GIGA Focus Global
Nummer 1 | 2025 | ISSN: 1862-3581
Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump, den Spannungen im Verhältnis zu China und dem Wegbrechen Russlands, wanken die drei wesentlichen Pfeiler Deutschlands außereuropäischer Beziehungen. Umso mehr brauchen Deutschland und die EU tragfähige Beziehungen in Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten. Wir skizzieren vier Trends, auf die die neue Bundesregierung reagieren muss.
Angesichts wachsender Süd-Süd-Beziehungen hat Deutschland in Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten an Bedeutung verloren. Viele Staaten und Gesellschaften im Globalen Süden eint eine historisch bedingte Skepsis gegenüber dem Westen. Auch deswegen wird eine multipolare Welt dort prinzipiell positiv bewertet. Davon profitieren Russland, China und andere nichtwestliche Staaten.
Die Anzahl von Autokratien im Globalen Süden wächst. Deutschland wird auch in Zukunft auf konstruktive Beziehungen zu vielen von ihnen angewiesen sein. Damit verbundene Risiken mindert man durch Diversifizierung. Gleichzeitig ist eine Vielzahl von Regierungen im Globalen Süden instabil. Der Kontakt zu demokratischen Kräften in außereuropäischen Weltregionen bleibt daher wichtig.
Die meisten Staaten des Globalen Südens sind nicht antiwestlich. Aber die internationale Politik wird transaktionaler. Bindende Allianzen sind die Ausnahme, lose Kooperationen die Regel.
Die internationale Ordnung fragmentiert. Dabei verlangen gerade kleine und mittelgroße Staaten im Globalen Süden nach funktionierenden multilateralen Institutionen, die nicht nur den großen Staaten einen Sitz und Stimme geben.
In einem transaktionalen internationalen Umfeld muss sich die deutsche Außenpolitik wirtschaftlich, wissenschaftlich und sicherheitspolitisch dem Globalen Süden gegenüber öffnen und Europa als Alternative zu den USA unter Trump sowie China positionieren. Gemeinsam mit Staaten im Globalen Süden sollte Deutschland multilaterale Institutionen auf globaler Ebene auch ohne die USA ausbauen.
In vielen Teilen des Globalen Südens hat der Westen seine einstige Vormachtstellung längst eingebüßt. Dabei braucht Deutschland mehr denn je Partner in Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten. Denn der geeinte Westen der Nachwendezeit ist Vergangenheit. Die Verteidigung einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ mit einer zweiten Trump-Regierung ist abwegig. Durch die Vertiefung geopolitischer Spannungen mit China, das Wegbrechen Russlands als Handelspartner, sowie die sich abzeichnenden tarifären Hindernisse im Handel mit den USA, gewinnen die Staaten des Globalen Südens zusätzlich an Bedeutung für Deutschland. Zumal längst klar ist, dass die wesentlichen globalen Probleme – vom Klimawandel zur Friedenssicherung – nicht ohne den Globalen Süden gelöst werden können. Wie kann die neue Bundesregierung außenpolitisch reagieren? Wir skizzieren vier Trends, die es zu beachten gilt.
Das Erstarken des Globalen Südens, die wachsende Bedeutung von Süd-Süd-Beziehungen (siehe Abbildung 1) und ein zunehmender Trend in Richtung einer multipolaren Welt markieren einen tief greifenden Wandel der internationalen Politik und Wirtschaft. Dieser Trend zeigt sich vor allem dann, wenn man sich einzelne Weltregionen vor Augen führt. Hier nur kursorisch einige Beispiele.
