GIGA Focus Asien

Geschlechtergerechtigkeit als internationale Aufgabe: Indien in der G20

Nummer 3 | 2017 | ISSN: 1862-359X


  • Frauen arbeiten auf einer Baustelle in Indien.
    © Reuters / Adnan Abidi

    Die G20-Staaten haben sich verpflichtet, den Geschlechterunterschied in der Erwerbstätigenquote deutlich zu verringern. Alle G20-Staaten, auch Indien, werden dies kaum schaffen. Denn die Disparität ist nicht Folge formaler Defizite, sondern informellen Normen und Werthaltungen geschuldet. Um dies zu ändern, braucht es Zeit und ganzheitlichere Lösungsansätze auf nationaler wie internationaler Ebene.

    • Geschlechtergerechtigkeit wird beim G20-Gipfel als zentrales Anliegen der deutschen Präsidentschaft stärker in den Fokus rücken. Bislang wurde das Thema nachrangig behandelt. Eine Zäsur stellt die Brisbane-Erklärung 2014 dar, in der sich die G20-Staaten verpflichten, die Lücke bei der Erwerbsbeteiligung zwischen Männern und Frauen bis zum Jahr 2025 um 25 Prozent zu reduzieren.

    • Die Frauenerwerbsquote stagniert jedoch in einigen Ländern oder ist – wie in Indien – sogar rückläufig. Weder wirtschaftliches Wachstum und gesetzliche Vorgaben, noch Bildung von Frauen haben die Lage verbessert. Es stellt sich daher die Frage, wie das genannte Ziel erreicht werden soll.

    • Die Regierung Modi hat eine neue Strategie entwickelt, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen, u.a. durch die Ansiedlung von Textil- und anderen verarbeitenden Industrien, die Förderung von Selbstständigkeit und beruflicher Qualifizierung.

    • Es bleibt fraglich, ob die Maßnahmen zielführend sind, ob Niedriglohn-Jobs in der Textilindustrie wirklich zu guten Jobs führen und ob Frauen so mehr gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Teilhabe gewinnen. Notwendig ist insbesondere ein Wandel diskriminierender Werthaltungen.

    Fazit

    Die G20-Staaten sind sich zumindest verbal einig, dass Geschlechtergerechtigkeit elementar für nachhaltiges und sozial gerechtes Wirtschaftswachstum ist. Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote ist dabei nur als ein Schritt in die richtige Richtung zu sehen. Deutschland sollte sich im Rahmen seiner G20-Präsidentschaft für ganzheitlichere Politikmaßnahmen einsetzen. Die EU und die G20 könnten Indien durch Öffnung von Märkten und im Einwerben von Direktinvestitionen unterstützen, um notwendige Arbeitsplätze zu schaffen.

    Die G20 und globale soziale Probleme

    Es mag etwas überraschen, wenn sich der informelle Klub der wirtschaftlich und politisch mächtigsten Länder der Erde nunmehr auch „weichen“ Themen widmet. Seit ihrem Bedeutungsaufschwung durch die Beilegung der globalen Finanzkrise 2008/2009 hat sich die G20 primär mit „harten“ Wirtschafts- und Finanzthemen befasst. In den letzten Jahren haben so zum Beispiel die weltweit steigende Vermögenskonzentration, die globale Arbeitslosigkeit (vor allem auch der Jugendlichen), schlechte Arbeitsbedingungen und zuletzt auch die Verbesserung von Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Arbeitswelt Einzug gefunden. Weniger überraschend erscheint dieser Trend, wenn man bedenkt, dass die ursprünglichen Ansätze zur Bewältigung der Finanzkrise schnell zu Themen der Finanzmarktregulierung, der Dämpfung globaler wirtschaftlicher Ungleichgewichte, der Vermeidung von Steuer- und Währungskonkurrenz, der Energie- und Klimapolitik, der Bekämpfung von Korruption und Terrorismus, der Förderung von Entwicklung, sozialer Inklusion und Verbesserung der Vermögensverteilung, führte. Da lag auch die Beschäftigung mit der weltweiten geschlechterspezifischen Diskriminierung bzw. deren Bekämpfung nicht allzu fern. Beigetragen hat dazu die Erkenntnis, dass Geschlechterungleichheit nicht nur eine Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern auch von immenser wirtschaftlicher Bedeutung ist (OECD, ILO, World Bank und IMF 2014).

