GIGA Focus Global
Number 3 | 2016 | ISSN: 1862-3581
During the preparations for the North Atlantic Treaty Organization (NATO) Summit in Warsaw in early July, many voices again highlighted the great importance of common values for the organisation’s cohesion and effectiveness. However, the Western value structure has been under stress for quite some time. Recent changes in German foreign policy illustrate how Western governments are adapting to the new international order.
German foreign policy is increasingly focusing on interest-based engagements in changing coalitions and networks instead of relying exclusively on traditional, value-based partnerships. In Europe Germany recently insisted on austerity despite broad European opposition. Strategic relations with countries in the Global South, such as China, have gained status relative to primarily value-based partnerships with the United States, France, and Israel and concomitant alliances such as NATO.
This recalibration of the diplomatic balance between values and interests reflects an adaptation to changes in the geopolitical landscape, on the one hand, and reveals fundamental transatlantic differences and the fragility of the existing multilateral system, on the other. The German incomprehension of the ascendance of populist Republican presidential candidate Donald Trump in the US primaries and Berlin’s decision to join the Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) despite US opposition are only the most recent indicators of the latter aspect.
Germany is at risk of losing credibility as an international mediator if it does not transparently address the dilemma of increasingly sharing critical interests with states that do not share the same set of norms and values, such as China, Turkey, and Kazakhstan.
Germany should and is well positioned to pursue its foreign policy interests in flexible networks. At the same time, if Germany is seeking to adopt the role of Europe’s credible “chief facilitating officer” in international crises, its interest-oriented network diplomacy must also incorporate value-based principles and further expand the dialogue on foreign policy interests with the general public as well as with new and old partners alike.
In Vorbereitung auf das vom 8. bis 9. Juli 2016 in Warschau stattfindende NATO-Gipfeltreffen beschwor der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, im Januar 2016 die „Einheit […] als unsere größte Stärke“ (NATO 2016). Doch inmitten der jüngsten Krisen in der Ukraine und Syrien und anhaltender transatlantischer Spannungen wird diese Einheit auf zahlreiche Belastungsproben gestellt. Der traditionelle Bezug auf die gemeinsamen Werte Demokratie, individuelle Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, wie sie in der Präambel des Gründungsvertrags festgehalten sind, genügen augenscheinlich nicht mehr als bindendes Fundament. Dabei ist die NATO kein Einzelfall, sondern steht symptomatisch für die Krise traditionell wertebasierter multilateraler Organisationen, die die liberale Nachkriegsordnung dominierten. Angesichts der Konzentration derzeitiger Krisen, dem scheinbaren Rückzug liberaler Demokratien, zerfallender Staatlichkeit im Mittleren Osten und Afrika und der Transformation der internationalen Ordnung im Zuge des Aufstiegs Chinas und anderer Regionalmächte und nichtstaatlicher Akteure, richten zahlreiche Staaten ihre Außenpolitik zunehmend flexibel an nationalen Interessen aus. Sie bauen bilaterale Beziehungen aus und gehen neue ad-hoc-Koalitionen ein. Dadurch entsteht eine Interaktionskultur in der internationalen Politik, die informellen Multilateralismus und das Engagement in politikfeldspezifischen, situativen Netzwerken begünstigt. Die sich wandelnde deutsche Außenpolitik ist ein prominentes Beispiel für diese Entwicklung.
