GIGA Focus Middle East
Number 1 | 2016 | ISSN: 1862-3611
The protests in Tunisia and the subsequent fall of the Ben Ali regime in January 2011 were primarily the expression of the prospectless socio-economic situation, especially in the Tunisian hinterland. Thus since 2011 the post-revolutionary government had promised to eradicate regional disparities and generate jobs in the country's peripheral districts. But their failure to do so resulted in new, large-scale, violent demonstrations taking place nationwide in January 2016.
Tunisia exhibits large internal disparities in terms of development: the North is more developed than the South, and the East (or rather the coastal areas) is far more favoured than the hinterland in the West.
In 2011 the Caid Essebsi government drafted a white paper on territorial inequality, and the succeeding Troika coalition government developed a programme for regional development. Decentralisation and regional development were also assigned greater importance in the 2014 Constitution.
However, approaches to regional development and job creation became casualties of an economic downward spiral that had already begun in 2011. The declining tourist industry (which came to a standstill following the deadly attacks in Bardo and Sousse in 2015), the sharp downturn in foreign direct investment, and the high willingness of workers to strike have ruined Tunisia's image as an attractive investment destination and, in turn, resulted in enormous budgetary problems. The targeted development of the interior has fallen by the wayside.
Given the lack of budgetary resources, the eradication of regional inequality is not going to be achieved, even in the medium term. This will therefore lead to social protests and uncontrollable internal migration to the more developed coastal region, which will have negative repercussions for the fragile political situation.
Die Proteste in Tunesien vom Dezember 2010 und Januar 2011 waren Ausdruck einer tiefgreifenden sozioökonomischen Krise. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung war in sechs der 24 Gouvernorate (Verwaltungsbezirke) Tunesiens besonders hoch – in den Gouvernoraten Gafsa, Sidi Bouzid, Kasserine, Kairouan, Siliana und Le Kef. Diese Verwaltungsbezirke liegen alle im Zentrum des westtunesischen Binnenlandes entlang der algerischen Grenze und sind gegenüber der historisch begünstigten Küstenregion deutlich benachteiligt. An der Küste des Mittelmeeres liegen die infrastrukturell bevorzugten Städte Tunis, Nabeul, Hammamet, Sousse, Monastir, Mahdia und Sfax. Aus ihnen rekrutieren sich auch die tunesische Bildungselite und die Mehrheit der Politiker, die seit der Unabhängigkeit die politischen Geschicke Tunesiens bestimmen. Zum sozioökonomischen Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle kommt folglich ein ausgeprägter politischer Peripherie-Zentrum-Gegensatz hinzu. Der tunesische Soziologe und Schriftsteller Hassouna Mosbahi beschreibt daher die Proteste von 2010 und 2011 in den Kategorien des klassischen arabischen Historikers Ibn Khaldun (1332-1406). Er sieht sie als Revolte der „Beduinen“ (Bewohner des Landesinnern) gegen die sesshaften Bewohner der Städte, die über den Reichtum und die Macht verfügen.
Die Proteste, die im Dezember 2010 in Sidi Bouzid begannen, sich schnell in Süd- und Westtunesien ausbreiteten und schließlich auch die Armenviertel der Küstenstädte sowie die Hauptstadt Tunis erreichten, führten im Januar 2014 zum politischen Machtwechsel. Die ungleiche Entwicklung der Verwaltungsbezirke, die sich in vielen Indizes statistisch nachweisen lässt, war eine wesentliche Ursache hierfür. Sie zeigt sich in der deutlich schlechteren infrastrukturellen Ausstattung im Landesinnern und manifestiert sich insbesondere in einer wesentlich höheren Arbeitslosigkeit. Marktferne und Defizite in der Logistik brachten ausländische Firmen, die Arbeitsplätze schaffen, dazu, dass diese mehrheitlich in den küstennahen Gouvernoraten des Großraumes Tunis, Sousse, Monastir und Sfax investierten.