    Man kann sich natürlich fragen, ob die Ausweitung der Agenda der G20 den Einfluss ihrer Aktionspläne und die Folgebereitschaft der Mitgliedsländer in Bezug auf gemeinsam erklärte Ziele wirklich gesteigert hat. Auf dem Gipfel im Jahr 2012 in Mexiko etwa gab es alleine über 50 empfohlene Einzelmaßnahmen in der Schluss­erklärung, für deren Durchführung 27 Internationale Organisationen zur Mithilfe aufgefordert wurden (Knaack und Katada 2013). Der türkische Vorschlag für den Gipfel in Antalya im Jahr 2015 enthielt 35 breite Maßnahmenbereiche, der deutsche Vorschlag für den bevorstehenden Gipfel in Hamburg enthält immerhin noch 16. Die Vermehrung der Aktionsfelder könnte positiv als eine Vorwärtsbewegung zu einer ganzheitlichen Perspektive weltweiter Entwicklung gewertet werden, aber auch negativ als eine Reaktion auf die Wirkungslosigkeit früherer, enger gefasster Empfehlungen in politischen Kernbereichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diesbezüglich sieht es in der Tat nicht sehr gut aus, insbesondere bei den weniger entwickelten Mitgliedern der G20 (Kirchner 2016). Im Hinblick auf die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit verheißt dies zunächst nichts Gutes, wenn auch Fatalismus fehl am Platze wäre.

    Im Folgenden werden zunächst die Hintergründe für den Einbezug von Geschlechtergerechtigkeit auf der G20-Ebene beleuchtet. Beispielhaft wird dann die aktuelle Situation in Indien in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen beleuchtet. Daraus werden mögliche Lösungsansätze innerhalb der G20 abgeleitet und dabei auch die Rolle Deutschlands und anderer Industriestaaten diskutiert werden.

    G20, W20 und Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit

    Die internationale Debatte zum Empowerment von Frauen und zur Geschlechtergerechtigkeit geht bereits Jahrzehnte zurück und feierte ihren ersten Erfolg in einer Konvention der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Eliminierung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW), die im Jahr 1979 verabschiedet und im Jahr 1993 auch von Indien ratifiziert wurde. Der CEDAW folgte im Jahr 1995 die Beijing-Deklaration, welche eine Reihe von Grundsätzen zur Geschlechtergleichstellung beinhaltet. Auf Ebene der Europäischen Union (2002) und der Afrikanischen Union (2005) wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter vertraglich festgehalten. In den Jahren 2015/2016 einigte sich auch die internationale Staatengemeinschaft auf die 17 sogenannten nachhaltigen Entwicklungsziele (Agenda 2030) in denen auch explizit die Gleichstellung der Geschlechter (Ziel Nummer fünf) aufgeführt und in Ziel Nummer acht eine volle und produktive Beschäftigung für alle Frauen und Männer sowie gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit bis zum Jahr 2030 gefordert wird.

    Auf G20-Ebene wurde geschlechterbezogene Ungleichheit zum ersten Mal auf dem Gipfel in Los Cabos (2012) thematisiert und die geringe soziale und wirtschaftliche Partizipation von Frauen als wesentliche Bremse wirtschaftlicher Entwicklung identifiziert. Auf dem St. Petersburger Gipfel ein Jahr später folgte die Forderung nach stärkerer finanzieller Bildung von Frauen, auch um ihr unternehmerisches Potenzial besser zu entfalten. Konkrete Zielvorgaben machte dann erstmals der Brisbane Action Plan (G20 2014), der forderte, die Lücke zwischen der Beteiligung von Männern und Frauen auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2025 um 25 Prozent zu senken. Diese Zielvorgabe wurde zwar durch die Formulierung einer „notwendigen Berücksichtigung nationaler Umstände“ etwas verwässert, im folgenden Jahr beim Gipfel in Antalya aber um die Verpflichtung zur Überwachung der Partizipationsrate von Frauen verbindlicher gestaltet. In Antalya wurde auch das Startsignal für die Women 20 (W20) gegeben. Dieser Ausschuss der G20 widmet sich der Förderung von Frauen in den Mitgliedsstaaten und konstituiert sich ausschließlich aus weiblichen Delegierten der G20-Länder.

