GIGA Focus Nahost
Nummer 4 | 2023 | ISSN: 1862-3611
Nach dem arabischen Frühling entwickelte sich Tunesien zur einzigen arabischen Demokratie, erfuhr jedoch unter Präsident Kais Saied eine Autokratisierung. Saied galt bei seiner Wahl als Hoffnungsträger und Alternative zum Establishment. Ohne eigene Machtbasis vertrat er ein Antikorruptionsprofil, entmachtete aber im Juli 2021 in einem Putsch das Parlament und hob die Gewaltenteilung auf.
Kais Saied wurde von marginalisierten und desillusionierten Bevölkerungsschichten gewählt, nachdem die Regierungen der letzten zehn Jahre keine entscheidenden sozial- und wirtschaftspolitischen Fortschritte vorweisen konnten. Er versprach eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik sowie einen entschlossenen Kampf gegen die Korruption.
Saieds zentrales Interesse ist die dauerhafte Zerschlagung der bestehenden Machtzentren. Dies wird flankiert von Repressionsmaßnahmen gegen Politikerinnen und Politiker der Ennahda-Partei, Medienschaffende, Juristinnen und Juristen sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Dabei ist fraglich, inwiefern die Bevölkerung von dem gegenwärtigen Elitenumbau profitiert.
Die rasche Autokratisierung der tunesischen Institutionen ist begleitet von kompromisslosen populistischen Narrativen. Als Sündenböcke beschuldigte Saied im Februar 2023 afrikanische Migrantinnen und Migranten und löste eine rassistische Verfolgungswelle aus.
Einige politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen protestieren gegen die Autokratisierung, sind aber untereinander sowie intern gespalten. Dies ist ein Resultat der erfolgreichen Polarisierung durch den Präsidenten.
Europäische Partner sollten auf der Wiedereinführung demokratischer Prinzipien bestehen und prodemokratische Aktivisten stärken. Zielführend wäre auch, Initiativen für alternative Lösungsmodelle für die sozioökonomischen Herausforderungen Tunesiens zu unterstützen. Solche lokalen Debatten müssen ernst genommen werden, um auf Augenhöhe die bestmöglichen Optionen für Tunesien zu entwickeln.
Tunesien war nach dem sogenannten Arabischen Frühling im Jahr 2011 das erste arabische Land, in dem der Präsident gestürzt wurde, und das mit mehreren friedlichen Machtwechseln auch zur ersten arabischen Demokratie wurde. In freien Wahlen konnten die Tunesierinnen und Tunesier zwischen den Jahren 2014 und 2019 ihre Volksvertretenden und den Präsidenten bestimmen. Dank der Verfassung aus dem Jahr 2014 machte Tunesien den größten Sprung in Indizes für Demokratie und Freiheiten weltweit. Jedoch stellt sich die Situation im Jahr 2023 ernüchternd dar: viele der Errungenschaften scheinen sich mit der Präsidentschaft von Kais Saied und der von ihm beschleunigten Autokratisierung in Luft aufgelöst zu haben. Nicht nur internationale Beobachterinnen und Beobachter zeigen sich alarmiert angesichts der zunehmenden Machtkonzentration beim Präsidenten, der Verhaftung von Medienschaffenden und Oppositionellen, rassistischen Diskursen und des Rückgriffs auf Verschwörungsmythen, um seine Gegnerschaft politisch zu schwächen.
