GIGA Focus Middle East
Number 8 | 2017
Since 2014 more than three million people have fled the so-called “Islamic State” in Iraq. More than half of them remain displaced even though most occupied areas have effectively been liberated. What prevents these people from returning to their home regions? Recent survey data show that sustainable return movements require more than a stabilisation of the security situation.
Security is a key prerequisite but not a sufficient condition for the return of internally displaced people. Survey data underscore that families place equal weight on the general social and economic environment in their home regions. They will come back only if they are convinced that at least their basic humanitarian needs can be fulfilled in these communities.
Many families fear social conflict in their home regions. Tensions have increased in many areas as a consequence of changes to the ethno-sectarian composition of the population. Sustainable return movements will only materialise where the stabilisation of the security situation is accompanied by the restoration of a minimum of local-level social peace.
The administrative challenges related to the organisation of return movements exceed the capacities of Iraqi state institutions. Even if all of the above-mentioned political and socio-economic requirements could be met, the reintegration of hundreds of thousands of internally displaced people could still be thwarted by missing formal identity and property documents.
The return of internally displaced people is an important precondition for the long-term stabilisation of Iraq. The Iraqi government and its international partners – Germany, among others – can effectively facilitate return movements if they consider the specific needs of internally displaced people in addition to focusing on security and physical reconstruction: supporting social cohesion and strengthening local state administration.
Nachdem irakische Truppen im Oktober 2017 auch die letzten Bastionen des sogenannten „Islamischen Staates“ im Irak befreit haben, stehen neue Herausforderungen im Fokus der Regierung und ihrer internationalen Partner. Die langfristige Stabilisierung und Entwicklung des Landes hängen auch von der Zukunft der mehr als 3 Millionen Binnenvertriebenen ab. Der Großteil von ihnen ist seit dem Jahr 2014 vor der Herrschaft der Terrormiliz geflohen. Mit der Rückeroberung besetzter Gebiete scheinen nun die zentralen Voraussetzungen für eine Rückkehr gegeben zu sein. Entsprechend ehrgeizig sind die Ziele der irakischen Regierung: Im Juni 2017 hat Premierminister Haider al-Abadi seinen Plan für den Wiederaufbau des Irak vorgestellt. Danach sollen binnen zehn Jahren alle vertriebenen Personen an ihre jeweiligen Herkunftsorte zurückkehren.
Allerdings bleibt die sozio-ökonomische Situation vieler vormals besetzter Gebiete äußerst prekär. In Folge militärischer Kämpfe wurden grundlegende Infrastrukturen wie Straßen, Schulen, Krankenhäuser und Wohngebäude breitflächig zerstört; landesweit sind mehr als 10 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Viele Familien fürchten eine Zunahme sozialer Spannungen entlang bestehender ethnisch-konfessioneller und neuer kriegsbedingter Konfliktlinien – etwa zwischen Geflohenen und Gebliebenen. Menschenrechtsorganisationen warnen davor, dass die ehrgeizigen Ziele der Regierung dazu führen könnten, dass Rückkehrbewegungen von staatlicher Seite gegen den Willen der Vertriebenen forciert werden (Refugees International 2017).
Damit verbunden stellen sich Fragen nach den Voraussetzungen einer freiwilligen Rückkehr: Wo lassen sich bereits besonders starke Rückkehrbewegungen beobachten? Wie unterscheiden sich die entsprechenden Gemeinden von anderen Orten? Welche Voraussetzungen müssen jenseits physischer Sicherheit gegeben sein, um Rückkehrprozesse zu erleichtern? Zur Beantwortung dieser Fragen werden u.a. die jüngsten Erhebungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) genutzt. Die Ergebnisse qualitativer Befragungen verschiedener Hilfswerke im Irak ergänzen die vergleichenden Analysen statistischer Daten.