    Die W20 tagt nunmehr regelmäßig vor den G20-Gipfeln, zuletzt in Berlin vom 24. bis 26. April 2017. Beim Gipfel in Hangzhou im September 2016 brachte der Aktionsplan genderbezogen nichts Neues, was auch daran gelegen haben könnte, dass China die Agenda eher eng halten wollte und Geschlechtergerechtigkeit keines der Hauptziele war (vgl. Biba und Holbig 2017). Zwar hat man auf dem Gipfel vereinbart, eine Vorreiterrolle hinsichtlich der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung spielen zu wollen und das eigene Handeln an den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) zu orientieren, allerdings wurde dabei Ziel Nummer fünf (Geschlechtergerechtigkeit) nicht explizit in den Vordergrund gestellt (siehe G20 2016). Nichtsdestotrotz wurde die Rolle der W20 gestärkt. Für den Gipfel in Hamburg in diesem Jahr formulierte die gastgebende Bundesregierung einen Prioritätenplan, der im Wesentlichen die Kernthemen der G20 wie wirtschaftliche Dynamisierung, Stärkung der internationalen Finanzarchitektur, des internationalen Handels und der Beschäftigung, an etwas nachgeordneter Stelle aber auch die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen bei Beschäftigung, Entlohnung und digitaler Inklusion sowie beim Zugang zu Krediten für Unternehmensgründungen thematisiert.

    Die W20 ist in ihren Darlegungen zur Förderung von Frauen sehr viel konkreter. Sie fordert etwa genderbezogene Steuereinnahmeschätzungen, Analysen und Budgetplanungen in sämtlichen Bereichen und die Erstellung von nationalen Aktionsplänen bezüglich des Brisbane-Ziels – inklusive der Überwachung der Fortschritte mit Hilfe der OECD und ILO. Auch stehen die gezielte Förderung von weiblichen Unternehmerinnen und Frauenkooperativen, die spezielle digitale Förderung von Mädchen und Frauen sowie die vollständige Schließung der geschlechterbezogenen Ausbildungs- und Entlohnungslücken auf der W20-Agenda. Schließlich fordert der Ausschuss die Beseitigung rechtlicher Barrieren für wirtschaftliches Eigentum von Frauen sowie den Kampf gegen soziale Normen, die Frauen diskriminieren, und gegen Gewalt gegenüber Frauen – Maßnahmen, die man in den G20-Aktionsplänen bis dato schmerzlich vermisst hat (Women 20 Germany 2017).

    Es ist auffällig, dass die stärkere Beteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt, bei der Vergabe von Krediten und der digitalen Inklusion von allen Aktionsplänen bisher im Lichte ihres Beitrages zu wirtschaftlichem Fortschritt vorrangig im Sinne von wirtschaftlichem Wachstum und der Steigerung der Produktivität – also rein funktional – gesehen worden ist. Nur sekundär spielte die Verringerung von sozialen Ungleichheiten und der damit verbundenen Gefahren für die gesellschaftliche Stabilität eine Rolle, und fast nie wird es als menschenrechtlicher Wert an sich propagiert. Dabei ist es primär eine Frage der Sicherung von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit, die Hälfte der Bevölkerung gleichberechtigt in allen Lebensbereichen teilhaben zu lassen. Ein Hoffnungsschimmer ist, dass die G20 in diesem Jahr verstärkt ein Augenmerk auch auf die Qualität von Beschäftigungsverhältnissen, Lohngefälle und Altersarmut von Frauen legt. Dies zeigt die Abschlusserklärung des Treffens der Arbeitsminister der G20 am 18. und 19. Mai in Bad Neuenahr (G20 2017), Aspekte also, die über den Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum hinausgehen.

