privaten Sektor (ohne Agrarwirtschaft) nur 76,5 Prozent der Angestellten tatsächlich formal beschäftigt und damit sozialversichert. Im landwirtschaftlichen Sektor sind es sogar nur 43,6 Prozent (CRES und AfDB 2016). Auch deshalb drängen viele Arbeitssuchende in den öffentlichen Sektor, der zwar nicht unbedingt hohe Gehälter, aber ein höheres Maß an sozialer Absicherung und Arbeitsplatzsicherheit verspricht. Eine stärkere Formalisierung von Beschäftigungsverhältnissen würde die Anzahl an Beitragszahlern im staatlichen Sozial- und Gesundheitssystem erhöhen und diese Beschäftigten zudem besser gegen Arbeitsplatzverlust schützen. In der aktuellen Akteurs- und Machtkonstellation zwischen politischen Eliten, Unternehmerschaft und der UGTT lässt sich solch eine Änderung allerdings nur schwer realisieren.
Wie in vielen anderen Kontexten im globalen Süden fehlt es in Tunesien an positiven Anreizen sowie Sanktionsmechanismen, um formelle und damit sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen. Einerseits hat die tunesische Regierung bislang kaum Möglichkeiten, die durch eine stärkere Formalisierung des Arbeitsmarktes entstehenden Kosten gleichmäßig zu verteilen. So hat der traditionelle autoritär-korporatistische Sozialpakt mit Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbänden durch den demokratischen Übergang an Bedeutung verloren, während neue demokratische Formen von Sozialpartnerschaft noch nicht fest institutionalisiert sind. Andererseits ist im gegenwärtigen politischen Kontext Tunesiens, der von neoliberaler Sparpolitik und sozialen Protesten geprägt ist, völlig unklar, wie das Kräfteverhältnis der drei Sozialpartner künftig aussehen wird: Die UGTT sieht ihre traditionelle Vormachtstellung durch die fortschreitende Flexibilisierung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes bedroht und kämpft derzeit in erster Linie um die Beibehaltung bereits erreichter Standards für ihre Klientel im segmentierten Wohlfahrtsstaat; die politischen Parteien tun sich angesichts der internen politischen Dauerkrise schwer, organische Beziehungen zu den Sozialpartnern aufzubauen und ein für alle relevanten Akteursgruppen bindendes Regelsystem einzurichten; schließlich haben öffentliche wie private Unternehmen und ihre Verbände ein nur geringes Interesse an einer institutionellen Stärkung von Gewerkschaften, während sie von der aktuellen wirtschaftspolitischen Ausrichtung am meisten profitieren. Ohne eine erfolgreiche Sozialpartnerschaft werden sich alle zukünftigen Bemühungen zur Eindämmung des informellen Sektors als allenfalls halbherzig herausstellen.
Die Sprengkraft der sozialen Frage für die junge tunesische Demokratie ist offensichtlich. So stellen die geringen Umverteilungskapazitäten des tunesischen Staates ein wachsendes Legitimitätsproblem dar (Vattenhauer und Weipert-Fenner 2017). Seit dem Jahr 2011 spiegelt sich dies in einem sinkenden Vertrauen in die politischen Parteien und einer abnehmenden Wahlbeteiligung wider. Nahmen im Jahr 2014 noch 69,0 Prozent der registrierten Wähler an den Parlamentswahlen teil, waren es bei den Kommunalwahlen im Jahr 2018 nur noch 35,6 Prozent (ISIE 2019). Zudem wurden die großen politischen Partien dafür bestraft, dass sie nichts gegen die sozialen Missstände unternommen hatten. Insgesamt setzten sich im Mai 2018 parteiunabhängige Kandidaten mit knapp 33,0 Prozent der Stimmen vor den Regierungsparteien Nidaa Tounis und Ennahda, die jeweils 28,6 bzw. 22,2 Prozent erhielten, durch. Schließlich hat die Anzahl an Demonstrationen und Streiks in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Dem Tunesischen Sozialobservatorium (OST) zufolge stieg die Anzahl der sozialen Proteste zwischen 2015 und 2017 von 4416 auf 10452 pro Jahr an. Soziale Ungleichheit und Missstände im Gesundheitsbereich bildeten hier nach Streiks im öffentlichen Sektor den wichtigsten Protestgrund (Observatoire Social Tunesien 2018).
Die Herausforderung für die tunesischen politischen Parteien liegt deswegen in den kommenden Jahren darin, eine Balance zwischen den von innen und außen eingeforderten wirtschaftlichen Reformen einerseits und den gesellschaftlichen Forderungen im Land nach sozialer Gerechtigkeit andererseits herzustellen. Bislang wurden wirtschaftliche Erwägungen wie Wachstumsförderung und Ausgabenkürzungen auf Kosten sozialer Reformen bevorzugt. Zwar griffen einzelne Kandidaten von Nidaa Tounes und Ennahda sozioökonomische Forderungen der Protestierenden im Wahlkampfjahr 2014 auf, jedoch ohne diese im Anschluss systematisch innerhalb des politischen Systems zu vertreten. Stattdessen werden soziale Proteste zunehmend als in ihren Forderungen unrealistisch und die demokratische Transition gefährdend dargestellt. Sollten jedoch die etablierten tunesischen Parteien die Warnzeichen der vergangenen Kommunalwahlen und den Anstieg der sozialen Proteste nicht ernst nehmen, könnte die anhaltende Frustration innerhalb der tunesischen Bevölkerung antidemokratischen Kräften, wie der kürzlich verbotenen islamistischen Hizb Ettahrir oder radikal-salafistischen Gruppen, in die Hände spielen.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise Tunesiens ist daher zu erwarten, dass Fragen von Umverteilung und gesellschaftlichem Zusammenhalt stärker in den Mittelpunkt der für November 2019 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen rücken. In diesem Kontext bietet die Erosion des nationalen Konsenses, die im vergangenen Jahr durch die Spaltung der Regierungspartei Nidaa Tounes ausgelöst wurde, eine gewisse Chance: Der Kampf um Wählerstimmen könnte die großen tunesischen Parteien dazu zwingen, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Profile zu schärfen, um sich auf die Forderungen und Präferenzen ihrer Wählerschaft zurückzubesinnen.