Im Unterschied zu anderen Ländern mit neu gewählten Populisten an der Macht waren die noch jungen demokratischen Strukturen in Tunesien nicht ausreichend konsolidiert, um Saieds Angriff zu widerstehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einer der wichtigsten ist das mangelnde Vertrauen der tunesischen Bürgerinnen und Bürger in die demokratischen Institutionen und deren Vertretende, welche breite Teile der Bevölkerung und deren Belange nicht zu repräsentieren vermochten. Weit verbreitet ist die Frustration über die als nicht bürgernah empfundene Wirtschaftspolitik, die Armut und sozioökonomische Ungleichheiten gegenüber der Ben-Ali-Ära noch verstärkte und mit der sich Politikerinnen und Politiker in der demokratischen Phase, insbesondere auch in der islamischen Ennahda-Partei, unbeliebt gemacht hatten (Thyen 2019). Obwohl in einschlägigen Indizes die Demokratiewerte stiegen, blieb die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen, darunter Zugang zu Bildung und Gesundheit, über das vergangene Jahrzehnt hinweg nahezu unverändert. Auch an der vergleichsweise hohen sozioökonomischen Exklusion der ländlichen Bevölkerung, die einer der Hauptgründe für die Massenaufstände im Winter 2010/2011 war, änderte sich nichts (vgl. Abbildung 1). Gerade diese sozioökonomische Stagnation sorgt dafür, dass Saieds Reformankündigungen in breiten Teilen der tunesischen Bevölkerung durchaus Unterstützung finden, wohingegen sie international als problematisch wahrgenommen werden.
Kais Saied präsentierte sich in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2019 als Hoffnungsträger vernachlässigter Bevölkerungsschichten und Alternative zum als korrupt oder inkompetent wahrgenommenen Establishment im Parlament, in Ministerien und der Wirtschaft. Der vormalige Professor für Verfassungsrecht galt als Outsider und hatte bereits im Jahr 2014 an der Erarbeitung der ersten Verfassung nach der Demokratisierung mitgewirkt. Im Vergleich zu seinem Gegenkandidaten Nabil Karoui, der problematische Verbindungen zu politischen und ökonomischen Eliten aufwies und wegen Geldwäsche juristisch belangt und sogar inhaftiert wurde, galt Saied in der Stichwahl vom 13. Oktober 2019 als der glaubwürdigere Kandidat. Sein Wahlkampf war vom direkten Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern geprägt. Dazu vertrat er keine politische Partei, sondern etablierte sich als Mann der „kleinen Leute“. Ohne eigene institutionelle Machtbasis überzeugte sein Law-and-Order- und Antikorruptionsprofil die Mehrheit der Wählerschaft. Er führte die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in einem zersplitterten Kandidatenfeld mit 18,4 Prozent an und gewann die zweite Runde deutlich mit 72,7 Prozent (Nafti 2022). Im Jahr 2020 trat Saied sein Amt an, während einer durch die Corona-Pandemie verschärften wirtschaftlichen Lage.
Die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der sozioökonomischen Misere, aber auch mit Polizeigewalt und der unzureichenden Pandemiepolitik, entlud sich in monatelangen Protesten. Daraufhin suspendierte Kais Saied im Juli 2021 das Parlament und entmachtete so in einem Putsch aus der Mitte des politischen Systems die gewählte Volksvertretung. Seitdem griff er alle Institutionen an und riss Kompetenzen an sich. Dies kulminierte in einer neuen Verfassung, die im Jahr 2022 in einem Volksentscheid mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde, wenn auch bei sehr geringer Wahlbeteiligung. Der Text wich massiv von dem Entwurf ab, den die hierfür eingerichtete Kommission zuvor vorgeschlagen hatte. Die neue Verfassung machte viele Errungenschaften der Transition zunichte. Die Gewaltenteilung ist faktisch nicht mehr gegeben, und das Parlament wurde in seinen Kompetenzen beschnitten. Im Demokratieindex von Freedom House wurde Tunesien herabgestuft von frei auf teilweise frei, mit stetig sinkender Tendenz (Freedom House 2023).