    Gemischte Erfolge unter den G20-Mitgliedern

    Will man die Fortschritte bei der Berücksichtigung von Frauenrechten in der G20 bewerten, ist übertriebene Euphorie nicht angebracht: Dass man sich in Brisbane auf das feste Ziel – die Lücke in der Erwerbsbeteiligung zwischen Männern und Frauen um 25 Prozent zu schließen – überhaupt einigen konnte, ist wohl demografischen Entwicklungen in einem Teil der Mitgliedsländer geschuldet. So erwarten die EU28-Staaten sowie China, Japan, Korea und Russland in teilweise beträchtlichem Ausmaß rückläufige Erwerbsbeteiligungsquoten (mit entsprechenden Auswirkungen auf Wachstum und wirtschaftliche Dynamik), sollte die Erwerbsbeteiligungsquote von Frauen nicht gesteigert werden können (OECD, ILO, Worldbank und IMF 2014). In Deutschland z.B. prognostiziert man einen Rückgang der Erwerbsbeteiligungsquote von bis zu 10 Prozent bis zum Jahr 2025, sollte sich an der derzeitigen Situation nichts ändern. Gleichzeitig würde das Ziel, das G20-Bruttoinlandsprodukt über die nächsten fünf Jahre um 2 Prozent über den erwarteten Zuwachs hinaus zu steigern, ohne eine Steigerung der Frauenerwerbsquote kaum einzuhalten sein.

    Die Mitgliedsländer der G20 rangieren durchaus nicht auf den ersten Plätzen bei der Herstellung von Geschlechtergleichheit. Nach dem aggregierten Indikator des Global Gender Gap Report (World Economic Forum 2016) nehmen sie unter 144 Ländern, für die vollständige Datensätze vorliegen, oft nur hintere oder mittlere Rangplätze ein. Deutschland liegt mit Rang 13 vorne, wird aber von den skandinavischen Staaten und sogar ein paar Entwicklungsländern übertroffen. Saudi-Arabien liegt auf Platz 141, die Türkei, Südkorea und Japan sind ebenfalls weit abgeschlagen. Auch China, Indonesien, Indien, Brasilien und Russland befinden sich auf den hinteren Rängen. Nimmt man nur den Indikator „Wirtschaftliche Beteiligung und Chancen“ fallen die Schwellenländer noch deutlich weiter zurück, insbesondere Indien, Indonesien, Argentinien, Mexiko und Brasilien. Allerdings stehen auch Länder wie Saudi-Arabien, Türkei, Korea, Japan, Italien und Südafrika eher schlecht dar, eine glanzvolle Bilanz sieht anders aus.

    Tabelle zu Frauenerwerbsquote, Erwerbsbeteiligungslücke, und Gender Gap Indikatoren in verschiedenen Ländern.
    © OECD, ILO, World Bank und IMF 2014 und World Economic Forum 2016.
    Tab. 1 Frauenerwerbsquote, Erwerbsbeteiligungslücke, und Gender Gap Indikatoren, 2012 und 2016

    Angesichts von Indiens enormem Bevölkerungsumfang und der medialen Aufmerksamkeit für die Probleme des Landes im Genderbereich, allen voran die Gewalt gegen Frauen, werden im Folgenden exemplarisch die Situation von Frauen in Indien und die staatlichen Politikmaßnahmen beleuchtet. Anders als etwa im bevölkerungsreichen China liegen für Indien einigermaßen verlässliche Daten zu geschlechterbezogener Diskriminierung vor.

    Erwerbsbeteiligung von Frauen in Indien

    Indien hat eine noch junge und wachsende Bevölkerung und wird China in absehbarer Zeit als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. In den letzten zehn Jahren ist Indiens Bevölkerung um etwa 180 Millionen auf nunmehr etwa 1,26 Milliarden Menschen gewachsen. Dies hat zum Vorteil, dass Indien ein noch für längere Zeit wachsendes Arbeitskräftereservoir besitzt und damit einen Wettbewerbsvorteil genießt. Auf der anderen Seite kann das wachsende Arbeitskräftereservoir auch zur Bürde werden, wenn nicht ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.