Am von Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen Konflikten geprägten Horn von Afrika haben sich die USA als Ordnungsmacht weitgehend verabschiedet. Stattdessen haben die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien und die Türkei an Einfluss gewonnen, sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch. In Äthiopien ist die Türkei mittlerweile zweitgrößter Investor nach China. Ankara hat auch seine militärische Präsenz aufgestockt und bildet lokale Sicherheitskräfte aus. Auch Saudi-Arabien und die VAE sind in der Region immer präsenter, etwa durch die Etablierung strategischer Militärbasen in Assab (Eritrea) und Berbera (Somaliland), sowie durch Investitionen in den Ausbau von Häfen und Logistikeinrichtungen. Im Sudan stehen sich die von den VAE unterstützte Bürgerkriegspartei Rapid Support Forces (RSF) und die sudanesischen Streitkräfte gegenüber, die vom Iran, sowie von Katar und Ägypten unterstützt werden. Ebenfalls im Sudan spielt auch die russische Söldnergruppe Wagner eine bedeutende Rolle. Sie hat ihre Aktivitäten in Afrika seit dem Jahr 2017 erheblich ausgeweitet und ist in mehreren Ländern des Kontinents präsent. Eine Diversifizierung einflussreicher Akteure zeigt sich auch im südlichen und westlichen Afrika. Unter dem Beifall der jeweiligen Bevölkerungen hat die einstige Vormacht Frankreich seine Truppen aus Niger, Mali, Tschad, Senegal, Côte dʼIvoire und Burkina Faso abgezogen. Im Ostkongo zerfällt die vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Friedensmission MONUSCO unter dem Druck einer von Ruanda alimentierten Miliz. Und in Mosambik verteidigen ruandische Truppen die vom französischen Konzern Total betriebenen Gasfelder gegen lokale Aufständische.
In Südostasien wiederum wetteifern vor allem chinesische und japanische Unternehmen um Infrastrukturinvestitionen. Beide Staaten haben in den letzten Jahren großflächige Handelsabkommen mit den auf Export angewiesenen südostasiatischen Staaten abgeschlossen. Derweil schottet sich die USA unter Trump handelspolitisch weiter ab. Auch sicherheitspolitisch sind die USA in Südostasien umstritten. So werden die von der US-Marine regelmäßig durchgeführten „Freedom of Navigation Operations“im Südchinesischen Meer aus der Region nicht offen unterstützt, obgleich die meisten Staaten die weit reichenden chinesischen Gebietsansprüche ebenso wenig anerkennen wie die USA. Die EU und Deutschland würdigen die geostrategische Bedeutung der Region mit eigenen Indo-Pazifik-Strategien. Jenseits von Handelsfragen spielen aber weder Brüssel noch Berlin eine zentrale Rolle. Das gilt auch für Südasien. Hier konkurrieren vor allem Indien und China um Einfluss in Bangladesch, Sri Lanka oder Nepal.
Auch in weiten Teilen des Nahen Ostens ist China mittlerweile einer der wichtigsten Handelspartner. Darüber hinaus bringt sich China immer mehr auch als sicherheitspolitischer Partner in Stellung. Das zeigen etwa die von Beijing vermittelte Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien im März 2023, die chinesische Beteiligung am Bau einer Produktionsstätte für CH-4-UAV Drohnen in Saudi-Arabien, sowie Rüstungsexporte chinesischer Wing-Loong-Drohnen nach Saudi-Arabien und in die VAE. Dabei sendet China eine deutliche Botschaft: Wir sind eine Alternative zum Westen. Kern solcher Süd-Süd-Narrative ist die Betonung, dass sich Beijing nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, keine politische Ideologie verbreiten und keinen wirtschaftlichen Druck ausüben wolle – ein Versuch, den eigenen Einfluss auch in peripheren Geografien auszubauen. Durchaus mit Erfolg: In den vergangenen Jahren hat China eigene multilaterale Plattformen zur Kooperation mit und innerhalb des Globalen Südens geschaffen. Beispiele sind das „Forum on China-Africa Cooperation“ oder das „China-Arab States Cooperation Forum“.