Die effektive Unterstützung von Rückkehrprozessen erfordert ein fundiertes Verständnis lokaler Rahmenbedingungen und Bedarfe. Verschiedene nationale und internationale Organisationen sammeln entsprechende Daten – allen voran die IOM. Im Jahr 2017 hat sie die bis dato umfassendste Erhebung von Rückkehrbewegungen und Merkmalen aufnehmender Gemeinden durchgeführt. Die Daten basieren vorwiegend auf Befragungen von Vertriebenen und zurückgekehrten Familien. Die entsprechenden Interviews umfassen Themenblöcke zu den politischen, sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen – etwa zur Anzahl von Vertriebenen und Rückkehrern, zur Sicherheitssituation und zu den Zugängen zu verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Basisdienstleistungen wie Wasser, Bildung und Gesundheit. Die Erhebungen wurden Ende Mai 2017 abgeschlossen.
Die Datensammlung umfasst landesweit fast 4.000 Gemeinden mit einer Gesamtzahl von ca. 1,7 Millionen Rückkehrern – damit erreicht die Erhebung eine Abdeckung von ca. 90 Prozent der relevanten Gemeinden. Davon waren über 500 zeitweise vollständig durch den „Islamischen Staat“ besetzt. Erwartungsgemäß ist die Anzahl der Vertriebenen in diesen Gemeinden am höchsten (IOM 2017b). Alle nachfolgenden Auswertungen konzentrieren sich auf diese besonders betroffenen Gebiete; die Stichprobe ist zudem auf Orte mit einer überdurchschnittlichen Bevölkerungsdichte begrenzt (zum Ausschluss besonders kleiner, dünn besiedelter Gemeinden). Abbildung 1 zeigt die räumliche Abdeckung der IOM-Befragung sowie die Verteilung besetzter Gemeinden und die räumliche Varianz der Vertreibungen.
Die vertriebene Bevölkerung setzt sich zu über 80 Prozent aus arabischen Sunniten zusammen – diese bilden die Bevölkerungsmehrheit im Nordosten des Irak, wo sowohl die Präsenz des „Islamischen Staates“ als auch die damit verbundenen militärischen Auseinandersetzungen am stärksten ausgeprägt waren. Innerhalb dieser Gruppe besteht ein hohes Maß an Heterogenität in Bezug auf regionale Herkunft und Clan-Zugehörigkeiten. Ungefähr 90 Prozent der Familien wurden aus den zentralen und nördlichen Provinzen von Ninewa, Anbar und Salah al-Din vertrieben – die Mehrheit von ihnen ist innerhalb dieser Regionen an vermeintlich sicherere Orte geflohen (rund 66 Prozent), während ca. ein Drittel in den kurdischen Provinzen Zuflucht gesucht hat. Rund die Hälfte der Vertriebenen ist weiblich, jede/r dritte ist unter 13 Jahre alt. Während die meisten Vertriebenen eine Rückkehr in ihre Heimatregionen anstreben, gibt ca. die Hälfte an, bis auf Weiteres an ihrem aktuellen Aufenthaltsort verbleiben zu wollen (IOM 2017b). Welche Faktoren halten sie von einer Rückkehr ab?
Es erscheint naheliegend, dass die physische Sicherheit der Heimatgemeinden eine zentrale Voraussetzung für die Rückkehr darstellt – insbesondere in Gebieten, die erst kürzlich von terroristischer Kontrolle befreit wurden. In vielen Gemeinden ist die staatliche Präsenz weiterhin gering. Hier liegt die effektive Kontrolle bei verschiedenen lokalen Milizen, die entweder bereits vor der Besetzung durch den „Islamischen Staat“ einflussreich waren oder ihre Machtposition im Kontext der Befreiungskampagne ausbauen konnten. Unsicherheit folgt nicht nur aus dem anhaltenden Risiko terroristischer Angriffe. Der „Islamische Staat“ hat viele Gegenden unter seiner Kontrolle breitflächig vermint. Über 10 Prozent aller Gemeinden sind weiterhin durch Minen und verschiedene „unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen“ (Improvised Explosive Devices, IEDs) kontaminiert – mit hoher regionaler Varianz: In der Provinz Anbar sind über 80 Prozent der Gemeinden betroffen (IOM 2017b). Viele Gegenden weisen zudem auch hohe und steigende Kriminalitätsraten auf – insbesondere bei Delikten wie Entführungen und Raub (IOM 2017b). Wie hängen diese Dimensionen physischer Sicherheit mit der Anzahl der Rückkehrer zusammen?