Spätestens seit dem Antritt der amtierenden Bundesregierung im Dezember 2013 überdenkt und überarbeitet Berlin Grundpfeiler deutscher Außenpolitik. Trotz der wachsenden Schwächung der Europäischen Union – von der Eurokrise und dem drohenden Austritt Großbritanniens bis hin zur grassierenden Europaver-drossenheit – hielt die Regierung an ihrer Maxime der Preisstabilität weitgehend fest. Auch das Risiko einer Entfremdung mit dem traditionellen Partner Frankreich nahm Berlin durch seine Austeritätspolitik in Kauf. In den Beziehungen zu Israel, dessen staatliche Existenz als deutsche Staatsraison und nicht verhandelbar gilt, kritisierte Berlin jüngst deutlicher als gewohnt die Siedlungspolitik von Premierminister Benjamin Netanjahu. Der Abstimmung zur Armenien-Resolution im Bundestag blieben Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel fern, um die ohnehin schon komplizierten Beziehungen zu dem in der Flüchtlingskrise geopolitisch so wichtigen NATO-Mitglied Türkei nicht weiter zu belasten. Und nicht zuletzt steht das transatlantische Verhältnis auf dem Prüfstand, dessen historisch bedingte Bedeutung bisher in die DNA deutscher Außenpolitik geschrieben steht. Enge und vertrauensvolle Beziehungen zu Washington gelten in Berlin als Rückgrat europäischer Sicherheit und Grundbedingung des Zusammenhalts innerhalb der NATO. Doch der Irak-Krieg im Jahr 2003, Guantánamo, die Snowden- und NSA-Affäre, Unstimmigkeiten bei den Verhandlungen um das Transatlantische Freihandelsabkommen (englisch Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP), sowie das deutsche Unverständnis über den Aufstieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump belasteten die Beziehungen schwer.
Im Vorfeld des Gipfeltreffens brachte Außenminister Steinmeier die Uneinigkeit in der Regierungskoalition sowie mit den NATO-Partnern über den richtigen Umgang mit Russland zum Ausdruck, als er im Juni 2016 die mediale Aufbereitung von NATO-Manövern an der Ostgrenze der Allianz durch NATO-Kreise als „Säbelrasseln und Kriegstreiberei“ kritisierte (Steinmeier 2016a). Während die dadurch angestoßene Debatte im Kern innenpolitisch motiviert ist, spiegelt sie auch eine Neuausrichtung außenpolitischer Prinzipien wider. Deutschland ergänzt seine Teilnahme in altbewährten, wertebasierten Allianzen mit einem stärkeren Engagement in interessenbasierten bilateralen und multilateralen Partnerschaften. Je mehr außenpolitische Verantwortung Deutschland übernimmt, desto stärker wird der Balanceakt zwischen Werten und Interessen sichtbar (vgl. Zimmer 2015).
Genuin strategische Partnerschaften, die auf einer breiten Basis langfristiger Wertekonvergenzen und geteilter globaler Ziele beruhen, sind nicht länger die Regel in den internationalen Beziehungen. Die sogenannten strategischen Partnerschaften zwischen Deutschland und den aufstrebenden Mächten China, Indien und Brasilien erfüllen diese Kriterien nicht hinreichend. Die transatlantische Partnerschaft hingegen ist durch eine Reihe von Divergenzen unter erheblichem Druck – sowohl mit Blick auf außenpolitische Angelegenheiten wie beispielsweise Aufrüstungskontrolle (Ottawa-Vertrag zum Verbot von Landminen), Umweltpolitik (Kyoto-Protokoll), Menschenrechte (Internationaler Strafgerichtshof), Sicherheitspolitik (Folter und gezielte Tötungen), als auch zu innenpolitischen Themen wie der Todesstrafe, Waffengesetzen, Datenschutz und Sozialpolitik. Aus deutscher Sicht beruhen viele dieser Differenzen auf dem eigenen Selbstverständnis als „Zivilmacht“, deren oberstes außenpolitisches Ziel die „Zivilisierung“ der internationalen Politik ist. Darüber hinaus hat die NATO ihre ursprüngliche Funktion, transatlantische Beziehungen zu regeln, verloren. Dadurch fehlt eine institutionelle Arena, um divergente politische Interessen zu diskutieren und Konflikte zu lösen (Risse 2004: 30-31). Dies zeigte sich beispielsweise in der Initiative des damaligen deutschen Außenministers Guido Westerwelle Anfang des Jahres 2010, den Abzug von US-Nuklearwaffen aus Deutschland öffentlich statt über nicht öffentliche Verhandlungskanäle im Rahmen der NATO zu fordern. Das Abhören deutscher Institutionen durch US-amerikanische Dienste – einschließlich des Mobiltelefons der deutschen Bundeskanzlerin – und die Ausweisung des Repräsentanten der US-amerikanischen Geheimdienste im Juli 2014 sind weitere Beispiele öffentlich ausgetragener deutsch-amerikanischer Zerwürfnisse. Eine solche Ausweisung ist üblicherweise als Sanktionsinstrument gegenüber verfeindeten Staaten in Krisenzeiten vorgesehen.