Etwas weniger klar ist das Bild in Lateinamerika. Wirtschaftlich gibt auch hier längst China den Ton an. Für Brasilien und Argentinien ist China der wichtigste Absatzmarkt. In den Andenstaaten Ecuador und Peru wird der derzeitige Infrastrukturboom maßgeblich durch chinesische Staatsbanken finanziert. Zudem haben sich Staaten wie Bolivien und Venezuela angesichts von US-Sanktionen gegenüber Russland und dem Iran geöffnet. Beide Staaten sind, neben China, sicherheitspolitisch und im Energiesektor engagiert. Aber es gibt auch gegenläufige Entwicklungen. So bleibt der wirtschaftliche und handelspolitische Einfluss der EU weiterhin bedeutsam und könnte durch eine Ratifizierung des im Dezember 2024 ausgehandelten Handelsabkommens zwischen der EU und den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) weiter steigen. Gleichzeitig könnte der Austritt Panamas aus der chinesischen „Belt and Road Initiative“ (BRI), unmittelbar nach dem Besuch von US-Außenminister Marco Rubio im Januar 2025, eine von den USA erzwungene Abkehr von China bedeuten. Tatsächlich galt der Panamakanal lange als Symbol für Chinas wachsende wirtschaftliche Präsenz in der Region.
Zusammengefasst bedeutet das: Süd-Süd-Kooperationsformate gewinnen immer mehr an Bedeutung, westliche Staaten jedoch verlieren relativ dazu an Attraktivität als Kooperationspartner – wirtschaftlich sowie auch sicherheitspolitisch. Derzeit spricht wenig dafür, dass sich dieser Trend umkehren könnte. Vielmehr dürfte die Wiederwahl von Donald Trump in den USA und insbesondere dessen Zollpolitik dazu beitragen, den Trend noch zu verstärken. Hinzu kommt die Auflösung von USAID, bis dato die weltgrößte Geberagentur humanitärer Hilfe, die in Krisenregionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas schmerzlich vermisst werden wird. Auch US-amerikanische Vorwürfe, Südafrikas Regierung diskriminiere weiße Farmer, und nicht zuletzt der Vorschlag Trumps, die zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen zu vertreiben, vertiefen die Kluft zwischen den USA und weiten Teilen des Globalen Südens. Der EU wiederum fehlen bislang die Mittel, um sich wirkmächtig auf der globalen Bühne als Gegenpol zu präsentieren. Die als Antwort auf die chinesische Belt and Road Initiative konzipierte Global Gateway Initiative der EU ist bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Jenseits von Handelsfragen bleibt die EU auf die Mitgliedsstaaten und ihre sehr unterschiedlichen Kapazitäten in den Bereichen Sicherheit, Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftsförderung angewiesen und kämpft zudem mit Uneinigkeit in den eigenen Reihen.
Das Erstarken von Süd-Süd-Kooperationsformaten gibt den Ländern des Globalen Südens mehr Wahlmöglichkeiten. Das heißt vor allen Dingen: Die internationale Politik im und mit dem Globalen Süden ist transaktional. Nicht die ideologische Nähe oder das politische System sind die primären Entscheidungsfaktoren bei der Wahl eines internationalen Partners. Stattdessen zählt auch für demokratische Staaten im Globalen Süden das konkrete außen- oder wirtschaftspolitische Angebot. Für ein westliches Politikverständnis mag das einen negativen Beigeschmack haben, Akteure aus dem Globalen Süden sehen darin hingegen eine strategische Kosten-Nutzen-Entscheidung. Sich nicht repräsentieren zu lassen, selbst aus einem Portfolio internationaler Partner wählen zu können und diese, im Zweifelsfall, auch gegeneinander auszuspielen, ist ein Zugewinn an Autonomie und baut Verhandlungsmasse auf. China ist nicht wegen seines politischen Systems oder gar wegen „Xi Jinpings Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter“ ein attraktiver Partner vieler Staaten in Afrika, Asien, Nahost und Lateinamerika. Vielmehr macht gerade das chinesische Versprechen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Beijing beliebt. Noch wichtiger ist aber die Strahlkraft