GIGA Focus Lateinamerika
Nummer 1 | 2020 | ISSN: 1862-3573
Überall in Lateinamerika entstehen neue Allianzen zwischen Politikerinnen und Politikern einerseits und Offizieren andererseits, durch die das Militär wieder Einfluss auf politische Prozesse gewinnt. In Brasilien hat Präsident Jair Bolsonaro einen erheblichen Anteil der Kabinettssitze an aktive und ehemalige Offiziere vergeben. Zuweilen heißt es, Armeeangehörige verfügten über den unbestechlichen Sachverstand, der zur Lösung der drängendsten Probleme in der Region gebraucht werde. Doch die schmerzliche Geschichte Lateinamerikas stellt dies infrage.
Wieder einmal betritt das Militär die politische Arena. Angehörige der Streitkräfte bekommen mehr Handlungsfreiheit, werden im Inland eingesetzt, vor ziviler Strafverfolgung geschützt und bekleiden erneut wichtige Kabinetts- und Ministerposten.
Auch wenn es in nächster Zeit wahrscheinlich nicht zu ausgemachten Militärregimen in der Region kommen wird, warnt uns die Geschichte Lateinamerikas nachdrücklich vor der wachsenden politischen Rolle des Militärs. Wo immer das Militär in der Vergangenheit politischen Einfluss erlangte, gerieten demokratische Institutionen, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte unter Druck.
Angesichts der ungelösten strukturellen Probleme in der Region – Gewalt, Korruption und soziale Ungleichheit – wird die Forderung nach durchgreifenden Lösungen lauter. Offiziere gelten in Bevölkerung und Politik gleichermaßen als die unpolitischen und unbestechlichen Experten, denen zugetraut wird, die drängendsten Probleme der Region lösen zu können.
Die Streitkräfte nehmen ihrerseits das Angebot, in die Politik zu gehen, oft sehr gerne an. Den Militärs, die nach Sinn und Orientierung suchen, verspricht die Übernahme politischer Ämter neue Aufgaben, mehr Ressourcen und die Gelegenheit, verloren gegangenes Prestige wiederzuerlangen.
Der Fall Brasilien zeigt, wie schnell Militärs in einer Demokratie wieder Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen können. Es ist davon auszugehen, dass das Militär in der gesamten Region eine zunehmende politische Rolle spielen wird, mit all den negativen Folgen für Gruppen der politischen Opposition und der Zivilgesellschaft. Die Militarisierung der Politik in Lateinamerika wird sich nur aufhalten lassen, wenn sich die politischen Kalküle und Interessen sowohl der Regierungschefs als auch der militärischen Entscheidungsträger ändern.
In ganz Lateinamerika ist der erneute Einfluss des Militärs auf die Politik zu beobachten. Als sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 die Proteste auf die ganze Region ausweiteten, schickten die Präsidenten Chiles, Kolumbiens und Ecuadors Truppen auf die Straße. Der ecuadorianische Präsident Lenín Moreno und der chilenische Präsident Sebastián Piñera traten im Kreise uniformierter Armeeangehöriger im Fernsehen auf und erklärten den Ausnahmezustand. Ebenso wie in Bolivien und Kolumbien führte der Einsatz der Streitkräfte zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen soziale und politische Aktivistinnen und Aktivisten. Was viele angesichts der leidvollen Vergangenheit Lateinamerikas für unmöglich hielten, scheint jetzt erneut mit Händen greifbar zu sein: In der gesamten Region versichern sich Regierungschefs der politischen Legitimation und Stärke der Streitkräfte. Es sieht so aus, als stehe in der Region eine neue Phase der politischen Militarisierung unmittelbar bevor.
In mehreren lateinamerikanischen Ländern – darunter Brasilien, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras und Mexiko – gehen derzeit Soldatinnen und Soldaten gegen kriminelle Organisationen und Drogenkartelle vor. Gleichzeitig wurden die Truppen mit einem Schutz vor Strafverfolgung ausgestattet. Ebenso wie die autokratische Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela haben auch die demokratisch gewählten Regierungen Brasiliens und Kolumbiens die Zuständigkeit bei schweren Verbrechen der Streitkräfte von zivilen Gerichten auf Militärgerichte übertragen. In Guatemala beendete der ehemalige Präsident Jimmy Morales unter dem Druck militärischer Hintermänner in seiner Partei die Arbeit der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG), die von den Vereinten Nationen finanziert wurde und den Auftrag hatte, Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte des Landes zu untersuchen. In Bolivien gab die Interimspräsidentin Jeanine Áñez den Truppen sogar einen Freibrief, Proteste im eigenen Land gewaltsam niederzuschlagen.