Aus deutscher Sicht sind die Konflikte zwischen Berlin und Washington am stärksten auf die Irak-Invasion der US-Regierung unter Präsident George W. Bush im Jahr 2003 zurückzuführen. Um über eine mögliche Unterstützung der Militärintervention zu entscheiden, musste die Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer zwischen deutscher Bündnissolidarität und ihrer Überzeugung, dass der kriegerische Akt weder legitim noch legal sei, abwägen (Fischer 2011). Die deutsche Öffentlichkeit mobilisierte massiv gegen eine deutsche Beteiligung, ein entscheidendes Kriterium in einem Wahljahr. Einerseits spiegelte die deutsche Nichtbeteiligung an der Irak-Intervention einen punktuellen Wandel von deutschen Koalitionspartnern wider. Denn die Mitgliedstaaten der BRICS-Gruppe, Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, lehnten die Intervention ebenfalls ab. Andererseits wurde die Kontinuität der wertebasierten Skepsis gegenüber militärischen Mitteln als Instrument der Außenpolitik deutlich. Dreizehn Jahre später sieht Außenminister Steinmeier in den Entwicklungen im Irak im Anschluss an die US-geführte Intervention den Moment, in dem die Illusion der unipolaren Welt verblasste (Steinmeier 2016b). Berlins Enthaltung in der Abstimmung über die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats im März 2011, welche die internationale Militärintervention in Libyen autorisierte, vergrößerte die Kluft zwischen Deutschland und seinen europäischen und NATO-Partnern, insbesondere Großbritannien, Frankreich und den USA weiter (Erlanger und Dempsey 2011). Auf US-amerikanisches Unverständnis stieß hingegen die Entscheidung Berlins, als viertgrößter Geldgeber Mitglied in der Mitte des Jahres 2015 gegründeten und von China geführten Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) zu werden. Das dadurch gewachsene beidseitige Misstrauen konnte trotz der Popularität des US-Präsidenten Barack Obama in Deutschland nicht voll wiederhergestellt werden.
Hinzu kommt, dass Deutschland zunehmend Interessen im Bereich Handel und Finanzen mit Nichtdemokratien teilt. China hat sich zum wichtigsten Markt deutscher Exporte entwickelt, wohingegen traditionelle Partner wie Frankreich, die Niederlande und die USA an relativer ökonomischer Bedeutung verlieren. Selbst wenn das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA zustande kommt, wird dieser Trend wohl anhalten. Dafür spricht, dass Deutschland und China als größte Industrieproduzenten und Exporteure bedeutende volkswirtschaftliche Handlungszwänge gemein haben. Beide Staaten haben eine höhere Spar- als Investitionsquote und teilen daher das Interesse, ihre Handelspartner in Europa respektive Nordamerika zu Deflationspolitiken zu bewegen. Aus diesem Grund betreiben deutsche Handelsverbände seit langem Lobbyarbeit für eine kooperative Außenpolitik gegenüber China (Kleine-Brockhoff und Maull 2011: 60). Dahingegen führten beispielsweise gegensätzliche Finanzpolitiken Berlins und Washingtons zum Scheitern der Verhandlungen über Konjunkturprogramme und Möglichkeiten der Steigerung der Binnennachfrage auf den G20-Treffen der vergangenen Jahre.
Solche Beispiele deutsch-amerikanischer Interessendivergenzen belegen nicht automatisch eine größere Interessendeckung zwischen Deutschland und nichtdemokratischen, aufstrebenden Mächten des Globalen Südens. Während China ein mächtiger Akteur im globalen Wettbewerb um natürliche Rohstoffe ist, befindet sich Deutschland nach wie vor in großer Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland. Vielmehr deutet dieser Wandel darauf hin, dass Staaten wie Deutschland sich vermehrt in bilateralen Partnerschaften oder multilateralen Foren engagieren, in denen die größtmögliche politikfeldspezifische Interessenkonvergenz besteht. Dahinter lässt sich die Hoffnung vermuten, dass mehr Flexibilität auch mehr Effektivität bei der multilateralen Problemlösung mit sich bringt.