Die Balken in Abbildung 2 markieren die durchschnittliche Anzahl an Rückkehrern pro Gemeinde. Die vertikalen Linien zeigen sogenannte „Konfidenzintervalle“; wenn diese nicht überlappen, besteht eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass zwischen den jeweils relativ sicheren und unsicheren Dörfern ein Unterschied im Hinblick auf die Anzahl der Rückkehrer besteht. Erwartungsgemäß wirken anhaltende terroristische Angriffe als zentrales Hindernis für die Rückkehr. Die einfachen Vergleiche spiegeln Befragungen von Vertriebenen innerhalb des Irak wieder: Ca. 30 Prozent von ihnen geben an, dass anhaltende gewaltsame Auseinandersetzungen und die damit einhergehenden akuten physischen Bedrohungen in ihren Heimatgemeinden sie von der Rückkehr abhalten (MMP 2017). Gegenüber solchen manifesten physischen Bedrohungen scheint das Kriminalitätsniveau nicht entscheidend zu sein.
Abbildung 2 zeigt auch, dass der Grad der staatlichen Kontrolle keine zentrale Rolle für die Entscheidung zur Rückkehr zu spielen scheint. Weder zieht staatliche Präsenz Rückkehrer an, noch wirkt ihre Abwesenheit als Hindernis für die Rückkehr. Qualitative Erhebungen bestätigen diese Beobachtung: Entscheidend ist die Effektivität der Sicherheitsleistung und weniger der Akteur, der sie erbringt. Die irakischen Sicherheitskräfte sind nicht sonderlich beliebt; dennoch empfinden viele Menschen den Staat als „geringstes Übel“. Umgekehrt sind auch nichtstaatliche Sicherheitsakteure für viele Menschen akzeptabel – wenn familiäre oder andere soziale Verbindungen zu den entsprechenden Milizen einen gewissen Schutz garantieren (Refugees International 2017).
Besonders durch Sprengkörper kontaminierte Dörfer weisen substanziell geringere Rückkehrerzahlen auf. Qualitative Befragungen zeigen, dass viele Vertriebene ihre Rückkehr von einer effektiven Räumung abhängig machen. Der „Islamische Staat“ hat vor allem Wohnhäuser, Moscheen und landwirtschaftliche Nutzflächen vermint. Wiederholte Zwischenfälle mit zahlreichen Verletzten und Todesfällen unterstreichen die daraus folgende Sicherheitsbedrohung (Refugees International 2017). Während eine Räumung in einigen Gebieten bereits effektiv voranschreitet, bleibt die Beseitigung von Sprengfallen eine enorme Herausforderung für die irakische Regierung und ihre internationalen Unterstützer.
Die erwarteten Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowie der Grad der sozialen Kohäsion können eine wichtige Rolle für die Entscheidung zur Rückkehr spielen. Befürchtungen einer politischen oder wirtschaftlichen Diskriminierung können eine Rückkehr ebenso verhindern wie Ängste vor sozialen Spannungen und Ausgrenzungen. In Folge von Gewalt und Vertreibung hat sich die soziale Zusammensetzung vieler Gemeinden im Irak verändert. Wenngleich nur etwa fünf Prozent eine deutliche Verschiebung ethnisch-konfessioneller Mehrheitsverhältnisse aufweisen, haben sich vielerorts die Clan-Strukturen verschoben (IOM 2017b). Abhängig von der Identität der Vertriebenen können veränderte Machtkonstellationen das Risiko einer Diskriminierung durch die lokale Verwaltung ebenso erhöhen wie die Gefahr sozialer Ausgrenzung.
Im Rahmen der IOM-Erhebung wurden lokale Informanten danach befragt, ob in ihren jeweiligen Gemeinden in der Vergangenheit Diskriminierungen in der Vergabe staatlicher Hilfen, im Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten und im Hinblick auf die politische Teilhabe einzelner Bevölkerungsgruppen zu beobachten waren. Die Daten zeigen keinen substanziellen Zusammenhang zwischen dem Grad der Diskriminierung und der Anzahl der Rückkehrer. Anders sieht es bei der sozialen Kohäsion aus: Gemeinden, in denen unterschiedliche Bevölkerungsteile häufig zur Realisierung gemeinsamer Ziele zusammenarbeiten – etwa für den lokalen Wiederaufbau –, weisen deutlich höhere Rückkehrerzahlen als Vergleichsgemeinden auf.