In der Folge mangelt es deshalb im Landesinnern an Arbeitsplätzen. Die daraus resultierende hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter jüngeren Tunesierinnen und Tunesiern mit und ohne Hochschulabschluss sowie die fehlende Zukunftsperspektive vor Ort haben seit den 2000er Jahren zu einer ungebremsten Binnenmigration in die Küstenstädte und zur (irregulären) Migration ins europäische Ausland und nach Amerika (Kanada, USA) geführt. Bereits vor 2010 hatte es darüber hinaus vermehrt politische Proteste gegeben. Die Proteste seit Dezember 2010 waren insofern nicht die ersten; allerdings entfalteten sie die breiteste Massenwirkung und führten im Januar 2011 zur Ausreise des amtierenden Präsidenten Ben Ali ins saudische Exil. Die Protestierenden forderten – neben dem Rücktritt des Präsidenten („Ben Ali, trete zurück“) – vor allem „Arbeit“ („Wir wollen Arbeit“) und die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, ein Leben in Würde („Karama“) und eine Perspektive für die Zukunft. Die Forderung nach mehr „Demokratie“ wurde hingegen nur vereinzelt erhoben.
Die nach dem Machtwechsel amtierenden Regierungen, zunächst vor allem die Übergangsregierungen von Mohamed Ghannouchi und Béji Caid Essebsi, seit November 2011 (bis 2014) die von der islamistischen Ennahda-Partei angeführten Koalitionsregierungen, haben die Brisanz der ungleichen Regionalentwicklung und unterschiedlichen Lebensperspektiven durchaus erkannt. Sie versprachen, durch eine neu konzipierte und prioritär betriebene Regionalentwicklung zum Abbau der Disparitäten beitragen zu wollen. Angesichts solcher Zusagen stiegen die Erwartungen der Bevölkerung an eine Besserung ihrer materiellen Situation vor allem in den benachteiligten Gouvernoraten.
Die Bilanz nach fünf Jahren „tunesischer Revolution“ – so vor Ort die euphorische Umschreibung des Machtwechsels von 2011 – ist allerdings als extrem unbefriedigend zu bezeichnen, weil die negative innenpolitische und makroökonomische Gesamtentwicklung Tunesiens einer staatlich geförderten Regionalentwicklung jegliche Grundlage entzog. Es erstaunt deshalb nicht, wenn in Tunesien die Einschätzung von der „verratenen Revolution“ die Runde macht und Zeitungsartikel feststellen: „In Sidi Bouzid hat sich nichts geändert“.
Wohlstandsunterschiede zwischen den Regionen Tunesiens haben geografische, klimatische, historische und politische Ursachen. Ihre Bekämpfung ist extrem komplex und langwierig, zumal die regionale Ungleichheit weitere negative Entwicklungen hervorruft. An erster Stelle ist hier die ungebrochene Landflucht aus den armen Regionen des Landesinnern in den Großraum Tunis und die Küstenzone zwischen Nabeul und Sfax zu nennen, die dort die bereits seit Jahren defizitäre Infrastruktur zusätzlich belasten und die Armenviertel (sogenannte Cités populaires) vergrößern. Die Urbanisierungsrate Tunesiens ist folglich von 33 Prozent zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1956 auf rund 75 Prozent 2016 angestiegen. Der informelle Sektor der Volkswirtschaft ist von rund 20 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf rund 50 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Seinen regionalen Schwerpunkt hat er in West- und Südtunesien, wo die seit 2011 mit Duldung durch die Troika-Regierungen besonders ausgeweiteten Tätigkeiten im Schmuggel und in der Herstellung gefälschter Markenprodukte (Produktpiraterie) vielen beruflich nicht qualifizierten jungen Erwachsenen zumindest Minimalverdienste gewähren.
Die 24 Verwaltungsbezirke Tunesiens (Abbildung 1), die auch die Basis statistischer Erhebungen sind, werden vom Nationalen Statistischen Amt und vom Ministerium für Regionalentwicklung entsprechend ihres unterschiedlichen Wohlstandsniveaus in drei Gruppen gegliedert (Details zur statistischen Berechnung vgl. Béchir 2015):
Erstens die fünf reichen und entwickelten Gouvernorate Tunis, Ben Arous, Ariana, Monastir und Sousse,
zweitens die 13 Gouvernorate mit „mittlerer sozioökonomischer Entwicklung“ Manouba, Sfax, Nabeul, Gabès, Kébili, Tozeur, Médenine, Tataouine, Mahdia, Gafsa, Bizerte, Zaghouan und Béja sowie
drittens die sechs unterentwickeltsten Gouvernorate Le Kef, Jendouba, Kairouan, Siliana, Sidi Bouzid und Kasserine.