von Chinas Aufstieg aus der Armut zur globalen Wirtschaftsmacht, zum weltweit wichtigsten Abnehmer für Rohstoffe und Agrargüter, zum Hauptexporteur günstiger Gebrauchswaren sowie zum maßgeblichen Finanzier globaler Infrastruktur. Gerade im Umgang mit China zeigt sich das Kosten-Nutzen-Denken, das transaktionaler Politik zugrunde liegt: Trotz der Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uighuren in der Provinz Xinjiang, ist China ein gern gesehener Gast bei der Organisation of Islamic Cooperation (OIC), die sich selbst als „kollektive Stimme der muslimischen Welt“ bezeichnet. Und südostasiatische Staaten bestehen darauf, strittige Fragen über Seegrenzen im Südchinesischen Meer unabhängig von ihren Handelsbeziehungen zu China zu diskutieren. Auch das Diktum des indischen Premierministers gegenüber Putin, dies sei „keine Ära des Krieges“, das nur mit viel gutem Willen als aktive Friedenspolitik gelesen werden kann, ist ein Beispiel für Transaktionalismus. Denn zeitgleich setzt Indien mehr denn je auf russisches Öl, das es seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine zu Vorzugspreisen bezieht. Während sich also im Westen mit der Verbreitung rechtspopulistischer Netzwerke und deren Priorisierung unter US-Präsident Trump eine Ideologisierung der Außenpolitik ankündigt, ist im politisch, kulturell und religiös so heterogenen Globalen Süden das Gegenteil der Fall.
Mit mehr als 70 Wahlen war das Jahr 2024 ein globales Superwahljahr. Es war auch ein Jahr der politischen Instabilität und der Regimekollapse. Viele Gesellschaften kämpfen mit Korruption, Klientelismus und einer wachsenden Kluft zwischen Politik und Bevölkerung. Auf der einen Seite gerieten im Jahr 2024 zahlreiche autokratische Machthaber in Bedrängnis. In Venezuela hat der langjährige Diktator Nicolás Maduro nach seiner umstrittenen Wiederwahl Schwierigkeiten, die wachsende Frustration im Land zu kontrollieren. Im Iran sieht sich das Regime seit den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini im Jahr 2022 zunehmend destabilisiert und inneren Machtkämpfen ausgesetzt. In Syrien fiel der langjährige Diktator Baschar al-Assad. In Myanmar steht die Militärjunta angesichts von Geländegewinnen der Rebellengruppen, von denen zumindest einige sich einem demokratischen Staat verpflichtet fühlen, zunehmend unter Druck. In Bangladesch führten Studierendenproteste zur Flucht des seit dem Jahr 2009 regierenden Ministerpräsidenten Sheikh Hasina ins benachbarte Indien. Und in Indien selbst verlor der seit dem Jahr 2014 regierende Ministerpräsident Narendra Modi seine Parlamentsmehrheit – ein Erfolg für das unter ihm geschliffene demokratische System seines Landes.
Auf der anderen Seite hat sich der Trend einer schleichenden Autokratisierung weltweit auch im vergangenen Jahr fortgesetzt (siehe Abbildung 2). Laut dem Transformationsindex 2024 der Bertelsmann Stiftung waren unter 137 untersuchten Ländern 74 Autokratien und nur 63 Demokratien – die niedrigste Anzahl seit Beginn der Aufzeichnungen zu Anfang der 2000er-Jahre. Neben bereits konsolidierten Autokratien haben sich viele „hybride Regime“ als langlebig erwiesen. Gleichzeitig wurden in vielen, bisher als vergleichsweise konsolidiert wahrgenommenen Demokratien, politische Freiheiten beschnitten und demokratische Institutionen und Prozesse ausgehöhlt. In Indien etwa hat sich unter Premierminister Narendra Modi die Marginalisierung der muslimischen Minderheit normalisiert. Und in Indonesien zeigen sich Züge einer neuen Politikdynastie, indem der Sohn des ehemaligen Präsidenten, unter dem im Jahr 2024 gewählten Nachfolger, zum Vizepräsidenten wurde. Für den bis Oktober 2024 in Mexiko regierenden Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador war die freie Presse regelmäßig Ziel verbaler Angriffe, während die Bedeutung des mexikanischen Militärs in Politik und Wirtschaft massiv anstieg.