Ein schon vor Saieds Präsidentschaft bestehendes Problem war, dass das in der Verfassung von 2014 vorgesehene Oberste Gericht nie eingesetzt wurde. Diese politische und verfassungsrechtliche Lücke machte er sich mit seiner Machtausweitung zunutze. Um auch in Zukunft nicht juristisch in seinem Herrschaftsanspruch eingeschränkt zu werden, berief Saied einen neuen Richterrat ein, dessen Mitglieder von ihm selbst ernannt wurden und somit nicht unabhängig agieren können. In einem sogar unter Ben Ali nicht dagewesenen Manöver entließ er im Sommer 2022 unter fadenscheinigen Vorwänden 57 unliebsame Richterinnen und Richter aus dem Dienst. Obwohl ein Gericht die Entlassungen für unwirksam erklärte, ermittelt das Justizministerium weiterhin gegen sie und ließ sie ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen (Boukhayatia 2023). Seit dieser autokratischen Disziplinierung unterliegt die Justiz völlig der Kontrolle des Präsidenten.
Im Zuge der zunehmenden Repression sind die bis vor einigen Jahren noch lebhaften medialen Debatten über die Zukunft des Landes erstarrt, gefangen zwischen Selbstzensur und der überproportionalen Präsenz präsidentennaher Medienschaffender insbesondere im Rundfunk. Zwischen den Jahren 2021 und 2023 sank Tunesien in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen von Platz 73 auf Platz 121 (RSF 2023). Grund hierfür ist unter anderem ein neues Gesetz zur Cyberkriminalität, das Saied im Jahr 2022 als Dekret zur Verfolgung von „Fake News“ erließ und deren Definition mit Absicht sehr vage gehalten ist. Die Verbreitung von „Gerüchten“ oder Dokumenten, die die „öffentliche Sicherheit“ oder „nationale Verteidigung“ bedrohen oder zu Angst oder Hass führen können, wurde verboten. Diese Gummiparagraphen ermöglichen die Strafverfolgung von Dissidenten und in noch höherem Maße auch von Beamten. Das Dekret erlaubt die anlasslose Massenüberwachung der Bevölkerung und sieht bei Verstößen hohe Geldstrafen oder Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren vor (Amnesty International 2022).
Im Februar 2023 kam es schließlich zu einer Verhaftungswelle, in der über 20 Oppositionelle und Kritikerinnen und Kritiker des Präsidenten verhaftet wurden. Vorwürfe spannen von Verschwörung gegen den Staat bis zu Verleumdung und Unterstützung von Terrorismus. Die Büros der oppositionellen Ennahda-Partei und der Nationalen Rettungsfront, im Jahr 2022 im Vorfeld des Verfassungsreferendums gegründet, wurden geschlossen. Sogar der Vorsitzende der Ennahda und frühere Staatspräsident Rachid Ghannouchi wurde inhaftiert. Seitdem kommt es verstärkt zu willkürlichen Maßnahmen gegen Politikerinnen und Politiker der Ennahda-Partei, Medienschaffende, Anwältinnen und Anwälte sowie andere Aktivistinnen und Aktivisten. Zahlreiche Persönlichkeiten, die unter Ben Ali in der Opposition waren, wurden wieder ins Visier genommen und müssen sich Gerichtsprozessen stellen. Tatsächlich erinnern die vorgeschobenen Anklagepunkte und willkürlichen Festnahmen an die Taktiken des ehemaligen autokratischen Präsidenten, seine Opposition zum Schweigen zu bringen (Josua 2022). Da die Einschüchterung von Opposition und Bevölkerung meist über legale Wege erfolgt und weniger auf rohe Gewalt setzt als noch unter Ben Ali, erregt diese Art von Repression weniger sichtbaren Unmut.
Der Präsident vertritt einen dezidiert populistischen, antipluralistischen Ansatz. Unter Rückgriff auf sowohl linksalternative als auch ethnonationalistische und konservativ-religiöse Diskurse inszeniert er sich als Präsident, der erstmals seit der „Revolution“ die Bedürfnisse des Volkes über die der Elite stellt. Tatsächlich genießt Saied in seinem Ansatz eine gewisse Glaubwürdigkeit. Vor seiner Wahl zum Präsidenten bereiste er verschiedene Landesteile, um mit den Armen und Frustrierten auch abseits der großen Städte zu sprechen und ihre Belange anzuhören. Neben seinen Erfahrungen als Professor ist seine Vision von den von Hunger und Verzweiflung geprägten Unterhaltungen mit jungen, arbeitslosen und wütenden Tunesiern geprägt. Zudem sprechen seine religiös gefärbten konservativen Narrative diejenigen an, die sich in ihrer Lebensart und Orientierung wenig geschätzt bzw. ihrer Traditionen beraubt sehen.