Die Ungleichheit zwischen den Gouvernoraten zeigt sich an einer Vielzahl von Indikatoren. So liegt die Armutsrate mit 30 Prozent in der Region Kasserine viermal so hoch wie im Großraum Tunis. In Gafsa oder Tataouine weist die Arbeitslosenrate 2015 mit rund 26 Prozent deutlich höhere Werte auf als in der Küstenstadt Monastir mit nur 9,3 Prozent. In den unterentwickelten Gouvernoraten des Landesinnern ist die Versorgung mit Gesundheitseinrichtungen, Trinkwasser und höheren Schulen sowie die Anzahl von Arbeitsplätzen in Klein- und Mittelbetrieben generell deutlich schlechter als in der privilegierteren Küstenzone.
Bereits die Regierung unter Präsident Ben Ali hatte erkannt, dass die Entwicklungsunterschiede in den Regionen vermindert werden müssen (Faath 2009, 161f.). Die bereitgestellten Finanzmittel reichten allerdings für die Aufgabe nicht aus. Die Aufsplitterung der Aufgabe „Regionalentwicklung“ auf verschiedene Ministerien, unter anderem auf das Ministerium für Inneres und Lokalentwicklung, das Ministerium für Entwicklung und internationale Kooperation sowie das Ministerium für Ausrüstung, Wohnungsbau und Raumordnung, führte außerdem zu unklaren Kompetenzen und hatte zur Folge, dass die sozioökonomischen Disparitäten und damit das Protestpotenzial kaum reduziert wurden.
Nach dem Machtwechsel im Januar 2011 gab es deshalb verschiedene neue Ansätze, um die Regionalentwicklung politisch prioritär zu behandeln und ihr mit institutionellen Reformen zu mehr Effizienz in der Umsetzung zu verhelfen. Ausgangspunkt war das von Übergangspremierminister Caid Essebsi in Auftrag gegebene und im Sommer 2011 vorgelegte Weißbuch (Livre Blanc 2011), das im Spätsommer auf mehreren Veranstaltungen landesweit vorgestellt und diskutiert wurde. Es bilanzierte den Stand der Ungleichheit und der bisherigen staatlichen regionalpolitischen Maßnahmen. Zudem gab es 49 Empfehlungen für die nach der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung (23. Oktober 2011) einzusetzende Regierung, wie eine staatliche Ausgleichspolitik unter den Regionen besser umgesetzt werden könnte. Zu diesen Empfehlungen zählten zum einen konkrete Vorschläge zur besseren verkehrstechnischen Erschließung der peripheren Regionen, zur systematischen Verbesserung der staatlichen Infrastruktur primär im Bildungs- und Gesundheitswesen oder zum Bau von Sozialwohnungen in den benachteiligten Gouvernoraten, zum anderen Vorschläge für legislative und administrative Reformen. So sollte beispielsweise ein zentrales Ministerium für Lokal- und Regionalentwicklung gegründet werden, um die unklare Kompetenzverteilung der verschiedenen Ministerien zu überwinden. Instrumente der partizipativen lokalen Demokratie sollten in die Verfassung aufgenommen werden. Mit der Reform des Investitionsförderungsgesetzes sollte die Ansiedelung in- und ausländischer Unternehmen im Landesinnern gefördert werden.
In allen genannten Bereichen setzten die Regierungen seit Herbst 2011 unter dem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit diverse Maßnahmen um. Hinzu kamen Arbeitsbesuche von Regierungsdelegationen in einzelnen Städten des Hinterlandes sowie Tagungen des Ministerrates, der bei seinen Sitzungen in unterentwickelten Gouvernoraten (z.B. April 2015 in Jendouba, Oktober 2015 in Kasserine, Dezember 2015 in Tozeur und Siliana) Aspekte der Regionalentwicklung diskutierte und entsprechende Beschlüsse fasste. Regionalpolitik steht aber auch außerhalb der Regierung hoch auf der Agenda. Innerhalb des Parlaments beschäftigt sich seit 2011 eine „Kommission für Regionalentwicklung“ mit den einschlägigen Sachverhalten. Selbst die politischen Parteien profilierten ihre Strategien und Vorschläge zur Regionalentwicklung, davon als eine der ersten die Linkspartei Al-Massar, die im Juni 2013 einen entsprechenden Entwicklungsplan vorlegte, sowie die 2012 neu gegründete Partei Nida Tounes, die seit 2015 Teil der Regierungskoalition ist.