Zudem haben sich globale Abhängigkeiten und wirtschaftliche Verflechtungen verschoben – oft zugunsten von Autokratien. Mittlerweile ist Katar einer der weltweit wichtigsten Lieferanten für Flüssigerdgas (LNG). Grüner Wasserstoff aus Saudi-Arabien und den VAE könnte zu einem zentralen künftigen Energieträger werden. Und zahlreiche staatliche Fonds aus den Golfstaaten investieren weltweit in Unternehmen, die an der Energiewende beteiligt sind – auch in Deutschland. Den globalen Markt für seltene Erden und Batteriematerialien dominiert China. Ohne diese Rohstoffe sind Elektromobilität und erneuerbare Energien kaum denkbar. Kobalt für Batterien stammt zu ca. 70 Prozent aus dem bürgerkriegsgeplagten Kongo. Die unter Präsident Recep Erdoğan nur halb-demokratische Türkei ist ein wichtiger Zulieferer für deutsche Autobauer und Baukonzerne. Kurzum: Deutschland kommt an verbindlichen Kooperationen auch mit autokratischen Regimen im Globalen Süden nicht vorbei.
Selten zuvor sah sich die Welt mit einer solchen Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert: zunehmende Spannungen zwischen Großmächten, Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika, die akute Klimakrise, stockende Fortschritte bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs), eine fragile Weltwirtschaft, Rückschläge bei den Menschenrechten sowie die Risiken neuer Technologien. Hinzu kommt der tief greifende strukturelle Wandel des internationalen Systems, getrieben vor allem durch globale Machtverschiebungen. Denn die großen internationalen Institutionen – vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die Welthandelsorganisation – sind kaum mehr handlungsfähig. An die Stelle globaler Handelsabkommen sind interregionale oder bilaterale Vereinbarungen getreten. Ein Mindestmaß an weltwirtschaftlicher Koordinierung sollen die G20 leisten – ein kaum institutionalisiertes Gipfelformat, keine schlagkräftige multilaterale Organisation. Viele Staaten stellen zunehmend nationale Interessen über globale Zusammenarbeit, lehnen internationale Verpflichtungen ab oder sind nicht gewillt, ernsthaft in internationale Institutionen zu investieren. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung der USA unter Trump, sich aus internationalen Abkommen, wie dem Pariser Klimaabkommen, zurückzuziehen, oder die Weltgesundheitsorganisation zu verlassen. Zeitgleich trägt die globale Machtverschiebung, weg vom Westen, dazu bei, dass sich viele Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft nicht angemessen in den bestehenden Institutionen repräsentiert fühlen. Tatsächlich eint die Klage über die Dominanz westlicher Staaten in den globalen Finanzinstitutionen und den Vereinten Nationen den ansonsten heterogenen Globalen Süden. Nicht nur, aber vor allem, in den sogenannten „aufstrebenden Mächten“ werden daher Forderungen laut, die internationale Institutionenlandschaft zu reformieren und Ländern des Globalen Südens mehr Einfluss zu geben. Derweil gewinnen alternative Institutionen wie die BRICS, die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) oder die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) neue Mitglieder. In den Jahren 2023 und 2024 traten Iran und Belarus der SCO bei. Den BRICS traten im Jahr 2024 Iran, Ägypten, Äthiopien und die VAE sowie im Januar 2025 auch Indonesien bei. Dies verdeutlicht nicht nur den Ansehensverlust des Westens und westlich dominierter Institutionen, sondern vor allem den Wunsch des Globalen Südens nach mehr Mitsprache. Die Folge: eine zunehmende Fragmentierung der internationalen institutionellen Landschaft. Denn auch westliche Staaten setzten zuletzt verstärkt auf minilaterale Abkommen und lose Bündnisse, allen voran die USA unter Präsident Biden. Der initiierte das Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity (IPEF), das dabei helfen sollte, befreundete Staaten in Ost- und Südostasien an sich zu binden. Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine gewann die G7 neue Bedeutung. Gegenüber China haben sich die USA, Japan, Australien und Indien als das sogenannte „Quad“ in Stellung gebracht.