Zentrales Ziel von Saied war und ist es, die erfolgreichen Inszenierungen von Volksnähe zur Zeit des Wahlkampfes von 2019 in ein klares politisches Programm umzumünzen. Dieses sah vor allem die dauerhafte Zerschlagung der bestehenden Machtzentren vor, darunter die politischen Parteien als Hauptakteure und das damals bestehende Parlament als Hauptort politischer Aushandlungen. Nach dem Selbstputsch und repressiven Maßnahmen gegen zunächst einzelne Akteure und Organisationen war für die strukturelle Neugestaltung des Regierungssystems die neue Verfassung zentral, die eine Systemänderung hin zu starken präsidentiellen Prärogativen vorsieht. Die Abwertung des Parlaments erfolgte neben der Schwächung seiner Kompetenzen in Form eines neuen Wahlrechts, nach dem die Abgeordneten in allgemeiner und direkter Wahl in bis zu zwei Wahlgängen gewählt werden anstatt über Parteilisten. Die Folgen dieses Umbaus sind bisweilen widersprüchlich. Einerseits ist das neue Parlament nach einem erfolgreichen Boykott der Opposition und einer Wahlbeteiligung von nur 11 Prozent gesellschaftlich unzureichend legitimiert. Andererseits kam es zu einer stärkeren Repräsentation peripherer, ländlicher Regionen und damit zu einem institutionellen Gegengewicht zu etablierten urbanen Eliten.
Die gegenwärtig dominante Strategie Saieds folgt dem Skript zahlreicher populistischer Autokraten. Er benutzt Verschwörungsmythen, zeigt neue Feinde auf, beschuldigt sie der Verschwörung gegen den Staat oder ähnliches und zieht dann Kapital aus der daraus resultierenden Polarisierung. Mit einem radikalen ethnonationalistischen Ton stellt er angebliche Abweichlerinnen und Abweichler sowie Andersdenkende als potenzielle Verräterinnen und Verräter sowie Volksfeinde dar. Dieses Muster zeigte sich auch bei den Anschuldigungen und juristischen Schritten gegen den früheren Präsidenten Rashid Ghannouchi, der als wichtigster Vertreter der Ennahda-Partei bei vielen hoch geachtet, bei anderen aber als Symbol für enttäuschte Hoffnungen nach der Transition diskreditiert ist.
Schließlich greift Saied auf rassistische Diskurse und Politiken zurück. Im Februar 2023 bezeichnete er afrikanische Migrantinnen und Migranten als „Horden illegaler Einwanderer“, die Gewalt und Kriminalität nach Tunesien brächten und die Lebensmittelpreise in die Höhe trieben. Dabei bediente er den auch in westlichen Staaten verbreiteten Verschwörungsmythos vom „großen Bevölkerungsaustausch“, dem zufolge die einheimische Bevölkerung durch Einwanderer ersetzt und somit die bestehende Kultur ausgelöscht werden sollte. Diese Rede trat eine unerwartet starke rassistische Welle im Land los. Es kam zu rassistischen Übergriffen auf migrantische Personengruppen durch sowohl Privatpersonen als auch staatliche Sicherheitskräfte, zahlreiche Afrikanerinnen und Afrikaner wurden aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt, aus ihren Jobs entlassen und harrten zu Hunderten obdachlos vor ihren Botschaften aus, um teilweise wieder in ihre Heimatländer ausgeflogen zu werden. Anfang Juli 2023 nahm Saied den gewaltsamen Tod eines tunesischen Staatsangehörigen in Sfax zum Anlass, erneut rassistische Ressentiments zu befeuern. Wieder kam es zu einer Welle gewaltsamer Übergriffe auf migrantische Personen, bis hin zu willkürlichen, teilweise mit dem Tod endenden Deportationen auch von Schwangeren und Kindern ins Grenzgebiet in der libyschen Wüste (Human Rights Watch 2023).