Ein moralisches Kerndilemma im derzeitigen Anpassungsprozess deutscher Außenpolitik besteht also in der tendenziell relativ wachsenden Interessendivergenz mit nichtdemokratischen Staaten. Es lassen sich drei Optionen zum Umgang mit diesem Dilemma skizzieren. Kurzfristig könnten deutsche Außenpolitiker für mehr Kohärenz im außenpolitischen Diskurs über Werte und Interessen sorgen, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zweifelsohne orientiert sich das außenpolitische Verhalten Deutschlands insgesamt weniger konsistent an Standards von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in seinen Beziehungen gegenüber einflussreichen und energieliefernden Staaten wie Russland oder Kernhandelspartnern wie China als gegenüber weniger mächtigen Staaten wie beispielsweise Ruanda oder Weißrussland – alle vier Staaten werden auf dem Index zu politischen und bürgerlichen Rechten der Nichtregierungsorganisation Freedom House als „nicht frei“ eingestuft (Freedom House 2016). Dies gilt auch für Beziehungen gegenüber potenziellen Lieferanten von für die deutsche Energiesicherheit und technologische Entwicklung notwendigen natürlichen Ressourcen und seltenen Erden wie Kasachstan und Vietnam. Deutschland fokussiert gegenüber wirtschaftlich wichtigen autoritären Staaten in erster Linie auf Handel statt auf Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Mittelfristig kann die deutsche Regierung verstärkt gemeinsame Interessen in verschiedenen Politikfeldern mit den USA und daraus abgeleitet konkrete Lösungsansätze für globale Probleme identifizieren. Deutschlands Sozialisierung in der transatlantischen Gemeinschaft wird auch trotz der Zerwürfnisse der letzten Dekade und einem stärker unabhängigen, interessenbasierten deutschen Engagement Bestand haben, wenn die interessengeleiteten Ziele transparent kommuniziert werden. Die abnehmende Bedeutung von Werten als primäre Legitimationsgrundlage internationaler Koalitionen ist ein globaler Trend, dessen Konsequenzen sich traditionelle Partnerschaften wie die transatlantische stellen müssen. Der Trend einer Renationalisierung vieler politischer Systeme in Europa und die politische Polarisierung in den USA stellen den „Westen“ vor eine Zerreißprobe. Nicht minder gespalten sind die BRICS-Gruppe sowie der aufstrebende Globale Süden. Gerade die BRICS-Staaten pflegen ein traditionelles Souveränitätsverständnis, das sie in der letzten Dekade auch verstärkt in die globale Ordnungs- und Verhandlungskultur eingebracht haben. Nationale Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen treten als Konsequenz dieser Spaltungen außenpolitisch in den Vordergrund. Staats- und Regierungschefs nutzen Gipfeltreffen zunehmend als Foren, um komplexe, politikfeldübergreifende Ziele zu verhandeln. Viele Verhandlungsblockaden können potenziell durch politikfeldübergreifende Kompromisse aufgelöst werden, zum Beispiel im Rahmen einer Mandatsausweitung der G20 (etwa Agrarsubventionen vs. CO²-Emissionen).
Langfristig steht die deutsche Außenpolitik vor der Aufgabe, einen neuen globalen Normen- und Wertekonsens zu verhandeln. Verschiedene, teils erst entstehende Konzeptionen von regelgeleiteter internationaler Ordnung werden in diesem Prozess miteinander konkurrieren und interagieren. Es zeichnet sich ab, dass dieser Aushandlungsprozess sowie zukünftige globale Problemlösungen über intergouvernementale, zweckbezogene Netzwerke ablaufen wird, welche oftmals ad-hoc entstehen. Bereits jetzt verhandeln unterschiedliche Klubs und Netzwerke spezifische Handlungsbereiche und Werte wie Legitimität, Verantwortung und nationale Souveränität. Diese Verhandlungen verlaufen schon heute nicht mehr notwendigerweise entlang der Trennung liberale Demokratien versus Autokratien oder der „Westen“ gegen den „Rest“. Charles Kupchans (2012: 189) pragmatischer Vorschlag für ein stärker plurales und inklusiveres Verständnis von Legitimität weist in diese Richtung. Ihm erscheint nicht liberale Demokratie, sondern verantwortungsvolle Regierungsführung ein realistischer Maßstab für legitime Stakeholder zukünftiger internationaler Ordnung. Legitimität in der zukünftigen „Netzwerkordnung“ (Flemes 2013) hängt ferner weniger von materiellen Indikatoren wie dem Besitz von Nuklearwaffen ab als früher, da materielle Defizite durch institutionelle und diplomatische Ressourcen kompensiert werden können.