    Indiens Wirtschaft hat nach dem Jahr 2000 oft ein Wachstum von 8 Prozent und mehr erreicht. Aktuell ist Indien mit 7,5 Prozent Wachstum die am stärksten wachsende G20-Volkswirtschaft. Trotz des hohen Wirtschaftswachstums ist die Zahl der Arbeitsplätze nur geringfügig gewachsen. Experten sprechen deshalb von einer Phase des „jobless growth“. Grund hierfür ist vor allem der Dienstleistungssektor, der relativ gesehen am stärksten für das Wachstum verantwortlich ist, dabei aber wenig Arbeitsplätze geschaffen hat. Außerdem sind das schwache industrielle Wachstum, der schwächelnde Agrarsektor, der globale Abschwung als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und eine zunehmende Mechanisierung der ehemals arbeitsintensiven Industrien anzuführen.

    Nach dem aktuellen Beschäftigungsbericht der indischen Regierung (Government of India 2016a) sind derzeit nur 27,4 Prozent der Frauen verglichen mit 75,5 Prozent der Männer (im Alter von 15 Jahren aufwärts) erwerbstätig. Dies entspricht einer geschlechterbezogenen Lücke von etwa 48,1 Prozentpunkten. Damit liegt Indien vor Saudi-Arabien auf dem vorletzten Platz aller G20-Länder im Hinblick auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Dazu kommt, dass im Vergleich zu Saudi-Arabien in Indien die Frauenerwerbsquote im letzten Jahrzehnt sogar rückläufig gewesen ist. Laut Berechnungen von Lahoti und Swaminathan (2016) ist die Frauenerwerbsquote (hier bezogen auf 25- bis 59-Jährige) zwischen den Jahren 1983 und 2012 um 25 Prozentpunkte gesunken.

    Wahrscheinliche Gründe für den Rückgang der Frauenerwerbsquote sind neben den längeren Bildungsverläufen von Frauen (und ihrem deshalb späteren Eintritt in den Arbeitsmarkt) auch die Zunahme der Haushaltseinkommen. Frauen sind daher nicht mehr gezwungen, ein zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften. Dies führt allerdings oft dazu, dass Frauen de facto vollständig in die Rolle der Hausfrau gedrängt werden. Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass Indiens Wachstum – im Vergleich zu China und Bangladesch – nur zu einem unwesentlichen Teil auf exportorientierter, verarbeitender Industrie, dafür aber hauptsächlich auf der Binnennachfrage basiert (ADB 2017). In ländlichen Gebieten sind Arbeitsmöglichkeiten für Frauen weggefallen, welche nicht durch neue Jobs außerhalb der Landwirtschaft kompensiert werden konnten. Darüber hinaus ist der Bedarf an Frauen aus den mittleren Bildungsschichten im Dienstleistungssektor eher gering.

    Indiens erwerbstätige Frauen arbeiten überwiegend in prekären Arbeitsverhältnissen. Die Situation hat sich durch die Zunahme informeller Beschäftigungsverhältnisse noch zugespitzt. Die meisten neu entstandenen Arbeitsplätze entfielen auf den organisierten Sektor, waren allerdings informeller Natur. Formale Beschäftigung war dagegen sogar rückläufig. Den offiziellen Angaben zufolge ist der Großteil der erwerbstätigen Frauen entweder selbstständig (42,9 Prozent) oder verdingt sich als Gelegenheitsarbeiterin (41,9 Prozent). Der Anteil der Angestellten und regulären Lohnempfänger liegt bei gerade 12,5 Prozent (siehe Tabelle 2). Etwa 74 Prozent der erwerbstätigen Frauen haben daher auch keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen (Government of India 2016a). Wie auch in den Industrieländern werden Frauen in Indien für die gleiche Arbeit durchschnittlich schlechter bezahlt. Schätzungen zufolge liegt die durchschnittliche Einkommenslücke beim Stundenlohn über 30 Prozent (ILO 2016).