Ob geplant oder nicht, kann Saied durchaus politisches Kapital aus seinen Reform- und Säuberungsvorhaben ziehen. Internationale Umfragen wie das Arab Barometer und tunesische Marktforschungsinstitute zeigen eine immer noch relativ hohe Unterstützung für den Präsidenten. Nachdem die Zufriedenheit mit der Arbeit Saieds zum Zeitpunkt des Verfassungsreferendums auf einen Tiefstand von 48 Prozent sank, stieg sie im Juni 2023 wieder auf 56 Prozent an (vgl. Abbildung 2). Damit genießt er einen erheblichen Vorsprung vor potenziellen Widersachern in den kommenden Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024. Zwar sind Umfragewerte unter Bedingungen von Autokratisierung mit Vorsicht zu genießen, da viele Menschen nicht mehr wagen ihre Meinung offen kundzutun. Dennoch finden sich hier Anzeichen für den paradoxen Mechanismus, dass die Verfolgung bestimmter Personengruppen die Legitimität bei anderen Teilen der Bevölkerung steigern kann (Josua 2021).
Saieds diskursive Rahmung seines Kampfes gegen etablierte politische und ökonomische Eliten überschattet indes die eigenen wirtschaftspolitischen Misserfolge der letzten Jahre. Die tunesische Wirtschaft ist sehr krisenanfällig und bietet Schul- und Universitätsabsolventinnen und -absolventen weiterhin nicht genügend produktive Jobs. Schwaches Wirtschaftswachstum, wenig leistungsfähige Exportsektoren und daraus resultierender Druck auf den tunesischen Dinar sorgten schon vor der Corona-Pandemie dafür, dass die Lebenshaltungskosten anstiegen. Insbesondere die untere Mittelschicht war zusätzlich noch mit den Folgen der Kürzung von Energiesubventionen konfrontiert. Die landesweite Armut stieg infolge dieser Entwicklungen stark an, ein Sechstel der Bevölkerung gilt als armutsbetroffen (Afrobarometer 2023). Große Teile der Bevölkerung leiden unter Ernährungsunsicherheit sowie mangelhafter Trinkwasserversorgung und medizinischer Versorgung. Eines der drängendsten Probleme der Bevölkerung ist die Verteuerung von Lebensmittel durch den Krieg in der Ukraine, von wo ein großer Anteil der Getreideimporte Tunesiens stammte.
Es ist jedoch nicht klar, inwieweit die wirtschaftlichen Entwicklungen Saied tatsächlich schwächen. Zwar zeigen Umfragen, dass die ökonomische Lage eines der Hauptanliegen der tunesischen Bevölkerung ist. Tatsächlich ist wirtschaftlicher Erfolg – zumindest mittelfristig gesehen – keine zwingende Voraussetzung für gesellschaftliche Unterstützung. Stattdessen fährt Saied eine bislang erfolgreiche Sündenbock-Politik. Statt eine konkrete Wirtschaftspolitik zu gestalten, macht der Präsident nicht näher benannte nebulöse Eliten, internationale Akteure und private Gier für soziale Verwerfungen verantwortlich. So schob er etwa die Verantwortung für die steigenden Lebensmittelpreise auf Profithaie und Spekulanten und kündigte ein neues Gesetz zu deren Verfolgung an, anstatt sich mit den strukturellen Problemen in der Preisbildung von Grundnahrungsmitteln und Energie auf nachhaltige und sozial verträgliche Weise auseinanderzusetzen.