Die Militäreinsätze im Inneren deuten auf einen tief greifenden Wandel in Lateinamerika hin: In der gesamten Region gewinnen Militärs wieder Einfluss auf politische Prozesse und Inhalte. In Bolivien spielten die Streitkräfte eine wichtige Rolle beim Rücktritt von Präsident Evo Morales, wodurch die konservativen Eliten ihre politische Macht ausbauen konnten. Und in El Salvador hat Präsident Nayib Bukele kürzlich schwer bewaffnete Truppen in die gesetzgebende Versammlung des Landes entsandt, um die Abgeordneten zur Finanzierung seines Sicherheitsplans zu zwingen. In anderen Ländern dienen Offiziere als Minister und Staatssekretäre, bekleiden Positionen in staatlichen Behörden und beraten Präsidenten und andere Angehörige der politischen Führungsspitze. In Brasilien zum Beispiel sind seit dem Jahr 2019 fast die Hälfte aller Kabinettssitze mit Personen besetzt worden, die über militärische Erfahrung verfügen, darunter auch Präsident Jair Bolsonaro selbst sowie der pensionierte Armeegeneral und derzeitige Vizepräsident Hamilton Mourão (s. Abb. 1). Vergleicht man diese Zahlen mit früheren Regierungen sowohl autokratischer als auch demokratischer Staaten, dann ist die große Dominanz der Militärs in der aktuellen brasilianischen Regierung unübersehbar. Dabei stellt Brasilien keine Ausnahme dar. In Guatemala wurde die Partei, die Morales an die Macht brachte, von der Vereinigung der Kriegsveteranen Guatemalas (AVEMILGUA) gegründet. Neben den alten zivil-militärischen Eliten des Landes war die Beratung des Präsidenten durch diese Vereinigung ein entscheidender Faktor bei der Abschaffung der CICIG.
Die Entwicklungen in Brasilien, El Salvador und Guatemala sind besorgniserregend. Die Vermischung politischer und militärischer Angelegenheiten erinnert an die leidvolle Vergangenheit Lateinamerikas. In den 1960er- und 1970er-Jahren waren Regierungen von Generälen dominiert. In Argentinien, Brasilien, Chile und Guatemala regierten Offiziere mit eiserner Faust und unterbanden jeden ernsthaften Vorstoß in Richtung demokratische Partizipation und Rechenschaftspflicht. Die aktuellen Entwicklungen sind umso beunruhigender, als sich die meisten Expertinnen und Experten darüber einig sind, dass die Trennung zwischen militärischer und politischer Sphäre für eine stabile Demokratie unabdingbar ist. Im Verlauf des lateinamerikanischen Demokratisierungsprozesses der vergangenen 30 Jahre ging die Zahl der Armeeangehörigen, die politisch aktiv waren, deutlich zurück (s. Abb. 2).
Die Trennung zwischen zivilen und militärischen Angelegenheiten, die Stärkung der zivilen Aufsicht und die Schaffung klarer Befehls- und Kommandostrukturen waren zentrale Reformaspekte des Sicherheitssektors in der Region (Pion-Berlin 2009). Nur die autokratischen Regime Kubas, Nicaraguas und Venezuelas räumten ihren Streitkräften ein dauerhaftes Mitspracherecht in der Politik ein. Die politische Funktion von Armeeangehörigen unter diesen Regimen besteht darin, die Herrschenden vor Staatsstreichen, Revolutionen oder Aufständen zu schützen. Der Vergleich mit autokratischen Regimen zeigt, welche Risiken die Demokratien in der Region eingehen, wenn sie dem Militär politischen Einfluss zugestehen. Wird das Militär in die alltägliche Parteipolitik eingebunden, dann könnte sich „eine Institution, deren Entfernung aus der Politik eine ganze Generation beschäftigt hat“ (Fisher 2019), neu politisieren. Ein genauerer Blick auf die Geschichte Lateinamerikas hilft, die Gefahren, die mit der Einsetzung von Offizieren als Kabinettsmitglieder, Ministerialbeamte oder politische Berater verbunden sind, besser zu verstehen.