Demgegenüber steht jedoch die Gefahr erneuter kategorischer ideologischer Polarisierung zwischen den beiden Blöcken der säkularen und islamistischen Parteien, welche schon einmal zwischen 2012 und 2013 die tunesische Politik lähmte. So äußerte der Staatspräsident Beji Caid Essesbi kürzlich den Verdacht, Ennahda könnte mit den politischen Morden aus dem Jahr 2013 in Verbindung stehen. Zudem zeigt sich in den innerelitären Machtkämpfen zwischen den Anhängern von Essebsi und seinem Premierminister Youssef Chahed, der jüngst Nidaa Tounes verließ und mit Yaha Tounes eine eigene Partei gründete, eine neue Tendenz zur Fragmentierung der tunesischen Politik, die nicht auf inhaltliche Auseinandersetzung, sondern Personalisierung zurückzuführen ist. Mit der Reproduktion von klientelistischen Arrangements und Patronagenetzwerken wird allerdings die Herausbildung einer ideen- und werteorientierten Politik verhindert, die für die Formulierung einer Sozialpolitik unerlässlich ist, welche auf die Beseitigung von sozialen Ungleichheiten ausgerichtet ist.
In Tunesien sind eine nachhaltige und vor allem erfolgreiche demokratische Transition und der Kampf gegen extremistische Gruppierungen unmittelbar mit der sozialen Frage verknüpft. Daher liegt eine soziale Stabilisierung Tunesiens auch im Interesse der internationalen Geber. Dies verlangt eine sozialpolitisch verträgliche Neuausrichtung in der Partnerschaftsgestaltung, einschließlich der Abkehr von neoliberalen Politikempfehlungen wie Sparpolitik, Privatisierung und weiterer wirtschaftlicher Liberalisierung. Stattdessen müssten internationale Geldgeber, einschließlich des IWF, weichere Konditionen bei der Vergabe von Finanzhilfen anlegen, damit durch die Entwicklung Tunesiens im Vergleich zum Rest der Länder des Arabischen Frühlings eine Demokratiedividende sichtbar wird.
Als Alternative zu wirtschafts- und fiskalpolitischen Bedingungen empfiehlt es sich in dieser entscheidenden Phase der demokratischen Transition, das partnerschaftliche Engagement in erster Linie auf politisch-institutionelle Konditionen zu beschränken, welche sich auf die Einhaltung demokratischer Standards konzentrieren. Grundsätzlich ist die Wichtigkeit wirtschaftspolitischer Erfolge für die Stabilisierung Tunesiens nicht von der Hand zu weisen, sollte aber hinsichtlich der Geberkonditionalitäten aktuell nur eine untergeordnete Rolle spielen. Für den konkreten Fall der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2019 ist es zum Beispiel denkbar, direkte Budgethilfen und Entschuldungsmaßnahmen an die Qualität und Integrität des Wahlprozesses zu binden. So wäre ein wichtiger demokratieförderlicher Demonstrationseffekt innerhalb der tunesischen Bevölkerung und für die regionale Nachbarschaft zu erzielen.
Über die Wahlen vom Herbst 2019 hinausgehend wird entscheidend sein, ob es gelingt, die zunehmende Informalisierung der tunesischen Wirtschaft einzuhegen und das öffentliche Sozialwesen auszubauen. Auch hier sind innovative Strategien und Instrumente gefragt, die auf die Ausweitung formaler und damit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse ausgerichtet sind. Um den bedeutenden organisatorischen Einfluss der UGTT in der jungen Demokratie zu erhalten, die soziale Schieflage zu entschärfen und damit die Legitimität politischer Institutionen weiter zu stärken, sind Maßnahmen folgender Art denkbar: der Einsatz direkter finanzieller Anreize für tunesische Unternehmer, formale Beschäftigung zu schaffen; die Förderung von Direktinvestitionen europäischer und deutscher Unternehmen in Bereichen, wo formale Arbeitsplätze entstehen; die Knüpfung von Kooperationen mit europäischen Gebern und joint ventures mit europäischen Firmen an die Bedingung formeller Beschäftigung; und schließlich eine sichtbare Ausweitung einer durch europäische Partner unterstützten Investition in Bereichen der beruflichen Bildung und Weiterbildung. Unter diesen Rahmenbedingungen wäre es möglich, die staatliche Sozial- und Gesundheitsversicherung auszuweiten, ohne die bestehenden industriellen Beziehungen und die in der Region einzigartige Chance auf demokratische Sozialpartnerschaft zusätzlich in Mitleidenschaft zu ziehen.
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