Unter den Bedingungen derzeitiger institutioneller Heterogenität ist unklar, welche Positionen die aufstrebenden Mächte in den Verhandlungen um einen normativen Grundkonsens internationaler Ordnung einnehmen. Zwar werden die jeweiligen politischen Kulturen und Überzeugungen über innenpolitische und globale Ordnungen maßgeblich die unterschiedlichen Verhandlungspositionen prägen. Die Erwartung, dass Demokratien wie Deutschland, Brasilien und Indien gemeinsam neue Ansätze im Bereich Konfliktbearbeitung und -prävention einbringen und dadurch ihre Rolle in sogenannten Mediationsnetzwerken stärken, wurden jedoch bislang kaum erfüllt. Bestehende Mediationsnetzwerke, wie das Nahost-Quartett, in dem Russland, die USA, die EU und die Vereinten Nationen (VN) den Friedensprozess in Israel vorantreiben wollen, oder die Sechs-Parteien-Gespräche zu Nordkorea, sind bislang die Domäne etablierter Großmächte.
Jüngste Ausnahmen weisen jedoch auf eine Öffnung exklusiver Klubs hin. Die Aufnahme Deutschlands in die P5+1-Gruppe (oder auch als E3 plus 3 bekannt), in dessen Rahmen die fünf ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats sowie Deutschland eine Regelung für das umstrittene Atomprogramm Irans verhandelten, ist ein Beispiel. Deutschland als wichtigster Handelspartner Irans innerhalb der EU spielte in den Verhandlungen eine wichtige Rolle. Das „Normandie-Format“, eine seit Juni 2014 bestehende quadrilaterale Kontaktgruppe zwischen den Regierungen von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine, die im Mai gegründete „Trilaterale Kontaktgruppe“ zwischen Russland, der Ukraine, und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), seit Januar 2016 unter deutschem Vorsitz, sowie die Runden Tische zum nationalen Dialog unter Ko-Vorsitz von Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, sind weitere Initiativen, die sich für die Konfliktregelung in der Ukraine engagieren. Deutschland hat schließlich den Vorsitz der Afghanistan-Kontaktgruppe inne, engagiert sich in der internationalen Kontaktgruppe zu Syrien und übernimmt im Jahr 2017 gemeinsam mit Marokko den Ko-Vorsitz im Globalen Forum zu Migration und Entwicklung, welches den Austausch zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern von Migration ermöglichen soll. Inwieweit neu entstehende diplomatische Formate zu einem normativen Grundkonsens über die internationale Ordnung beitragen können, hängt nicht zuletzt von den Reaktionen der etablierten Mächte auf die Ansprüche der aufstrebenden Mächte ab (Flemes and Cooper 2013).
Deutschland bewegt sich zwischen beiden Positionen. Durch seinen vorteilhaften Zugang zu internationalen Netzwerken verschafft sich die deutsche Außenpolitik wachsende diplomatische Autonomie und Legitimation. So ist Berlin Mitglied im Klub wichtiger Industrienationen (G7) und parallel dazu Teil eines Lobbynetzwerks von vier Staaten, die die Reform des Sicherheitsrats der VN vorantreiben und einen ständigen Sitz anstreben (G4). Auch der von der Bundesregierung initiierte Petersberger Klimadialog und der Renewables Club mit den Schwergewichten China, Frankreich, Indien und Großbritannien sind Lobbynetzwerke mit gemischter Mitgliedschaft zwischen etablierten und neuen Mächten, die die aussichtsreiche Netzwerkposition deutscher Diplomatie untermauern. Diese privilegierte Stellung in der komplexen Ordnung aus Institutionen, Klubs und Netzwerken birgt großes Potenzial, sich als Vermittlungsmacht zu profilieren und entsprechende Gestaltungsräume auf der Basis eines emanzipierten Eigeninteresses zu nutzen. Eine Grundvoraussetzung dafür bildet die bessere Koordination der deutschen Interessen und Ziele in den verschiedenen internationalen Foren. Um in globalen Verhandlungen nicht übervorteilt zu werden, gilt es die innenpolitische Richtlinienkompetenz auf die Außenpolitik zu übertragen und damit die Politikkohärenz gegenüber internationalen Partnern zu steigern. Wenn dies gelingt, kann deutsche Diplomatie selbstbewusst mit neuen Partnern in interessenorientierten Netzwerken kooperieren, ohne traditionelle Partner dadurch zu verprellen.