Wortmeldungen aus jüngster Zeit lassen den Schluss zu, dass sich zumindest einige Kommentatorinnen und Kommentatoren wenig Sorgen über den politischen Einfluss des Militärs machen. In Brasilien zum Beispiel wurde der „militärische Flügel“ als die gemäßigte Fraktion innerhalb der Bolsonaro-Regierung beschrieben. Der Drei-Sterne-General Carlos Alberto dos Santos Cruz und Vizepräsident Mourão wurden mehrfach als Regierungsmitglieder dargestellt, die eher rational und pragmatisch agierten und ein Gegengewicht zu dem radikalen Präsidenten und seiner „ideologischen“ (Casarões und Flemes 2019) oder „konservativen“ (Stuenkel 2019) Fraktion bildeten. Die Aussage Mourãos, ein Putsch der brasilianischen Streitkräfte könnte unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein, scheint vergessen. In der lateinamerikanischen Geschichte finden sich etliche Beispiele für die gravierenden Folgen, die der politische Einfluss des Militärs für demokratische Institutionen und Bürgerrechte haben kann. Auch wenn es in absehbarer Zeit wahrscheinlich nicht zu ausgemachten Militärdiktaturen kommen dürfte, zeigt die leidvolle Vergangenheit der Region, dass der politische Einfluss von Streitkräften häufig mit Autoritarismus, Korruption und Menschenrechtsverletzungen verknüpft ist.
Historisch gesehen ist die politische Beteiligung von Militärs charakteristisch für autokratische Regime. Militärdiktaturen wie die in Argentinien (1976-1983) und Chile (1973-1989) hatten im Schnitt die höchsten Anteile an Militärs im Kabinett (Abb. 3). Wenn in solchen Ländern Offiziere – meist durch einen Putsch – die Macht übernahmen, wurden gemeinhin alle Mechanismen der demokratischen Mitwirkung ausgeschaltet. In freien und fairen Wahlen sahen die militärischen Entscheidungsträger die Triebfedern für die fragwürdigen, unbeständigen Interessen von Bevölkerung und Politik, die es zu überwinden galt. Ähnliche Denkweisen dominierten auch in den Einparteienregierungen Kubas oder Mexikos, aber auch in personalistischen Regimen – wo die politische Macht in den Händen einzelner Anführer wie Alberto Fujimori in Peru oder Hugo Chávez in Venezuela lag. Auch in diesen Regimen fanden sich relativ viele Militärs in der Regierung und auch hier sorgten sie dafür, dass politische Partizipation und Rechenschaftspflicht stark eingeschränkt wurden. Am geringsten war die politische Beteiligung der Streitkräfte historisch gesehen in Demokratien, die die umfassende politische Partizipation großer Bevölkerungsteile mittels freier und fairer Wahlen sicherstellten. Wenn Offiziere am Kabinettstisch saßen, dann dienten sie zumeist als Verteidigungsminister und Generalstabschefs. Dabei wurde die politische Repräsentanz des Militärs oft durch Verfassungen garantiert, die selbst Überbleibsel früherer autokratischer Regime waren. Bevor sich die Generäle wieder in die Kasernen zurückzogen, sorgten sie dafür, dass der Einfluss des Militärs gesichert blieb und sie selbst vor Reformen oder Strafverfolgung ausgenommen waren.
Die Geschichte Lateinamerikas zeigt ebenfalls, wie Korruption durch den verstärkten politischen Einfluss des Militärs gefördert wurde. Autokratische Regime und Diktatoren erkauften sich üblicherweise die Loyalität der Streitkräfte, indem sie sich Offiziere ins Kabinett holten. Genau wie Maduro im heutigen Venezuela bedienten sich Machthaber dieser Art von Kooptation, um zu verhindern, dass Armeeangehörige einen Putsch unternahmen oder zur Opposition überliefen. Das Militär nutzte seinerseits das politische Gewicht, um sich stärker in der Wirtschaft des Landes zu betätigen. Offiziere dienten als Manager in staatlichen Unternehmen oder übernahmen lukrative Vorstandsposten. Für die Streitkräfte ergaben sich dadurch eine Fülle von Möglichkeiten, sich zu bereichern und dauerhafte nepotistische Netzwerke zwischen wirtschaftlichen und militärischen Eliten zu knüpfen, so z.B. in Argentinien (1976-1983) und Guatemala (1963-1986). Die Korruption belohnte Misswirtschaft, beschleunigte den wirtschaftlichen Niedergang der betroffenen Staaten und verstärkte die soziale Ungleichheit.