Trotz der hohen Staatsverschuldung lehnt Saied Kritik an seinen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen regelmäßig als externe Einmischung ab. Seit Februar 2022 führt die Regierung Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in Bezug auf ein potenzielles Hilfspaket. Der Fonds macht „tief greifende Reformen“ und Einsparungen im öffentlichen Sektor zur Bedingung. Kürzungen bei Lebensmittelsubventionen, Gesundheitsausgaben, Bildung, sozialer Sicherheit, sowie Privatisierungen staatlicher Schlüsselbetriebe scheinen derzeit unumgänglich. Insbesondere die Abschaffung der Lebensmittelsubventionen lehnt Saied jedoch bis heute öffentlich ab vor dem Hintergrund, dass sich der überwältigende Großteil der Bevölkerung für deren Erhalt ausspricht (vgl. Afrobarometer 2023). Im Februar 2023 traf er einen Nerv mit seiner Ankündigung, dass Tunesien ein starkes und unabhängiges Land sei, das seine Probleme eigenständig zu bewältigen vermöge. Wer Tunesien helfen wolle, so Saied, solle gestohlenes Geld zurückgeben und Schulden erlassen. Während finanzielle Alternativen zu einem IWF-Abkommen dünn gesät sind, erfreut sich Saieds Position, dass Tunesien sich seiner eigenen Ressourcen besinnen sollte, um dem aufziehenden Sturm zu begegnen, breiter Popularität.
An dieser Stelle offenbart sich die Logik im Vorgehen Saieds: Er bedient sich der in Tunesien starken linkspolitischen Opposition gegen neoliberale Politik und externe Einflussnahme sowie der progressiven Rhetorik der aktivistischen Szene, die nach dem Jahr 2011 viel Energie für den Entwurf alternativer Wirtschaftsmodelle, insbesondere der Sozial- und Solidarwirtschaft, aufgebracht hat. Tatsächlich positionieren sich breite Teile der Zivilgesellschaft, darunter auch etablierte Akteure wie die UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail), gegen den Austeritätsdruck des IWF und das neue IWF-Programm, das durchaus unter eigenen Widersprüchen leidet, wie etwa einer mangelnden Strategie gegen den enormen Anstieg der Auslandsverschuldung. All diese Mobilisierung kooptiert Saied, indem er beispielsweise eine eigene Programmatik von ländlicher Entwicklung um die Sociétés Communautaires herum entwirft, die eine spezifische, vom Staat abhängige Form von Gemeinschaftsökonomie darstellen. Zudem mobilisiert er gesellschaftliche Opposition gegen den ökonomischen Druck von IWF und Weltbank. Jedoch verbleiben die Vorhaben Saieds auf der rhetorischen Ebene und schlagen sich noch nicht in materiellen Politiken nieder. Fraglich ist, wie lange die Bevölkerung bereit ist, auf tatsächliche Verbesserungen ihrer Situation zu warten.
Die neuerliche Autokratisierung hat bislang keine erfolgreiche gesellschaftliche Mobilisierung hervorgebracht. Ein Blick auf die Erfolgsfaktoren der Jasminrevolution verdeutlicht die großen Unterschiede zur heutigen Situation. Nach der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi im Dezember 2010 hatten zunächst Menschen in den marginalisierten Zentralregionen Tunesiens demonstriert, bevor sich die Proteste landesweit durch Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Anwaltsverbände und zahlreiche nicht organisierte Kräfte getragen ausbreiteten. Diese Massenproteste wurden auch durch Arbeiterstreiks unterstützt, und insbesondere exzessive tödliche Gewalt durch Sicherheitskräfte war ein mobilisierender Faktor, der die Bevölkerung gegen das Regime aufbrachte. Angesichts der breiten Allianz gegen Ben Ali verweigerte der Generalstabschef seiner Regierung die Unterstützung durch das Militär und zwang den Präsidenten somit am 14. Januar 2011 zum Rücktritt.