Trotzdem zeigt gerade die Anzahl globaler Krisen und Spannungen: Multilateralismus ist wichtiger denn je, vor allem für den Globalen Süden. Denn ein inklusiver Multilateralismus bietet kleinen und mittleren Ländern eine Plattform, um ihre Interessen gegenüber Großmächten zu vertreten. Ohne multilaterale Strukturen werden viele dieser Länder in einer von wenigen Großmächten dominierten Weltpolitik an den Rand gedrängt. Auch für den Abbau von ungleichen Handelsstrukturen ist Multilateralismus wichtig. Multilaterale Abkommen ermöglichen besseren Marktzugang und fairere Bedingungen. Denn Multipolarität bietet zwar Chancen für eine gerechtere Verteilung globaler Macht, sie birgt jedoch zugleich Risiken in Form wachsender Konkurrenz und fehlender Koordination, bei globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Sicherheit und Wirtschaftskrisen. Ein Beispiel hierfür ist Chinas Bedeutung in der Entwicklungsfinanzierung und beim Schuldenerlass für die ärmsten Staaten weltweit. Die Frage ist also nicht, ob es Multilateralismus braucht, sondern wie dieser aussieht – und hier besteht ganz eindeutig Reformbedarf.
Die Zerfaserung deutscher Auslandsbeziehungen ist nicht mehr zeitgemäß und mindert den deutschen Einfluss. Außenpolitisch relevante Ressorts werden typischerweise über die an Koalitionsregierungen beteiligten Parteien verteilt. Das stellt sicher, dass keine Partei allein für Deutschlands Außenpolitik verantwortlich ist. Andererseits erschwert es die Abstimmung und befördert ein Denken in außenpolitischen Silos. Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bleiben wichtige Teile der deutschen Außenbeziehungen. Die Mehrheit der Staaten des Globalen Südens erreichen wir aber heute mehr denn je über wirtschaftliche Verflechtung, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch, effektive Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen sowie die geregelte Arbeitsmigration. Je koordinierter die deutsche Außenwirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturförderung, Rüstungsexportpolitik, Diplomatie, Migrationspolitik und Entwicklungszusammenarbeit sind, desto mehr Verhandlungsmacht hat Berlin international. Die ist umso wichtiger, je transaktionaler die internationale Politik ist. Institutionelle Reformen, wie beispielsweise die Etablierung eines nationalen Sicherheitsrates, der Kompetenzen bündelt, könnte Deutschlands bestehende Engagements strategisch besser in Wert setzen. Um in einer von geopolitischen Spannungen und Transaktionalismus geprägten internationalen Politik bestehen zu können und einem relativen Bedeutungsverlust Deutschlands entgegenzuwirken, muss die neue Bundesregierung zudem die enge Einbindung in die EU nutzen. Um den USA unter Trump und China Paroli bieten zu können, braucht es europäische Einigkeit in für Außenbeziehungen zentralen Fragen sowie einen starken EU-Binnenmarkt (siehe dazu Bickenbach et al. 2025). Denn nur ein starker und integrierter EU-Binnenmarkt generiert die Anziehungs- und Überzeugungskraft, die es braucht, um in einer multipolaren Welt zu bestehen. Und auch außen- und sicherheitspolitisch ist eine europäische Stimme lauter, als ein Konzert von Klein- und Mittelmächten.