Die Maßnahmen selbst lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: erstens die in der Verfassung vorgenommene Aufwertung der Regionen und die damit einhergehende Dezentralisierung, zweitens konkrete Einzelmaßnahmen, mit denen sofort besonders prekäre Ungleichheiten abgebaut werden sollen.
Die Problematik der ungleichen regionalen Entwicklung fand über die Stärkung der Lokalgewalten direkten Eingang in die Verfassung. Die Verfassung, nach jahrelangem parlamentarischem Traktieren und unter starkem öffentlichen Druck endlich im Januar 2014 verabschiedet, stärkte in Kapitel 7 („Die Lokalgewalt“, Artikel 131-142) deutlich die gewählten Regionalkörperschaften (Turki und Verdeil 2015). Entsprechend der Auffassung der Verfassunggebenden Versammlung, dass der Abbau von regionalen Ungleichheiten nur über Dezentralisierungsmaßnahmen führe bzw. Dezentralisierung und partizipative Demokratie der Schlüssel zur Entwicklung der Regionen sei, wurden auf städtischer und regionaler Ebene gewählte Räte eingeführt (Artikel 133). Artikel 134 gesteht den Räten, in denen auch der Jugend eine repräsentative Vertretung zugesichert wird, eigene Kompetenzen zu. In Artikel 135 wurde festgelegt, dass die Regionalkörperschaften über selbständig zu verwaltende finanzielle Ressourcen verfügen. Näheres soll das Gesetz regeln.
Angesichts der Tragweite des Dezentralisierungsgebotes wird derzeit im Parlament, das im Herbst 2014 neu gewählt wurde, um dessen gesetzliche Umsetzung heftig gerungen. Wann mit der Verabschiedung des Lokalverwaltungsgesetzes zu rechnen ist, kann nicht vorhergesagt werden. Ohne gesetzliche Grundlage, die auch die geographischen Grenzen der Territorialeinheiten festlegt, sind aber keine Kommunal- und Regionalwahlen möglich, die die Verfassungsregelung erst mit Leben erfüllen. Nach Ansicht tunesischer Politiker können solche Wahlen frühestens im ersten Halbjahr 2017 stattfinden. Immerhin hat das in Tunis reorganisierte „Zentrum zur Ausbildung und Unterstützung der Dezentralisierung“ (Centre de Formation et d’Appui à la Décentralisation) in Tunis im Jahr 2015 die Ausbildung von Kommunalbeamten, die bislang reine Exekutivbeamte des Innenministeriums waren, in Fragen der kommunalen Selbstverwaltung aufgenommen.
Seit 2011 standen zunächst die Verfassunggebung, die Reform des Bildungswesens, die Kontrolle des religiösen Sektors und eine Reform des Sicherheitssektors im Vordergrund der parlamentarischen Arbeit. Deshalb hatte die gesetzliche Neuordnung der Regionalentwicklung trotz aller Brisanz nur einen nachgeordneten Stellenwert. Neue, an die Erfordernisse besser angepasste Raumentwicklungspläne sind folglich bis heute nicht ausgearbeitet worden, und es blieb bei ausschließlich generellen Aussagen zugunsten einer für notwendig erachteten Entwicklung (Fourati 2012). Ein typisches Beispiel ist das lediglich auf zwei Seiten ausformulierte Bekenntnis zum „Gleichgewicht zwischen den Regionen“ in der vom Ministerium für Regionalentwicklung im Mai 2012 verabschiedeten „Entwicklungsstrategie des neuen Tunesien“. Erst im Juni 2015 organisierte das Ministerium für Ausrüstung, Wohnungsbau und Raumplanung einen ersten „nationalen Dialog“, um konkretere Schritte zu diskutieren und einzuleiten, darunter die Modifizierung des Raumordnungsgesetzes. Zugleich wurde im Ende 2015 verabschiedeten neuen Fünfjahresplan 2016-2020 der Regionalentwicklung ein größerer Stellenwert eingeräumt. Die darin enthaltene, extrem unrealistische Grundannahme von fünf Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum machte aus vielen Vorausberechnungen allerdings bereits Anfang 2016 Makulatur.