Dieses Muster deckt sich mit qualitativen Untersuchungen. Unter Vertriebenen und Rückkehrern besteht eine weit verbreitete Angst vor Spannungen zwischen konfessionellen, ethnischen und clan-basierten Gruppen. Innerhalb der Gruppe der Sunniten resultieren Spannungen auch aus wechselseitigem Misstrauen, das in Hinblick auf die jeweilige Positionierung gegenüber dem „Islamischen Staat“ besteht. Hinzu kommen Konfliktlinien zwischen Vertriebenen und Familien, die auch während der Phase der Besatzung in ihren Heimatgemeinden verblieben sind (Refugees International 2017). Ungefähr ein Viertel der Vertriebenen geht von gesteigerten sozialen Spannungen in ihren jeweiligen Heimatgemeinden aus. Mehr als 40 Prozent weigerten sich anzugeben, wie sie sich nach ihrer Rückkehr im Hinblick auf die lokalen sozialen Beziehungen fühlen würden – 13 Prozent gaben an, sich sehr oder in gewissem Maße unwohl zu fühlen (IOM 2017c). Die hohe Anzahl verweigerter Antworten unterstreicht die Bedeutung und die Sensibilität der Thematik, wobei die entsprechenden Ängste und Unsicherheiten Rückkehrentscheidungen negativ beeinflussen können.
Infolge der flächendeckenden Zerstörung von Schulen, Gesundheitszentren und Wasserversorgungsystemen sind selbst die grundlegenden Voraussetzungen für eine nachhaltige Wiederansiedlung in vielen Gemeinden nicht gegeben. Gleichzeitig liegt die Wirtschaft vielerorts brach. Landwirtschaftliche Flächen können aufgrund von Sprengfallen nicht genutzt werden und die fehlende Energieversorgung verhindert die Produktivität anderer Wirtschaftszweige. Die Zerstörung von Transportinfrastrukturen blockiert Wirtschaftskreisläufe, die über einzelne Ortschaften hinausgehen. In Dreiviertel aller Gemeinden existieren keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bevölkerung (IOM 2017a).
Abbildung 4 unterstreicht die hohe Bedeutung sozialer Infrastrukturen – hier insbesondere die Wasserversorgung und Bildungsmöglichkeiten. Erhebungen verschiedener Hilfswerke im Irak bestätigen, dass Vertriebene ihre Rückkehrentscheidung nicht alleine auf Basis der Sicherheitssituation treffen, sondern die Verfügbarkeit grundlegender sozialer Basisdienstleistungen mit einbeziehen. Über 40 Prozent der Vertriebenen geben an, dass fehlende Basisdienstleistungen zu den zentralen Hindernissen einer Rückkehr gehören (IOM 2017b). Unzureichende Qualität und Quantität von Trinkwasser stellen nach Angaben der Befragten eine zentrale Herausforderung dar – nicht nur für die Rückkehrentscheidung selbst, sondern auch für die Lebensbedingungen nach der Rückkehr. Viele vertriebene Kinder verfügen nur außerhalb ihrer Heimatgemeinden über grundlegende Bildungsmöglichkeiten. Eltern betonen, dass sie erst dann zu einer Rückkehr bereit sind, wenn sie sicherstellen können, dass ihre Kinder ihre Schulbildung in ihren Heimatgemeinden fortsetzen können (Refugees International 2017).