Gerade kleine und mittelgroße Staaten im Globalen Süden mit begrenzten Machtressourcen verlangen nach funktionierenden multilateralen Institutionen, die nicht nur den großen Staaten einen Sitz und Stimme geben. Denn eine Oligarchie der Großmächte entspricht nicht dem Interesse der großen Mehrheit aller Staaten weltweit. Sowohl die Staaten Europas und des erweiterten Westens – die USA unter Trump ausgenommen – als auch die große Mehrzahl der Staaten des Globalen Südens teilen ein fundamentales Interesse an funktionierenden multilateralen Verfahren und einer Regulierung der internationalen Beziehungen, die über häufig folgenlose Gipfeldiplomatie hinausgeht. Das darf uns die mediale Aufmerksamkeit auf die Großmachtpolitiken der USA unter Trump, Russland unter Putin und China unter Xi nicht vergessen lassen. Insbesondere gilt es, die großen inklusiven internationale Institutionen zu bewahren und auszubauen – die Vereinten Nationen und ihre vielen Unterorganisationen zuvorderst. Anstelle abstrakter Unterstützungsbekundungen für multilaterale Zusammenarbeit braucht es konkrete Reformvorschläge und neue Abkommen, zum Beispiel im Bereich des Handels, bei der Entwicklungsfinanzierung oder der Seuchenbekämpfung, die den Staaten des Globalen Südens sichtbar mehr Mitsprache einräumen. Jede Neugestaltung des Multilateralismus sollte auf einer breiten „Koalition der Willigen“ basieren, notfalls (und realistischerweise) auch ohne die USA. Denn die Mehrheit der Staaten im Globalen Süden ist nicht antiwestlich. Ein Beispiel dafür, dass das möglich ist: Japan und andere Unterzeichner des unter US-Präsident Obama verhandelten Transpacific Partnership Agreements (TPP) hielten auch nach dem Ausscheiden der USA an dem Abkommen unter neuem Namen fest – mit positiven Folgen für den intraregionalen Handel.
Der Kalte Krieg taugt nicht als Blaupause für die Herausforderungen in einer multipolaren Welt. Weder ist der Westen heute so geeint, wie er es vor dem Jahr 1989 war, noch kommt Russland unter Putin an die globale Wirkmächtigkeit der Sowjetunion heran. Und auch der Globale Süden ist kein mit dem Westen konkurrierender Block. Das zeigt der Blick auf die großen Schwellenländer – Indien, die Türkei, Brasilien, Indonesien oder Südafrika. Diese Staaten stehen dem Westen zwar kritisch gegenüber, sind jedoch nicht antiwestlich. Sie begrüßen eine multipolare Welt und schätzen die Bedeutung multilateraler Institutionen. Diese Haltung eröffnet Deutschland und der EU zahlreiche Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Das ist aufwändig, denn eine vertiefte Zusammenarbeit mit den meisten nichtwestlichen Staaten ist bislang noch nicht eingeübt. Aber es liegt im strategischen Interesse Deutschlands anzuerkennen, dass die Welt längst multipolar ist. Zum Beispiel indem man sich gegenüber der erweiterten BRICS-Staatengruppe öffnet und aktiv nach Kooperationsmöglichkeiten sucht. Eine klare deutsche Positionierung im vermeintlichen „Systemkrieg“ zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen China und den USA, ist hingegen nicht sinnvoll. Denn, wer weiß schon, welche Art von „Deal“ US-Präsident Trump mit dem chinesischen Staatchef Xi vorschwebt? Stattdessen sollte die deutsche Bundesregierung interessengeleitet und themenspezifisch entscheiden, wo und in welcher Tiefe Kooperationen mit China – und anderen großen Autokratien – notwendig und möglich sind. Das gilt nicht zuletzt für globale Herausforderungen wie den Klimawandel, die Seuchenbekämpfung und den internationalen Handel. Jenseits von Ost- und Südostasien hat China wie die EU und Deutschland ein Interesse an Stabilität und Sicherheit. In einer zunehmend multipolaren Welt mit neuen Machtzentren, ist ein vertiefter Austausch über unterschiedliche Konzepte von Ordnung und Sicherheit essenziell. Für die deutsche Chinapolitik bedeutet das, sich nicht ausschließlich auf die Sicherung der eigenen wirtschaftlichen und technologischen Interessen zu konzentrieren, sondern auch den Dialog mit China in sicherheits- und ordnungspolitischen Fragen zu intensivieren. Dazu gehört der Mut, neue Initiativen zu wagen und Kooperationen zuzulassen.