Ferner waren die Staaten, in denen das Militär politisch dominierte, durch eine Politik der eisernen Faust gegenüber politischen Oppositionellen und der Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Historisch gesehen korreliert ein höherer Anteil von Armeeangehörigen im Kabinett mit mehr Menschenrechtsverletzungen (s. Abb. 4). Regime, die von Militärs dominiert wurden, gingen häufig mit militärischen oder paramilitärischen Einsatzkräften gegen Zivilistinnen und Zivilisten vor. Mit dem Ziel jede Form des politischen Widerstands im Keim zu ersticken nahmen die Sicherheitskräfte ganze Bevölkerungsgruppen ins Visier. Allzu häufig führte dies zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Regime in Argentinien, Brasilien, Chile, Guatemala, Paraguay, Uruguay und anderen Ländern inhaftierten, folterten, mordeten ohne gesetzliche Grundlage und ließen Hunderte – in einigen Fällen sogar Tausende – von Menschen verschwinden.
Zusammengenommen ging die politische Beteiligung des Militärs in der lateinamerikanischen Geschichte häufig mit dem Aussetzen von Wahlen und dem Erodieren von demokratischen Institutionen einher. Wo das Militär an politischem Gewicht hinzugewann, litt die Ökonomie häufig unter Misswirtschaft und Korruption. Schließlich gingen die vom Militär dominierten Regime rücksichtslos gegen politische Oppositionelle und die Zivilgesellschaft vor. In der Folge sah sich die Bevölkerung mit einer massiven Verletzung ihrer bürgerlichen Freiheiten und ihrer Menschenrechte konfrontiert. Dies wirft die Frage auf, warum sich heute in der Region erneut Allianzen zwischen Regierenden und Militärs bilden? Warum werden Politikerinnen und Politiker, die keinen Hehl daraus machen, dass sie Armeeangehörige wieder in die politische Arena zurückholen möchten, von den Bürgerinnen und Bürgern Lateinamerikas unterstützt? Und warum sind Streitkräfte gewillt, wieder politischen Einfluss zu nehmen?
Früher ergriffen Offiziere mithilfe von Militärputschen politische Macht. Mit Ausnahme von Ecuador (2000), Venezuela (2002) und Honduras (2009) ist die illegale Machtübernahme durch Militärs in der Region allerdings selten geworden. Heutzutage lassen sich Militärangehörige von demokratisch gewählten Regierungen in die politische Arena einladen. Wie der brasilianische Vier-Sterne-General Augusto Heleno erläuterte: „Wir sind uns absolut bewusst, dass ein Putsch nicht der richtige Weg ist. Der richtige Weg führt über die nächste Wahl“ (Winter 2019). Um diese „konsultative Variante“ (Mora und Fonseca 2019) der politisch-militärischen Einflussnahme zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die ungelösten strukturellen Probleme Lateinamerikas zu werfen und zu untersuchen, wie diese sowohl Politikerinnen und Politiker als auch Angehörige der Streitkräfte motivieren, neue Allianzen zu schmieden.
Seit Jahrzehnten leiden lateinamerikanische Länder unter wirtschaftlicher Ungleichheit, Korruption und der Schwäche ihrer demokratischen Institutionen. Die Wahl linksgerichteter Regierungen während der sogenannten „rosa Welle“ zu Beginn des neuen Jahrhunderts, die mehr politische und wirtschaftliche Inklusion versprachen, weckte große Hoffnungen auf einen strukturellen Wandel in der Region. Doch die bescheidenen Erfolge dieser Regierungen haben – zusammen mit wiederkehrenden Korruptionsskandalen und niedrigen Wachstumsraten – in weiten Teilen der lateinamerikanischen Gesellschaft zu wachsender Frustration geführt. Die Polarisierung und Konflikte zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten haben weiterhin Bestand und erzeugen ein nahezu allgegenwärtiges Problem mit Kriminalität und Unsicherheit (Kurtenbach 2019a). Die jüngsten Ereignisse in Chile und Ecuador zeigen, wie tief die wirtschaftliche und politische Frustration reicht und wie schnell diese ein Land destabilisieren kann.