    Insgesamt ist die Frauenerwerbsquote in Indien auf dem Land höher als in der Stadt und regional stark unterschiedlich ausgeprägt. In den Jahren 2009/2010 rangierte sie zwischen 10 (Bihar) und 68 Prozent (Himachal Pradesh). Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung von Frauen sind auch zwischen sozialen Gruppen zu finden. Frauen aus der Gruppe der Dalits (Unberührbaren) oder der Adivasi (Stammesbevölkerung) sind eher erwerbstätig als Frauen aus der Gruppe anderer benachteiligter Kasten und höherer Kasten (siehe Tabelle 2). Die niedrigste Erwerbsbeteiligung ist unter Frauen der muslimischen Minderheit zu finden.

    Die tief verwurzelte Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und darüber hinaus, liegt darin begründet, dass Indien nach wie vor eine von Männern dominierte Gesellschaft ist. Männer kontrollieren die politischen, wirtschaftlichen, religiösen, sozialen und kulturellen Sphären. Die die Gesellschaft dominierenden patriarchalischen Normen und Werte behindern nicht nur den Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt, sondern auch den Erfolg erwerbstätiger Frauen. Diese Normen und Werte werden oft innerhalb der Familie, der Kaste, der Gemeinschaft und der Religion weitergegeben und sogar legitimiert. Dies schlägt sich in diskriminierenden Praktiken wie zum Beispiel geschlechterspezifischen Abtreibungen, Gewalt jeglicher Art gegen Mädchen und Frauen und Geschlechterdisparitäten hinsichtlich Bildung und Gesundheit nieder (siehe Drèze und Sen 2014). So hat Indien trotz aller staatlicher Interventionsversuche noch immer ein alarmierend niedriges Geschlechterverhältnis bei Geburten, welches sich in den letzten zwei Jahrzehnten noch verschlechtert hat. Nach letzten Erhebungen kommen pro 1.000 männlicher Kinder noch immer nur 919 weibliche Kinder auf die Welt (Government of India 2016b).

    Tabelle zeigt Erwerbsbeteiligung nach Geschlecht, Ort, Beschäftigungsart, sozialer Gruppe und sozialer Absicherung in Indien.
    © Government of India 2016a.
    Tab. 2 Erwerbsbeteiligung nach Geschlecht, Ort, Beschäftigungsart, sozialer Gruppe und sozialer Absicherung in Indien (in Prozent)

    Maßnahmen der indischen Regierung

    Aufgrund seiner Bevölkerungsentwicklung steht Indien vor der Herausforderung, für seine junge und noch wachsende Bevölkerung ausreichende und gute Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Da das bisherige Wirtschaftswachstum weniger Arbeitsplätze als erhofft geschaffen hat, hat die derzeitige Regierungskoalition unter Regierungspräsident Narendra Modi bereits zu Amtsantritt im Jahr 2014 eine klare Strategie dargelegt, wie beschäftigungsintensives Wirtschaftswachstum erreicht werden soll.

    Eine der wichtigsten Maßnahmen unter dem Motto „Make in India“ hat zum Ziel, Indien zu einem globalen Produktionsstandort auszubauen. Geplant ist hierbei, bis zum Jahr 2022 den Anteil industrieller Produktion am Bruttoinlandsprodukt von 15 auf 25 Prozent zu erhöhen und dabei 100 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Insgesamt 25 Industriezweige wurden dabei speziell als Investitionsziele auserkoren und zum Teil gänzlich für ausländische Direktinvestitionen geöffnet (Neff 2015). Einer davon ist die Textil- und Kleidungsindustrie, die vor allem Frauen beschäftigt.

    Rein rechnerisch gesehen müssten allerdings insgesamt etwa 64 Millionen Jobs für Frauen geschaffen werden, um die Lücke in der Erwerbsbeteiligung zu schließen. Angesichts des derzeitigen Rückgangs der Erwerbsbeteiligungsquote von Frauen scheint dieses Ziel nicht erreichbar. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob in der Weltwirtschaft mit Indien noch ein „zweites China“ bei arbeitsintensiven Produkten Platz hat. Auch wenn absehbar ist, dass sich arbeitsintensive Produktionssparten aus China zurückziehen werden, könnte durch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung von Arbeit der Zuwachs an Arbeitsplätzen gering ausfallen. Arbeitsplätze in der Textilindustrie sind überdies meist schlecht bezahlt, tragen also kaum zum wirtschaftlichen Empowerment von Frauen bei.