Der Ansehensverlust der USA wächst mit jeder weiteren Ankündigung von Strafzöllen, neuen Restriktionen bei der Visavergabe, der Veröffentlichung von Plänen, Gebiete anderer Staaten zu annektieren, sowie der Aufkündigung humanitärer Hilfen. Das ist tragisch für die Betroffenen, eine ernste Bedrohung für den Welthandel und ein Geschenk für die russische und chinesische Propaganda. Sicher, noch versuchen Regierungen von Kolumbien über Kanada bis Indien die Trump-Regierung mittels Waffenimporten oder anderer öffentlich vermarktbarer Maßnahmen kurzfristig wohlgesinnt zu stimmen. Aber die langfristigen Kosten enger wirtschaftlicher, technologischer und sicherheitspolitischer Bindungen an die USA sind unübersehbar gestiegen, während die Vorteile immer schwerer zu erkennen sind (Farrell und Newman 2025). Das ist eine Chance für Europa und Deutschland, die es zu nutzen gilt, um international Partner zu gewinnen. Indem Europa gegenüber Staaten im Globalen Süden neue Handelsabkommen anregt und indem die deutsche Außenpolitik den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen, sicherheitspolitischen und diplomatischen Austausch massiv befördert. Daneben sollte die Bundesregierung den Kontakt zu demokratischen Akteuren, auch in autokratischen und hybriden Regimen im Globalen Süden, halten und ausbauen. Auch das ist von den USA nicht mehr zu erwarten. Dabei sind Diktatoren oft schwer zu berechnen und Autokratien inhärent instabil. Je mehr sie auf die Unterstützung von außen angewiesen sind – wie Syrien unter Assad gegenüber Russland – desto fragiler ist ihre politische Autorität im Inneren. Die Diversifizierung von Lieferketten, Investitionen in eigene Technologien und stärkere Partnerschaften mit demokratischen Staaten helfen die mit dem Handel mit Autokratien verbundenen Risiken zu minimieren. Die Risiken im Umgang mit Autokratien und semi-autoritären Systemen mindert man aber auch, indem man den Kontakt zu demokratischen Kräften hält. Zum einen, weil wir nur so glaubhaft für unser politisches System werben können. Zum anderen, weil demokratische Staaten die verlässlichsten Partner sind. Und schließlich, weil sich Dissidenten und Befreiungsbewegungen an ihre Unterstützer aus dem Ausland erinnern werden, wenn sie ihre einstigen Unterdrücker gestürzt haben. Davon profitiert Russland in seinem Verhältnis zu den ehemaligen Befreiungsbewegungen und heutigen Regierungsparteien im südlichen Afrika bis heute.
Die Autorin und der Autor danken Miriam Prys-Hansen für Anregungen und Eduardo Valencia für die Erstellung der Grafiken.
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Gurol-Haller, Julia, und Johannes Plagemann (2025), Der Globale Süden und die deutsche Außenpolitik: Was auf die neue Bundesregierung zukommt, GIGA Focus Global, 1, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://doi.org/10.57671/gfgl-25011
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