In den letzten Jahren hat der Wunsch nach wirklichen Verbesserungen dazu geführt, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger Lateinamerikas populistischen Politikerinnen und Politikern zugewandt haben (Ruth-Lovell 2019). Um Wahlen zu gewinnen oder ihre Machtposition zu sichern, propagieren Politikerinnen und Politiker einfache, aber radikale Lösungen für die Probleme der Region. Regierungschefs wie Jair Bolsonaro oder Andrés Manuel López Obrador verkaufen sich dabei als Politiker eines neuen Typus, der außerhalb der korrupten politischen Klasse operiert und die Probleme der einfachen Menschen nicht nur versteht, sondern für diese auch einfache und echte Lösungen bereithält. Um ihrem Image als politische Hoffnungsträger und ihren politischen Plattformen Glaubwürdigkeit zu verleihen, suchen politische Underdogs ebenso wie amtierende Regierungschefs die Unterstützung des Militärs.
Trotz seiner miserablen historischen Bilanz als politischer Akteur genießt das Militär in den meisten Ländern Lateinamerikas noch immer sehr hohes Ansehen. Während das Vertrauen in Wahlen, Gerichte oder die Polizei von Jahr zu Jahr schwindet, rangiert die Armee in Umfragen stets unter den Institutionen, die das höchste Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger genießen (Flores-Macías und Zarkin 2019; Mora und Fonseca 2019). Militärangehörige gelten als integer und unbestechlich. Ihnen werden die Fähigkeiten und die Entschlossenheit zugeschrieben, die notwendig sind, um selbst schwierigste Aufgaben zu meistern. Daran haben weder frühere noch aktuelle Skandale – wie zum Beispiel der sogenannte Fall Milicogate in Chile, bei dem sich militärische Einrichtungen durch ein ausgedehntes Korruptionsnetz bereichert haben – etwas an dieser Einstellung geändert. Für die meisten ist das Militär nach wie vor eine moralische Autorität. Und so hoffen Politikerinnen und Politiker, das positive Image der Streitkräfte zu ihrem eigenen politischen Vorteil nutzen zu können.
Immer mehr Spitzenpolitikerinnen und -politiker verlassen sich deshalb bei der Formulierung und Umsetzung ihrer Politik auf das Militär. Durch die Zusammenarbeit mit den Streitkräften können die Regierenden ihre eigene Legitimation stärken und, wenn nötig, auch demokratische Institutionen umgehen. Die Einsetzung von Offizieren als Minister, Stabsmitarbeiter oder politische Berater gilt als Demonstration des politischen Willens und der Fähigkeit, den hartnäckigen Problemen des Landes mit Entschlossenheit zu begegnen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der inneren Sicherheit. Die hohen Kriminalitätsraten sind eines der drängendsten Probleme in der Region, doch die Polizeikräfte – die an Korruption und mangelndem Vertrauen in der Bevölkerung kranken – sind nicht in der Lage, die organisierte Kriminalität und den Drogenhandel zu stoppen. Der wachsende öffentliche Druck nach spürbaren Verbesserungen hat dazu geführt, dass Regierungen das Militär zu Hilfe rufen, trotz der Gefahren, die dies mit sich bringt. In Mexiko hat Präsident López Obrador – der den Streitkräften zunächst sehr kritisch gegenüberstand – Offiziere beauftragt, eine neue, militarisierte Nationalgarde aufzustellen, obwohl eindeutig belegt ist, dass solche Einheiten der Sicherheit und Stabilität mehr schaden als helfen (Flores-Macías und Zarkin 2019).
Insbesondere in politischen Krisen ist es für Regierungschefs verlockend vom robusten Image des Militärs zu profitieren. Sind Amtsinhaber mit der wachsenden Unzufriedenheit der einheimischen Bevölkerung konfrontiert, so steigt der Wille, sich auf das Militär zu stützen, um so zu demonstrieren, dass sie dessen politische Rückendeckung genießen. In Lateinamerika haben Regierende aus dem gesamten politischen Spektrum dies zu ihrem Vorteil genutzt. Präsidenten der Linken in Bolivien, Nicaragua und Venezuela holen Offiziere an den Kabinettstisch, um „sich selbst als Führer einer zivil-militärischen revolutionären Avantgarde darzustellen, die von Feinden im In- und Ausland bedrängt wird“, und in Ländern wie Brasilien oder Guatemala instrumentalisieren rechtsgerichtete Präsidenten ihre Militärs „als Bollwerke des Anstands und der Sicherheit“ (Fisher 2019). Dies hat in der gesamten Region eine politischen Logik erzeugt, der zufolge, so Aníbal Pérez-Liñán (Fisher 2019), Regierungschefs, die sich auf die Unterstützung der Streitkräfte verlassen können, wissen, dass sie trotz des harten Durchgreifens gegen Demonstrierende, Menschenrechtsverletzungen und Korruption an der Macht bleiben können – sogar über die verfassungsmäßig begrenzte Amtszeit hinaus.
