GIGA Focus Nahost

Vom Überfluss zur Knappheit: Die arabischen Golfstaaten unter Druck

Nummer 6 | 2019 | ISSN: 1862-3611


  • Arbeiter auf einem Ölfeld in Saudi-Arabien.
    © Reuters / Ali Jarekji

    Trotz massiver Produktionsausfälle durch die Angriffe auf saudi-arabische Ölförderanlagen am 14. September 2019 blieb der Ölpreis stabil. Dies verdeutlicht zweierlei: Eine Rückkehr zum Preisniveau von über 100 USD ist sehr unwahrscheinlich, und die ölexportierenden arabischen Golfstaaten stehen weiterhin unter massivem Anpassungsdruck.

    • Die Schwäche des Ölpreises seit dem Jahr 2014 ist im Gegensatz zu früheren Phasen von Ölpreisrückgängen nicht zyklisch, sondern strukturell. Sie ist das Ergebnis einer stark gestiegenen Förderung unkonventioneller Öle und dürfte sich langfristig aufgrund des zu erwartenden Nachfragerückgangs nach Kohlenwasserstoffen noch verstärken.

    • Die erfolgreiche Einbindung Russlands in eine Kooperation der Ölproduzenten hat nur zu einer begrenzten Erholung des Ölpreises geführt. Damit ist im arabischen Golf das Ende der Ära des Ölüberflusses eingeläutet.

    • Arbeitsmigranten stellen bereits heute als sozial Schwächste die Hauptleidtragenden der Anpassungspolitiken dar. Die Besteuerung der eigenen Bevölkerung und die Reform des öffentlichen Sektors erfolgten seit dem Jahr 2014 dagegen bestenfalls halbherzig.

    • Die Unterschiede bei der Bewältigung des Anpassungsdrucks zwischen den Golfstaaten sind auf die länderspezifischen Institutionengefüge zurückzuführen. Diese werden auch zukünftige Reformpolitiken prägen. Konflikte wegen der Verteilung der knapper gewordenen Öleinnahmen werden zunehmen. Die Bedeutung des Golfkooperationsrates wird sich verringern.

    Fazit

    Die Arbeitsmigranten in den arabischen Golfstaaten verfügen über keinerlei ­eigene Organisationsmacht. Deshalb sollten sowohl die deutsche als auch die ­europäische Politik verstärkt darauf dringen, dass deren soziale Menschenrechte geachtet werden. Im Fokus der Politik sollte dabei das Engagement privatwirtschaftlicher europäischer Akteure stehen, weil vor allem Privatunternehmer für Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migranten verantwortlich sind.

    Nicht zyklisch, sondern strukturell: Der Ölpreisrückgang seit dem Jahr 2014

    Hatte der Rohölpreis im Jahresdurchschnitt zwischen 2011 und 2013 noch Rekordhöhen von über 100 USD pro Fass erreicht, so fiel er im Jahr 2016 auf unter 50 USD (siehe Abb. 1). Dass er sich in den Folgejahren phasenweise leicht erholte und im Jahr 2018 im Jahresdurchschnitt auf über 70 USD stieg, änderte nichts daran, dass die sechs Staaten des Golfkooperationsrates (GCC) – Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (V.A.E.) – im Jahr 2018 im Vergleich zum Anfang des Jahrzehnts über kaum mehr als die Hälfte der damaligen Erdöleinnahmen verfügten.

    Grafische Darstellung von Rohölpreisen in USD pro Fass.
    © BP 2019.
    Abb. 1 Rohölpreise in USD pro Fass (inflationsbereinigt 2018)

    Seit fast fünfzig Jahren ist der Erdölpreis immer wieder Schwankungen ­unterworfen. Aktuell spricht allerdings vieles dafür, dass der Preisverfall seit dem Jahr 2014 nicht zyklischer, sondern struktureller Natur ist. Eine Rückkehr zu Ölpreisen von über 100 USD bleibt somit auf absehbare Zeit sehr unwahrscheinlich (Beck 2019). Dies liegt vor allem an technologischen Innovationen beim hydraulischen Frakturieren – kurz Fracking. In diesem Verfahren wird eine chemisch aufbereitete Mischung aus Wasser und Sand mit hohem Druck in Ölschiefer gepresst, um Gas und Öl zu gewinnen. Fracking bei Schieferölen, deren weltweit größte Vorkommen sich in den USA befinden, hat dazu geführt, dass der Weltmarkt mittelfristig mit ausreichend Erdöl zu einem Preis von ungefähr 50 USD versorgt werden kann. Bei diesem Preisniveau sind Explorationskosten für neue Schieferöllagerstätten gedeckt (Rosenberg 2019). Darüber hinaus ist es den USA aufgrund des Fracking-Booms gelungen, im Jahr 2018 zum weltweit größten Ölproduzenten aufzusteigen. In den Zeiten der klassischen Erdölpreisrevolution in den 1970er Jahren orientierte sich die Preisobergrenze für Öl an den Substitutionskosten für konventionelles Öl, von denen die größten Lager in der Golfregion liegen. Aktuell kommt diese Rolle den Schieferölen zu.