Gleichzeitig demonstriert Berlin Bereitschaft, zu einem pluralistisch verhandelten Konsens über die zukünftige internationale Ordnung beizutragen, welche möglichst stark die Werte der Bundesrepublik widerspiegelt. Der Trend, dass der Zugang zu internationalen Kooperationsnetzwerken eine zunehmend gewichtigere Rolle neben militärischen und ökonomischen Ressourcen bei der Machtprojektion spielt, kommt Deutschland zugute. Die innenpolitische Ordnung und politische Kultur begünstigt den Rückgriff auf Netzwerke als Mittel außenpolitischer Interessendurchsetzung. Die Erfahrung mit Koalitions- und Konsensbildung, gesammelt im Kontext des deutschen Parlamentarismus und Korporatismus sowie in Verhandlungen auf Ebene der Europäischen Union, kann sich in den Verhandlungen um einen Wertekonsens als diplomatischer komparativer Vorteil erweisen. Begrenzte militärische Machtressourcen versucht die deutsche Außenpolitik nicht nur durch geoökonomische Mittel, sondern eben auch durch Netzwerkmacht auszugleichen. Die zukünftige internationale Hierarchie wird dadurch neu definiert.
Deutsche Netzwerkmacht wird wohl einerseits eine konsensuale Führungsrolle sowie ein größeres Maß an Verantwortung auf der globalen Ebene in Bereichen wie erneuerbare Energien und Klimawandel mit sich bringen, in denen Deutschland vergleichbar viel Expertise oder Legitimität aufweist. Andererseits bedeutet der Anspruch größerer außenpolitischer Verantwortung, so in Form des Wunsches nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN oder der im Juni bekanntgegebenen Kandidatur für einen nichtständigen Sitz (2019-2020), auch steigende ökonomische und politische Kosten. Langfristig andere europäische Staaten militärische Einsätze schultern zu lassen würde schwer begründbar. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich die deutsche Sicherheitspolitik bereits graduell das Prinzip der Schutzverantwortung zu eigen gemacht. Der Ausgang der innenpolitischen Debatte zwischen Antimilitaristen und Verantwortung betonender Protektionisten wird die Grenzen hinsichtlich des Einsatzes militärischer Gewalt als Gradmesser der deutschen Rolle in der zukünftigen internationalen Ordnung bestimmen. Das Engagement im Kampf gegen den IS im Irak könnte als weiterer Schritt der politischen Bereitschaft gedeutet werden, militärische Gewalt zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzusetzen. In einem Meinungsartikel für die New York Times betonte Außenminister Steinmeier andererseits Deutschlands primäre Rolle als Europas „chief facilitating officer“– also sozusagen als „Chef-Vermittler“ Europas in den Krisen der fragilen Welt; nicht nur zwischen bewaffneten Konfliktparteien, sondern auch bei der Vermittlung von historisch verwurzelten regionalen und globalen Ordnungs- und Wertevorstellungen unterschiedlicher Akteure mit dem Ziel, zu gemeinsamen Grundvorstellungen von Ordnung zu gelangen (Steinmeier 2015, 2016c). Die Schwierigkeiten, dieser Rolle gerecht zu werden, illustriert die deutsche Politik in der Ukraine-Krise (Pond and Kundnani 2015). Der NATO-Gipfel in Warschau bietet die Gelegenheit für eine neue deutsche Außenpolitik zu werben, die es versteht, transparentes Eigeninteresse mit einer Mittlerfunktion im Sinne der Gestaltung einer neuen Weltordnung zu verbinden.
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