Die beiden hier betrachteten wirtschaftlichen Infrastrukturen (Stromversorgung und Transport) scheinen im direkten Vergleich nur eine moderate Rolle zu spielen. Dem stehen qualitative Erhebungen entgegen: Umfragen aus dem Jahr 2016 bestätigen die hohe Priorität der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Rückkehrgebieten. Unter den Rückkehrern gaben 35 Prozent an, dass sie sich erst dann zu einer dauerhaften Wiederansiedlung entschieden hatten, als in den Heimatgemeinden die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme einkommensgenerierender Tätigkeiten geschaffen waren. Selbst die Familien, die sich trotz fehlender sozialer Basisdienstleistungen für eine Rückkehr entschieden hätten, wurden letztendlich von besonders prekären wirtschaftlichen Aussichten davon abgehalten. Entscheidend ist hier vor allem, dass sonst die finanziellen Möglichkeiten, für den Wiederaufbau zerstörter Wohnungen und die Sicherstellung eines grundlegenden Lebensunterhalts fehlen (Refugees International 2017). Der Unterschied zwischen den quantitativen Vergleichen (siehe Abbildung 4) und den Ergebnissen qualitativer Befragungen ergeben sich aller Wahrscheinlichkeit nach daraus, dass die lokalen wirtschaftlichen Kapazitäten von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren jenseits der hier betrachteten Infrastrukturen abhängen – etwa von den jeweils dominanten Wirtschaftszweigen und der wirtschaftlichen Situation vor dem Jahr 2014.
In Folge von Besatzung und militärischen Kämpfen wurden unzählige Gebäude im Nordosten Iraks unbewohnbar, weil sie teilweise oder vollständig zerstört oder mit Sprengfallen versehen worden waren. Vielerorts steht damit nicht ausreichend adäquater Wohnraum zur Verfügung. In nur ca. einem Fünftel aller Gemeinden wohnen die Rückkehrer in intakten Gebäuden; in rund 60 Prozent leben zurückgekehrte Familien in teilweise zerstörten Gebäuden (IOM 2017b). Auch hier findet sich ein hohes Maß regionaler Varianz – abhängig vom vorherigen Kriegsverlauf. In der Provinz Diyala beispielsweise leben Rückkehrer in fast allen untersuchten Gemeinden in teilweise oder vollständig zerstörten Gebäuden (IOM 2017b).
Trotz einer Knappheit des Wohnraums scheinen die Rückkehrbewegungen selbst nicht maßgeblich durch das Ausmaß der Zerstörung determiniert zu sein. Dies spiegelt sich in den systematischen qualitativen und quantitativen Befragungen von Vertriebenen und Rückkehrern wider: Auch hier deuten die Daten darauf hin, dass viele Familien bereit sind, Beeinträchtigungen ihres Wohnraums in Kauf zu nehmen (IOM 2017c).
Von größerer Bedeutung als der physische Schaden scheint die administrative Abwicklung des Rückzugs zu sein. Zahlreiche Vertriebene habe Dokumente wie Identitätsbescheinigungen und Besitzurkunden für Land und Wohnraum bei der Flucht zurücklassen müssen oder unterwegs verloren; andere administrative Informationen wurden systematisch durch den „Islamischen Staat“ zerstört. Unter anderem verhindert die fehlende Dokumentation rechtskräftiger Belege die Klärung von Besitzverhältnissen. Als Konsequenz müssen hunderttausende Iraker entweder eine Möglichkeit finden, ihre Papiere zu ersetzen, oder andere Wege identifizieren, um ihre Besitzrechte zu belegen. Dies unterstreicht die zentrale Rolle lokaler staatlicher Kapazitäten in der Unterstützung oder Behinderung von Rückkehrbewegungen. Einige humanitäre und Menschenrechtsorganisationen haben damit begonnen, Hilfsprojekte zu implementieren, die darauf abzielen, Vertriebene dabei zu unterstützen notwendige Dokumente wiederzuerlangen. Allerdings überschreitet der hohe Unterstützungsbedarf derzeit noch bei weitem die bestehenden Angebote (Refugees International 2017). Die fehlenden Kapazitäten der Verwaltung wirken damit als bedeutendes Hindernis für die Beförderung von Rückkehrprozessen.
Die Debatten über die Rückkehr von Binnenvertriebenen fokussieren naturgemäß auf die Beseitigung der ursprünglichen Fluchtursachen und damit auf die Wiederherstellung physischer Sicherheit. Tatsächlich basieren Rückkehrentscheidungen auf einer komplexen Kombination unterschiedlicher politischer, ökonomischer und sozialer Faktoren. Sicherheit ist eine zentrale Voraussetzung, aber bei weitem nicht die einzige Bedingung für eine Rückkehr. Internationale Organisationen können Rückkehrprozesse unterstützen. Entscheidend ist hier nicht nur die Bereitstellung entsprechender Ressourcen, sondern vor allem auch eine bedarfsorientierte Priorisierung und Umsetzung.