Der vom Ministerium für Regionalentwicklung im Dezember 2012 vorgeschlagene nationale Fonds zur Förderung privater und öffentlicher Investitionsprojekte in den Regionen wurde bislang nicht verwirklicht. Der seit Februar 2015 amtierende Finanzminister Slim Chaker kündigte im Juni 2015 die mit Hilfe der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau geplante Gründung einer „Banque des Régions“ (Regionalentwicklungsbank) an, die ab Sommer 2016 landesweit besonders Projekte von Frauen und jüngeren Tunesiern fördern soll.
Generell gilt zwar seitens der Regierung 2016 als das Jahr, in dem der Regionalentwicklung neue Impulse gegeben werden sollen, doch lässt das Fehlen einer kohärenten institutionellen und inhaltlichen Gesamtentwicklungsstrategie für die Regionen an einer nachhaltigen Umsetzung zweifeln (Bennasr 2015). Bislang dominierten eher reaktive Ad hoc-Handlungen. Meist handelte es sich nach lokalen Protesten oder Vorfällen um die Ankündigung von Sonderhilfen für die betroffenen Regionen. Zum Beispiel versprach Regierungschef Essid nach den Januarprotesten 2016 Hilfsmaßnahmen für Kasserine, und nach dem Angriff eines aus Libyen kommenden Kommandos des „Islamischen Staates“ auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane (Gouvernorat Médenine) im März 2016 wurden neue Entwicklungsprojekte für das Gouvernorat zugesagt.
Obwohl die Politik seit 2011 der Regionalentwicklung große Bedeutung zumaß, wurden die wenigsten der angekündigten Reform- und Entwicklungsmaßnahmen tatsächlich umgesetzt, und selbst die realisierten Maßnahmen blieben bislang ohne tiefgreifende und spürbare Wirkung. Dieser ernüchternde Sachverhalt ist nicht nur den fortbestehenden Kompetenzproblemen und dem Fehlen eines kohärenten Regionalentwicklungsplanes zuzuschreiben, sondern in erster Linie den Blockaden und negativen Entwicklungen geschuldet, denen Tunesien in Politik und Wirtschaft seit 2012 unterworfen ist. Die Wirksamkeit und Entfaltung der getroffenen Beschlüsse wurde durch die parteipolitischen Auseinandersetzungen, die negativen sicherheitspolitischen Entwicklungen und die sich verschärfende nationale Wirtschafts- und Finanzkrise stark behindert. Zudem wurde bislang die Weißbuch-Empfehlung bezüglich eines neuen Zuschnitts der Ministerien und die Kompetenzstärkung des Ressorts „Regionalentwicklung“ beharrlich ignoriert. Selbst in der im Februar 2016 gebildeten zweiten Regierung von Premierminister Essid sind immer noch mehrere Ministerien parallel mit dieser Aufgabe befasst. Die makroökonomische Abwärtsspirale Tunesiens, im Wesentlichen durch das Ausbleiben der Touristen und fehlender neuer ausländischer Direktinvestitionen sowie die hohe Anzahl von Streiks verursacht, hat den finanziellen Handlungsspielraum der Regierung zudem drastisch eingeschränkt. Der Staatshaushalt ist auf der Einnahmeseite durch wegbrechende Steuern, auf der Ausgabenseite allein durch die hohe Anzahl von rund 700.000 Staatsangestellten (2016: 23.000 zusätzliche Einstellungen) bei einer Gesamtbevölkerung von rund elf Millionen extrem belastet. Allein die Summe der zu zahlenden Gehälter ist wegen zahlreicher Neueinstellungen und Gehaltssteigerungen von sechs Milliarden Tunesischen Dinar im Jahr 2010 auf elf Milliarden im Jahr 2016 angestiegen. Damit fehlen die notwendigen Haushaltsmittel für substanzielle Maßnahmen der Regionalentwicklung. Die Folgen sind unübersehbar: Seit 2011 haben sich gerade in den besonders benachteiligten Regionen die Lebensbedingungen und die hohe Jugendarbeitslosigkeit weiter verschlechtert. Die Regierung Essid hat im Januar 2016 eingestanden, dass sie „keine Lösungen und keine Mittel“ zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat. Aber selbst wenn Projektmittel bewilligt sind, blockieren wie in Sidi Bouzid administrative Probleme oftmals die Umsetzung.