In Brasilien haben Angehörige der Streitkräfte Präsident Bolsonaros Einladung an den Kabinettstisch bereitwillig angenommen. Die Geschichte Lateinamerikas hilft uns auch hier zu verstehen, warum die Militärs erneut bereit sind, Allianzen mit der Politik einzugehen. Als nach dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr internationaler und innerstaatlicher Konflikte zurückging, haben demokratische Regierungen die Rüstungshaushalte gekürzt, die Größe ihrer Streitkräfte reduziert und zivile Kontrollmechanismen gestärkt (Fisher 2019; Pion-Berlin 2009). Zudem waren die Streitkräfte durch die Gräueltaten der 1970er-Jahre desavouiert und im Innern zersplittert. Infolgedessen befanden sie sich nicht nur in einer Sinnkrise, sondern mussten auch Angst davor haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Seitdem sind die Militärs „auf Sinnsuche, da sie sich ihrer Identität, ihrer Aufgabe und ihres Platzes in der Gesellschaft nicht mehr sicher sein können“ (Mora und Fonseca 2019). Dies erklärt, warum lateinamerikanische Offiziere nach Mitteln und Wegen suchen, den Wert ihrer Profession zu demonstrieren, ihre Reputation zu retten und eine ausreichende Finanzierung des Militärs sicherzustellen.
In Anbetracht dieser Probleme versprechen Kabinetts- oder Ministeriumsposten eine Rückkehr zu altem Prestige. Die Generäle spekulieren darauf, dass ihre politische Beteiligung die Vorteile eines gut ausgerüsteten Militärs zeigt, das in Krisenzeiten die politische Arena stabilisiert, die radikalen Ideen von Regierungschefs abfedert und sachkundig die drängendsten Probleme des Landes löst. Außerdem garantiert dies den Soldaten Schutz vor strafrechtlichen Ermittlungen. In vielen lateinamerikanischen Ländern sind die alten Verbrechen der Militärs noch immer nicht aufgeklärt, und so müssen die Streitkräfte mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, sollten sie sich auf Dauer der Politik entziehen. Dagegen bietet sich mit der Übernahme politischer Funktionen die vielversprechende Möglichkeit, das Ansehen des Militärs zu wahren und es gleichzeitig vor weitreichenden Ermittlungen und Reformen zu schützen.
Die Interessen der politischen und der militärischen Führung generieren damit für beide Seiten eine starke Motivation, sich zusammenzutun und die politische Rolle des Militärs zu stärken. Das Streben nach einer verstärkten politischen Rolle der Streitkräfte birgt jedoch die Gefahr, dass „das Militär mit jedem Krisenzyklus stärker als parteipolitische Institution fungiert und seine Beteiligung immer weniger tabuisiert wird“ (Fisher 2019). Nachdem die Armee den bolivianischen Präsidenten Morales im Dezember 2019 erfolgreich zum Rücktritt bewogen und damit möglicherweise einen Präzedenzfall für künftige Interventionen des Militärs in der Region geschaffen hat, scheint diese Gefahr realer denn je.
Umfassende Lösungen für die anhaltenden strukturellen Probleme der Region sind derzeit nicht in Sicht. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das Militär seinen Einfluss auf die Politik weiterhin ausbauen wird. Allerdings bietet die vorangegangene Analyse mehrere Ansätze, wie eine neue Phase der vollständigen Militarisierung in Lateinamerika zumindest gebremst werden könnte. Der Schutz der militärischen Organisation und ihr persönliches wirtschaftliches Wohlergehen bilden für Offiziere ein starkes Motiv, auf die Politik einzuwirken. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Armeeangehörige weniger geneigt sind, politische Funktionen zu übernehmen, wenn sie wissen, dass ihre Organisation gut finanziert, ihre Karriere nicht gefährdet und ihre Beförderung nicht durch politische Einmischung bedroht ist. Wenn dies sichergestellt wird, könnte die Bereitschaft von Angehörigen der Streitkräfte sinken, politisch Einfluss zu nehmen. Dies dann wiederum ein Mittel, um die Streitkräfte auf ihre angestammte Funktion zu beschränken.