Nach der Befreiung der nordöstlichen Gebiete des Landes von der Kontrolle des „Islamischen Staates“ wurden zentrale Voraussetzungen für einen schrittweisen Übergang aus der humanitären Hilfe in eine längerfristige Entwicklungszusammenarbeit geschaffen. Wenngleich dies eine notwendige Weiterentwicklung der internationalen Unterstützung in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung widerspiegelt, geht damit auch das Risiko einher, dass die Bedarfe einzelner Bevölkerungsgruppen aus dem Fokus geraten. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass unter anderem auch das deutsche Engagement im Irak die spezifischen Voraussetzungen für eine Rückkehr Vertriebener in der Planung von Hilfsmaßnahmen weiterhin adäquat berücksichtigt – insbesondere in Bezug auf eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der lokalen staatlichen Verwaltung. Die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ geben die Standards für das entsprechende Engagement vor.
Der Wiederaufbau grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Infrastrukturen ist entscheidend für eine nachhaltige Rückkehr – unter anderem in Bezug auf Wasserversorgung und Bildungsangebote. Allerdings läuft ein rein technischer Fokus auf die Konstruktion der Infrastrukturen Gefahr, wichtige Dimensionen des Rückkehrprozesses außer Acht zu lassen. Erforderlich ist vor allem eine sorgfältige, konfliktsensible Umsetzung, die soziale Spannungen in der Mittelallokation und in der Gestaltung der Umsetzungsverfahren berücksichtigt. Ergänzende Vorhaben können Versöhnungsprozesse auf der lokalen Ebene gezielt unterstützen – etwa durch integrative Planung und Umsetzung. Gerade in besonders heterogenen und von Gewalt betroffenen Kontexten können solche Maßnahmen auch soziale Konflikte befördern – sie erfordern eine besonders sorgfältige und kontextspezifische Auswahl von möglichen Projektstandorten, Zielgruppen und Maßnahmentypen.
Die administrative Organisation der Rückkehr stellt enorme Herausforderungen an die staatliche Verwaltung des Irak. Eine nachhaltige Rückkehr erfordert den Zugang zu Identitätsnachweisen und Besitzurkunden ebenso wie die zivile Bearbeitung von Streitigkeiten im Hinblick auf den Besitz von Land und Wohnraum. So kann die Entwicklungszusammenarbeit die verantwortliche dezentrale Verwaltung durch den Wiederaufbau von Verwaltungsinfrastrukturen und die Stärkung der technischen Kapazitäten der entsprechenden staatlichen Dienste effektiv unterstützen. Ohne solche ergänzenden Maßnahmen besteht das Risiko, dass, selbst wenn physische Rückkehrvoraussetzungen geschaffen sind, diese angesichts weiter bestehender administrativer Hürden keine substanziellen Beiträge zu einer freiwilligen, sicheren und würdevollen Rückkehr leisten können.
International Organization for Migration (2017a), Integrated Location Assessment - data, http://iraqdtm.iom.int (9. Oktober 2017).
International Organization for Migration (2017b), Integrated Location Assessment - report, http://iraqdtm.iom.int/Downloads.aspx (9. Oktober 2017).
International Organization for Migration (2017c), Obstacles to Return in Retaken Areas of Iraq, Baghdad: IOM Iraq Mission, http://iraqdtm.iom.int/Downloads.aspx (9. Oktober 2017).
IOM siehe International Organization for Migration
Mixed Migration Platform (2016), IDP Perceptions in Northern Iraq, http://mixedmigrationplatform.org/review/idp-perceptions-in-northern-iraq/ (9. Oktober 2017).
MMP siehe Mixed Migration Platform
Refugees International (2017), Too Much Too Soon – Displaced Iraqis and the Push to Return Home, Washington, DC: RI, http://www.refugeesinternational.org/reports/2017/iraq (9. Oktober 2017).
De Juan, Alexander (2017), The Return of Internally Displaced People within Iraq: Security Alone Is Not Enough, GIGA Focus Middle East, 8, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-55272-8
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