Die Bevölkerung, vor allem die Arbeit suchenden jüngeren Tunesierinnen und Tunesier, haben auf die aus ihrer Sicht unerfüllten Erwartungen einer Verbesserung ihrer Lebensumstände seit 2011 beharrlich mit Protestdemonstrationen reagiert. Das zivilgesellschaftliche und gewerkschaftsnahe Tunesische Forum für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung (Forum Tunisien de Développement Economique et Social/FTDES) sowie das 2013 vom FTDES gegründete Soziale Beobachtungszentrum (Observatoire Social Tunisien) dokumentieren die landesweiten Protestaktionen sowie die zunehmende Anzahl an Selbstmorden, die aus sozialen Gründen begangen werden. Das Zentrum hat im Zeitraum von 2011 bis 2016 eine ununterbrochene Serie von Protesten nachgewiesen, wobei die benachteiligten Verwaltungsbezirke Gafsa, Kasserine, Sidi Bouzid und Siliana besonders hervorstechen. Anlässlich des fünften Jahrestages der „tunesischen Revolution“ brachen im Januar 2016, ausgehend von Kasserine und Gafsa, im ganzen Land Proteste aus. Die Regierung reagierte nach dem Muster, das spätestens seit den Massenprotesten von Siliana im November 2013 bekannt ist: Zum einen verhängte sie zur unmittelbaren Beruhigung der Proteste eine Ausgangssperre und verstärkte die Militärpräsenz, zum anderen versprach sie sozioökonomische Sondermaßnahmen. Im Fall der Proteste vom Januar 2016 wurde zudem der erst im April 2015 in Gafsa eingesetzte Gouverneur Taieb Zarai abgesetzt. Er diente als Sündenbock, denn der Regierungschef warf ihm „Fehlleistungen“ vor, wohl wissend, dass angesichts beschränkter Haushaltsmittel spürbare Entwicklungsmaßnahmen und Projekte, die die Arbeitslosigkeit senken würden, nicht finanzierbar waren. Staatspräsident Caid Essebsi seinerseits nannte in einer Pressekonferenz die Protestaktionen zwar „legitim“, warnte aber vor ungerechtfertigten Überreaktionen und verwies auf das Erbe des alten Regimes. Die Regierung habe 2011 eine schwierige Situation übernommen, namentlich die hohe Armut im Landesinnern, die hohe Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen und die regionale Disparität. Der Präsident verlor kein Wort über die politischen Unzulänglichkeiten der seit 2011 amtierenden Regierungen und die aktuelle Blockade des politischen Prozesses durch die antagonistische Koalition aus islamistischen und säkularen Politikern, die in Machtfragen verheddert sind. Wie bereits 2013, als der Gewerkschaftsverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) als führender Teil des „Quartetts des nationalen Dialogs“ den stockenden Verfassungsprozess rettete, war es deshalb im März 2016 wieder die UGTT, die politisch intervenierte. Sie kritisierte deutlich die Unfähigkeit der Regierung Essid und warf ihr vor, die aktuellen Probleme nicht konsequent genug anzupacken. Die UGTT, die sich neben ihrem Einsatz für Arbeiterinteressen auch als Sprachrohr der Unzufriedenen und der „verärgerten Bevölkerung in den Regionen“ versteht, drohte mit der verstärkten Einmischung in die Politik. Monate mit anhaltend instabilen politischen Verhältnissen und neuen Protesten sind deshalb zu erwarten, vor allem weil eine schnelle Beseitigung der Unterentwicklung in den tunesischen Binnenregionen nicht zu bewerkstelligen ist. Mit ausländischen Hilfen lässt sich vielleicht die Infrastruktur verbessern, aber kaum Anreize für arbeitsplatzschaffende Unternehmen schaffen. Ausländische Direktinvestoren bevorzugen derzeit deutlich das weitaus stabilere Marokko.
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