Eine weitere Möglichkeit, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen, besteht in der Sensibilisierung der Streitkräfte selbst für die Gefahren, die aus der Übernahme politischer Ämter erwachsen. Dabei spielt die militärische Ausbildung eine wichtige Rolle. Wenn militärische Professionalität mit den Vorzügen ziviler Kontrolle verknüpft und Offizieren demokratische Normen vermittelt werden, wird es für Soldatinnen und Soldaten auf lange Sicht weniger interessant sein, sich in zivile Angelegenheiten einzumischen. Zu diesem Zweck muss sich jedoch die militärische Ausbildung stärker am geschichtlichen Kontext der jeweiligen Länder orientieren, als dies derzeit der Fall ist (Agüero 2019). Sie muss deutlich machen, wie negativ sich die Militärherrschaft in der Vergangenheit nicht nur auf das eigene Land und seine Bevölkerung, sondern auch auf die militärischen Organisationen selbst ausgewirkt hat. Internationale Partner können solche Bemühungen zur Entpolitisierung mit entsprechend ausgerichteten Ausbildungsprogrammen unterstützen.
Weil das Militär in mehreren lateinamerikanischen Ländern zur Herstellung der inneren Sicherheit eingesetzt wird, dürfte es ebenso wichtig sein, das Thema bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte in die militärische Ausbildung stärker miteinzubeziehen. Üblicherweise sind solche Themen Bestandteil von Ausbildungsprogrammen im In- und Ausland. Doch in der Praxis werden oft nur allgemeine und abstrakt-normative Konzepte diskutiert und eindeutige Verbindungslinien zur eigenen Militärgeschichte vermieden (Agüero 2019). Die Vermittlung historischer und aktueller Entwicklungen könnte dabei ein Beitrag zur militärischen Ausbildung vor allem jener Offiziere leisten, die die Diktaturen der Vergangenheit nicht selbst erlebt haben und daher einer erweiterten Rolle des Militärs zu optimistisch gegenüberstehen.
Letztlich wird eine weitere Militarisierung der Region jedoch nur zu verhindern sein, wenn sich die Anreizstrukturen von Politikerinnen und Politikern in der Region ändern. In Anbetracht der gravierenden politischen und wirtschaftlichen Probleme Lateinamerikas scheint dies nur auf lange Sicht realisierbar zu sein. In der Vergangenheit haben internationale Auflagen – zum Beispiel durch die Interamerikanische Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten – dazu beigetragen, Demokratien vor der aktiven Einmischung des Militärs zu schützen (Mora und Fonseca 2019). Dies erfordert allerdings die Wachsamkeit der internationalen Gemeinschaft und nötigenfalls auch die Bereitschaft, sowohl innerhalb der Region als auch zwischen den Vereinigten Staaten und Europa koordiniert diplomatischen Druck aufzubauen.
Die Chancen für solche konzertierten Gegenmaßnahmen sind zurzeit jedoch eher gering. Durch die Krise in Venezuela sind die politischen Gräben innerhalb der Organisation Amerikanischer Staaten tiefer geworden (Kurtenbach 2019b). Den USA, einem der wichtigsten Akteure in der Region, mangelt es aktuell sowohl an der notwendigen politischen Glaubwürdigkeit als auch am Willen, den wachsenden politischen Einfluss des Militärs in verbündeten Ländern einzudämmen. Und angesichts des weltwirtschaftlichen Konkurrenzkampfs zwischen China und den USA bleiben die Möglichkeiten Europas, lateinamerikanische Regierungschefs zum Umdenken zu bewegen, bestenfalls begrenzt. Das alles spricht dafür, dass es von außen nur schwer möglich sein wird, eine weitere Militarisierung der lateinamerikanischen Politik zu bremsen. Solange die strukturellen Probleme der Region – wirtschaftliche Ungleichheit, schwache Institutionen, Korruption und Unsicherheit – nicht gelöst sind, werden Regierungen und Militärs weiterhin dazu neigen, mehr Soldatinnen und Soldaten politisch einzubinden.
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