    Neben dem Ziel Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie zu schaffen, unterstützt die Regierung Modi durch ihre Initiative „Start Up India“ auch Unternehmer und Unternehmerinnen durch Kredite, Steuererleichterungen und Bürokratieabbau. Gezielt und explizit werden hier neben den benachteiligen sozialen Gruppen auch Frauen angesprochen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat zuletzt im April 2017 auf dem W20-Treffen in Berlin gefordert, Unternehmerinnen gezielt durch Kreditvergaben zu fördern. Allerdings arbeiten in Indien viele Frauen als Kleinst- und Kleinunternehmerinnen und können sich damit gerade einmal über Wasser zu halten. Entgegen der Hoffnungen schafft der Großteil dieser Unternehmerinnen auch keine zusätzlichen Arbeitsplätze, sondern ist nur aus Mangel an Alternativen aktiv.

    Was kann die deutsche G20-Präsidentschaft tun?

    Am 1. Dezember 2016 hat Deutschland die G20-Präsidentschaft übernommen. Auf der Prioritätenliste für das Gipfeltreffen in Hamburg am 7. und 8. Juli 2017 will die Bundesregierung den Nutzen der Globalisierung steigern und breiter verteilen (G20 2017). Die identifizierten Prioritäten stellen die Stärkung der Wirtschaftskraft der Mitgliedsländer und die Nachhaltigkeit von Entwicklung ins Zentrum. Unter Nachhaltigkeit firmieren denn auch die Themen digitale Inklusion – ein besonderes Steckenpferd der Bundeskanzlerin – und eben das Empowerment von Frauen.

    Die Eingruppierung von Geschlechtergerechtigkeit in Nachhaltigkeit wird von der W20 ausdrücklich begrüßt. Die deutsche Bundesregierung hat also auf dem diesjährigen Gipfel die große Chance, Agenda und Aktionsplan maßgeblich zu beeinflussen. Ob sich ein möglicher Verhandlungserfolg auch in Verbesserungen für Frauen in praktischen Feldern niederschlagen wird, ist eine andere Frage. Schon öfter wurde darauf verwiesen, dass rechtliche Verbesserungen für Frauen oder auch die Etablierung frauenfördernder Institutionen sich nicht immer in faktischen Verbesserungen niederschlagen müssen. Dies gilt noch mehr für internationale Agenden und Kommuniqués, die keine völkerrechtliche Verbindlichkeit implizieren und keine Sanktionen vorsehen. Das ist alles bekannt. Es wäre daher zum einen ratsam, alle Maßnahmen sorgfältig zu planen und durch fachliche Expertise zu unterfüttern, um sie gezielt umsetzen zu können (Narlikar 2017). Zum anderen wäre es sinnvoll, die oft blumigen Absichtserklärungen durch überprüfbare Zielvorgaben und Zeitpläne zu ergänzen, die die Möglichkeit zu kollektiver Kritik und peer-pressure durch andere Mitgliedsstaaten eröffnen. Ein geeignetes Instrument wäre hier zum Beispiel ein Erfolgsmonitoring unter der Ägide der W20. Die Mitglieder dieses Ausschusses sollten dazu entsprechend ihrer Empfehlung Einblick in die G20-Verhandlungen und Sherpa-Treffen bekommen.

    Grundsätzlich ist das Problem an allen politischen Maßnahmen zur Gleichberechtigung, dass sie nur einzeln geplant werden und nicht das große Ganze der Geschlechterverhältnisse im Blick haben. Im Rahmen der Beschlüsse der G20-Staaten wird deutlich, dass man sich zwar auf die finanzielle und wohl bald auch digitale Inklusion von Frauen verständigen kann, es allerdings Aufgabe der einzelnen Mitgliedsstaaten bleibt, die soziale und politische Teilhabe von Frauen zu befördern. Im Vergleich zu anderen globalen Problemen wie dem Klimawandel wird Geschlechtergerechtigkeit in erster Linie als ein Problem betrachtet, welches nationaler Anstrengungen bedarf. Auch eine stärkere Einbindung des SDG-Ziels Nummer fünf auf G20-Ebene wäre deshalb wohl nicht allzu vielversprechend.