    Diese Produktionsverlagerung zugunsten der USA ist zwar keineswegs nachhaltig, da die USA aufgrund ihrer im Verhältnis zu den nachgewiesenen Vorräten extrem hohen Fördermengen rechnerisch nur noch ein Jahrzehnt auf dem heutigen Niveau produzieren können. Hingegen wären hierzu Saudi-Arabien noch über sechzig und Kuwait sogar über neunzig Jahre in der Lage (BP 2019: 16). Eine Rückkehr zur Dominanz konventionellen Erdöls im globalen Energiemarkt ist dennoch nicht zu erwarten: Zum einen ballen sich die Vorkommen anderer unkonventioneller Öle und Schweröle ebenfalls in den Amerikas, und zum anderen sollten im Zuge der Energiewende kohlenwasserstoffbasierte Energieträger generell an Bedeutung verlieren.

    Tabellarische Darstellung Break-Even-Preise und durchschnittliche Ölpreise in USD.
    © Break-Even-Preise: International Monetary Fund (2019); durchschnittlicher Ölpreis: OPEC (2019).
    Tabelle 1 Break-Even-Preise und ­durchschnittliche Ölpreise in USD, 2013-2019

    Bis zum Jahr 2014 hatten die autoritären Regime am Golf noch über Öleinnahmen im Überfluss verfügt. Damit konnten sie ihre Bevölkerung durch üppige Subventionen und die Bereitstellung finanziell attraktiver Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor massiv alimentieren. Die Zahlen zu den Öleinnahmen pro Kopf in Tabelle 2 weisen darauf hin, dass die Ära des Überflusses insbesondere für Bahrain, Oman und Saudi-Arabien, aber auch für die V.A.E. ein Ende gefunden hat, während sie in Kuwait sowie in Katar, das über außerordentlich hohe Einnahmen aus seiner Produktion von verflüssigtem Erdgas verfügt, zunächst wohl anhalten kann.

    Öleinnahmen pro Kopf in USD
    © The World Bank 2019.
    Tabelle 2 Öleinnahmen pro Kopf in USD

    Das Ende der Ära des Ölüberflusses für vier der sechs Mitgliedsstaaten des GCC ist auch eine Folge des jährlichen hohen Zuwachses an heimischen Arbeitskräften in den Arbeitsmärkten der bevölkerungsreicheren Golfstaaten: Saudi-Arabien, aber auch die V.A.E. und Oman weisen trotz dramatischer Rückgänge seit den 1980er Jahren bis ins 21. Jahrhundert hinein ein immer noch hohes Bevölkerungswachstum auf. Unter anderen sozioökonomischen Rahmenbedingungen könnte dies eine dynamische ökonomische Entwicklung begünstigen, jedoch kaum im arabischen Golf. Dies liegt zum einen daran, dass der Privatsektor für einheimische Arbeitskräfte aufgrund der wesentlich schlechteren Entlohnung gegenüber dem öffentlichen Sektor unattraktiv ist. Zum anderen bietet die Staatsbürokratie höheres Prestige und bessere Arbeitsbedingungen, etwa in Form kürzerer Arbeitszeiten. Die autoritären Regime am Golf sehen zwar die wirtschaftliche Notwendigkeit, den aufgeblähten öffentlichen Sektor zu beschneiden, stehen aber gleichzeitig unter sozialem Druck, davon abzulassen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Erwartungen der Bevölkerung an den Staat seit den 1970er Jahren von Generation zu Generation gestiegen sind: So sehen sich die Regierungen gezwungen, einen Großteil ihrer Öleinnahmen für Ausgaben im Bildungssektor aufzuwenden, der dann aber Arbeitskräfte hervorbringt, die überwiegend in den unproduktiven öffentlichen Sektor streben (Cammett u. a. 2015: 145, 333–342).

    OPEC+: Die Kooperation der Ölproduzenten

    Die wichtigste außenpolitische Anpassungsmaßnahme der Golfstaaten an die im Jahr 2014 gefallenen Erdölpreise bestand darin, die Kooperation zwischen den Erdölexporteuren zu intensivieren. Nach einer ersten Phase der Untätigkeit und gescheiterter Versuche, die Ölpreise durch eine Kooperation der Ölproduzenten zu stabilisieren, gelang dies – ähnlich wie in den frühen 1980er Jahren – im Jahr 2016 unter Führung Saudi-Arabiens.