Ein entscheidender Unterschied zu damals ist, dass Saied in den historisch marginalisierten Regionen mehr Unterstützung genießt, als dies bei Ben Ali der Fall war. Indem er die vergangenen zehn Jahre als „schwarze Dekade“ abwertet, in denen die ursprünglich ländliche „Revolution“ von den Eliten gekapert worden sei, treibt er einen Keil zwischen die damaligen milieuübergreifenden Stadt-Land-Allianzen, welche die landesweiten Proteste ermöglicht hatten. Auch zeigt er sich erfolgreich darin, politische Organisationen und die Zivilgesellschaft an der sozialen Frage zu spalten, um deren Mobilisierungspotenzial zu schwächen und so eine vereinte Oppositionsfront gegen sich zu verunmöglichen. Diese Strategie betrifft auch die Akteure im „Quartett für nationalen Dialog“, welches im Jahr 2015 für seine Rolle im Transitionsprozess den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Der Gewerkschaftsdachverband UGTT, der Industrieverband UTICA, die Menschenrechtsliga LTDH sowie die Vereinigung der Rechtsanwälte zeigten sich intern höchst unentschieden, wie sie zu Saied Stellung beziehen sollen, und hielten sich bislang mit Fundamentalkritik zurück.
Die Entwicklungen innerhalb der LTDH (Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme) sind exemplarisch: Zwar kritisierte die Organisation die Verfassungsänderung und den Angriff auf Oppositionelle, dennoch zeichnete sich unter dem Vorsitzenden Jamel Msallem eine Annäherung an den autoritären Präsidenten ab. Erst im Zuge ihrer Vorstandswahl im November 2022 fand die Liga wieder zu einer klaren Linie zurück. So setzte sich die Liste von Bassem Trifi gegen Msallem durch, welche für die Unabhängigkeit der Organisation steht. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass in der Mitgliederschaft durchaus weiter Sympathien für den Präsidenten bestehen. Die UGTT ist in einer ähnlichen Situation. Nachdem die Gewerkschaft zunächst mehrfach verkündet hatte, dass sie den 25. Juli 2021 nicht als Putsch begreift, ist sie zunehmend in Opposition zum Präsidenten getreten. Gleichzeitig hat die UGTT eine starke pro-Saied Fraktion durch personelle Überlappungen mit präsidentennahen Parteien und Bewegungen.
Die politische Opposition ist mit dem Problem konfrontiert, dass die ideologische Polarisierung der vergangenen zehn Jahre heute Allianzen zwischen den unterschiedlichen Akteuren verunmöglicht. So protestieren Anhänger der Ennahda-Partei, aber auch die Partei der säkularen Ben-Ali-Nostalgikerin Abir Moussi regelmäßig voneinander getrennt gegen Saied. Selbst im unwahrscheinlichen Falle, dass Saied zum Rücktritt gezwungen werden könnte, ist in der derzeitigen Konstellation kein Szenario denkbar, in dem eine Koalition aus den verschiedenen Kräften das Ruder auf Dauer übernimmt. Zudem zeichnet sich aktuell keine Persönlichkeit ab, die als politische Alternative eine Mehrheit bei Wahlen auf sich vereinen könnte. Insofern ist die Polarisierung der Gesellschaft auch als Mittel der Herrschaftssicherung zu sehen.
Schließlich betrifft ein weiterer wichtiger Unterschied zu den Jahren 2010-2011 die Rolle der Sicherheitskräfte. Während das Militär damals vor dem Hintergrund der landesweiten Proteste dem Präsidenten die Unterstützung verweigerte, gab es im Juli 2021 dem präsidentiellen Putsch seine stillschweigende Zustimmung, indem vor dem Parlament ein Panzer platziert wurde, um dessen Suspendierung auch physisch zu verdeutlichen. Auch die Polizei gewährt Saied Rückendeckung, der seinerseits die Privilegien des Sicherheitsapparates erhält und sich über exzessive Fälle von Polizeigewalt ausschweigt. Als Innenminister wurde im März 2023 Kamal Feki ernannt, der als Gouverneur von Tunis bereits für rigide Einschränkungen der Versammlungsfreiheit berüchtigt war und unter dem die Unterdrückung kritischer Stimmen weiter zugenommen hat. Es wäre nicht auszuschließen, dass das Militär Saied – ähnlich wie Ben Ali – bei sinkender Popularität die Unterstützung entzieht. Für die Rückkehr zu einer demokratischen Ordnung müsste es jedoch zu einer erneuten, nachhaltigen Überwindung der vom Präsidenten geförderten gesellschaftlichen und politischen Spaltungen kommen.