    Vor diesem Hintergrund wäre es umso wichtiger, allgemein darauf zu achten, dass die von den G20-Arbeitsministern in den Jahren 2014 und zuletzt 2017 (siehe G20 2014, G20 2017) identifizierten ganzheitlicheren Politikmaßnahmen in den einzelnen Ländern in die Tat umgesetzt werden. Diese umfassen neben lebenslangen Bildungs- und Trainingsangeboten einen Ausbau der Kinderbetreuung und der Angebote zur Pflege von Älteren, bezahlte Elternzeit, familienfreundliche Arbeitsplätze, Aufhebung legaler Beschränkungen, Bekämpfung von Diskriminierung am Arbeitsplatz, auch im Hinblick auf Bezahlung und Beförderungen, den Ausbau sozialer Absicherung (speziell auch für Beschäftigte im informellen Sektor) und die Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen. Auch hier könnte sich ein intensives Monitoring positiv auswirken.

    Zählebige, frauenfeindliche Normen und Werte, wie sie in Indien immer noch vorherrschen, wird man allerdings kaum schnell wandeln können. Man kann aber darauf vertrauen, dass wirtschaftliche Entwicklung und bessere Bildung von Frauen und zu einem gewissen Grad auch vermehrte formale Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen und ein entsprechendes Einkommen einen Wertewandel befördern. Herausragendes Beispiel hierfür ist Indiens Nachbarstaat Bangladesch, in dem das Geschlechterverhältnis bei der Geburt vollständig der biologischen Norm entspricht. Die Ursachen dieses Erfolges, eine Kombination von arbeitsintensiver Industrialisierungsstrategie (mit Schwerpunkt Bekleidung), einem damit einhergehenden größeren Angebot von Arbeitsplätzen für Frauen und dem Ausbau staatlicher Bildungsförderung für Frauen, hat die wirtschaftliche Beteiligung von Frauen innerhalb von zwei Jahrzehnten deutlich attraktiver gemacht. In der Summe hat dies dazu beigetragen, dass sich das Geschlechterverhältnis normalisiert hat. Allerdings sei einschränkend betont, dass auch in Bangladesch das Lohnniveau der Textilarbeiterinnen noch weit von einem wirklichen finanziellen Empowerment entfernt ist und Frauen noch immer stark unter diskriminierenden Normen und Werten zu leiden haben.

    Die westlichen Industriestaaten könnten diesen Prozess durch entsprechend frauenbezogene Entwicklungszusammenarbeit mit Indien (die seit dem Jahr 2008 stagniert) von außen unterstützen. Zum einen durch die Unterstützung neuer und bestehender Industrien (wie es die G20-Arbeitsminister vorschlagen), zum anderen vor allem aber auch durch Berufsbildung von Frauen für mittlere Tätigkeiten. Denn eine arbeitsintensive Industrialisierungspolitik bedarf massenhaft ausgebildeter, gerade auch weiblicher Arbeitskräfte, eben nicht nur im obersten Segment mit Hochschulbildung.

    Die Bundesrepublik Deutschland ist für solche berufsbildende Hilfestellungen gut positioniert und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unter anderem bereits im Rahmen der „Skill India“-Initiative in Indien aktiv. Weiterhin müsste man sich auf EU- und G20-Ebene auch für offene Märkte und die Ermutigung dazu passender Direktinvestitionen einsetzen, um den Erfolg dieser Strategie zu sichern. Dies könnte durch die Förderung indischer Frauenverbände ergänzt werden, vor allem aber, indem Deutschland und die EU bei der Schließung der Geschlechterlücken durch eigenes gutes Beispiel vorangehen. Grundsätzlich muss man aber eingestehen, dass von außen nur begrenzt etwas erreicht werden kann und die Hauptverantwortung für die Besserung der Zustände auf Seiten der indischen Gesellschaft selbst liegt.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Asien

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Wie man diesen Artikel zitiert

      Neff, Daniel, und Joachim Betz (2017), Geschlechtergerechtigkeit als internationale Aufgabe: Indien in der G20, GIGA Focus Asien, 3, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-52138-9


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      Dr. Daniel Neff

      Dr. Daniel Neff

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