Bereits zwei Jahre nach dem Coup hat die Politik Saieds schon große Schäden am tunesischen Staat und den politischen Institutionen angerichtet. Entgegen seinen Versprechen ist der Staat immer weniger in der Lage, seinen Bürgerinnen und Bürgern grundlegende Dienstleistungen zu gewähren. Auch wenn der Präsident zum heutigen Zeitpunkt eine gewisse Popularität genießt, ist fragwürdig, inwiefern insbesondere die marginalisierten Bevölkerungsgruppen tatsächlich von dem gegenwärtigen Elitenumbau profitieren. Sollten ihre Hoffnungen enttäuscht werden, könnte dies zu erneuten Unruhen führen, zusätzlich zu massivem Migrationsdruck. Hierbei spielt die EU eine wenig hilfreiche Rolle, da Migrationsbekämpfung als Priorität die finanzielle Unterstützung für Tunesien dominiert und auch die Kooperation mit der rechtsextremen Regierung Italiens erwünscht ist, wohingegen politische Konditionalität aktuell wenig Rückhalt genießt (Werenfels 2022). Sollte es nicht gelingen, den Präsidenten von einer Rückkehr zu demokratischer Regierungsführung zu überzeugen, könnte dies schwerwiegende Folgen für das Land und seine Bevölkerung haben.
Wichtig wäre es zum jetzigen Zeitpunkt daher, finanzielle Hilfen an politische statt wirtschaftliche Konditionalitäten zu knüpfen, insbesondere die Rückkehr zu demokratischer Regierungsführung und der Einbindung der Opposition in wirtschaftliche Entscheidungen. Auch die Sicherheitskräfte müssten davon überzeugt werden, dass eine Rückkehr zur Demokratie langfristig für sie von Vorteil ist. In der Zwischenzeit bleibt es zentral, zivilgesellschaftliche Organisationen angesichts ihrer bedrohten Stellung weiter zu stärken, insbesondere etablierte Strukturen wie die UGTT, das Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux und andere. Trotz der aktuellen Spaltung ist es essenziell, dass schon im Hinblick auf eine Zeit nach Saied funktionierende Netzwerke außerhalb staatlicher Institutionen bestehen.
Westliche Akteure müssen sich eingestehen, dass Saieds Popularität auch darauf beruht, dass seine Rhetorik viele tatsächlich zentrale Missstände der Gesellschaft aufgreift. Dies betrifft etwa die Wahl des Wirtschaftssystems, soziale Ungleichheit, Armut sowie externe Einflussnahme. Daher sollten europäische Partnerstaaten nicht auf Politiken setzen, die so eindeutig gegen die Interessen der Bevölkerung gehen. Tatsächlich konnten unpopuläre, von internationalen Akteuren eingeforderte Subventionsreformen auch in Tunesien bislang nur unter autokratischen Bedingungen umgesetzt werden, wodurch die Tunesierinnen und Tunesier die internationalen Partner als illegal wahrnehmen würden (Thyen und Karadag 2021). Ein gangbarer Weg besteht darin, lokale Initiativen für alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsentwürfe zu unterstützen, damit diese nicht den inhaltlichen Kooptationsbemühungen von oben ausgeliefert bleiben. Dazu gehört, nicht nur Akteure in Tunis zu fördern, sondern auch in benachteiligte Gebiete zu investieren und Stimmen außerhalb der Hauptstadt zu hören, um diese Räume nicht Saied zu überlassen.
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