    Den Mitgliedern der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) war bewusst, dass angesichts der stark gestiegenen Bedeutung von Erdölexporteuren außerhalb der Organisation eine effektive Kooperation nur unter Einbeziehung Russlands erfolgversprechend wäre. Ein erster, in Verhandlungen in Doha angestrengter Versuch, eine OPEC+ aus der Taufe zu heben, scheiterte im April 2016 noch an Saudi-Arabien, das verhindern wollte, dass Iran als sein Hauptkonkurrent um die machtpolitische Vorherrschaft im Nahen Osten von höheren Ölpreisen profitiert. Bei einem neuerlichen Gipfeltreffen in Wien am Jahresende 2016 gelang dann aber doch eine Quotenregelung, die dazu beitrug, dass sich der Ölpreis leicht erholt hat (siehe Abb. 1). Dies ist bemerkenswert, da alle Beteiligten vor einem Dilemma stehen: Halten sich die Produzenten an die vereinbarten Produktionsquoten, erzielen sie pro Fass verkauften Erdöls zwar höhere Einnahmen, als wenn sie ihre Quote überziehen, aber jeder einzelne der Ölproduzenten kann sich durch eine einseitige Produktionsausweitung auf Kosten der anderen noch höhere Einnahmen sichern (Beck 1997).

    Die aktuelle Kooperation der OPEC mit Russland hat einen historischen Vorläufer. Die zu Beginn der 1980er Jahre etablierte Produktionskontrolle litt jedoch daran, dass etliche OPEC-Mitglieder ihre Quoten kontinuierlich und systematisch überschritten. Da sich zudem Ölförderstaaten außerhalb der Organisation als Trittbrettfahrer betätigten, erwirkte Saudi-Arabien Ende des Jahres 1985 einen Mehrheitsbeschluss, der das Quotensystem aussetzte und den Produzenten außerhalb der OPEC einen Preiskrieg aufzwang (Alt, Calvert und Humes 1988: 455–457). In der Folge hat insbesondere Saudi-Arabien seine Ölproduktion bis in die jüngste Gegenwart hinein massiv ausgeweitet. Allerdings fällt auf, dass die großen Ölproduzenten der Golfhalbinsel – Saudi-Arabien, Kuwait und die V.A.E. – im Vergleich zu Produzenten jenseits dieser Region einen höheren Anteil ihres Öls im Boden belassen (BP 2019: 14–16) – und dies, obwohl die Produktionskosten in der Golfregion außerordentlich niedrig sind. Dies weist darauf hin, dass die Golfstaaten auch nach dem Ende der förmlichen Quotenregelung Mitte der 1980er Jahre ihre Produktion „künstlich“ drückten, um einen weiteren Preisverfall zu verhindern. Dies geschah, um pro Fass Erdöl höhere Einnahmen zu erzielen, als ihnen dies durch marktkonformes Verhalten möglich gewesen wäre. Gleichwohl hatten das Scheitern der Kooperation und die saudische Flutung des Erdölmarktes in den Jahren 1985/1986 gravierende Folgen, trugen sie doch zu einem langanhaltenden Preisrückgang bei (vgl. dazu Abb. 1).

    Somit stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit der seit dem Jahr 2016 vereinbarten Produktionsbegrenzung. Wegen des systematischen Anreizes zur individuellen Quotenüberschreitung befindet sich auch OPEC+ in einer prekären Lage. Zudem könnte Saudi-Arabien – wie schon in Doha im Jahr 2016 – versucht sein, die mit einer Aufkündigung der Produktionskontrolle verbundene Selbstschädigung in Form eines weiteren Preisrückgangs in Kauf zu nehmen, um die ökonomische ­Krise des Iran zu verschärfen. Dies wird umso wahrscheinlicher, je stärker Riad das Regime in Teheran nicht nur als Gegner, sondern als Feind wahrnimmt, den es zu schwächen gilt, selbst wenn dies gleichfalls die eigene Ressourcendecke schmälert.

    Es gibt aber auch einen Faktor, der verhindern könnte, dass OPEC+ scheitert. Um die Verstöße anderer OPEC-Mitglieder sowie die steigende Produktion von Erdölexporteuren außerhalb der OPEC aufzufangen, hatte Saudi-Arabien im Jahr 1985 seine Ölproduktion kurzzeitig auf kaum mehr als zwei Millionen Fass pro Tag heruntergefahren. Im Jahr 2018 förderte Saudi-Arabien hingegen über zwölf Millionen Fass Erdöl pro Tag. Damit verfügt Riad heute über einen sehr viel größeren Spielraum für Produktionskürzungen.

    Die sozialen Grenzen von Reformmaßnahmen im öffentlichen ­Sektor

    Nach dem Ölpreisrückgang im Jahr 2014 haben die Golfstaaten auch innenpolitische Maßnahmen in Angriff genommen. Diese reichen aber bei weitem nicht aus, um die aufgrund der gesunkenen Öleinnahmen entstandenen Budgetdefizite aufzufangen. So wurden beispielsweise nachhaltig ausgabenreduzierende Strukturreformen bisher nicht umgesetzt. Dabei lässt sich als Muster erkennen, dass Reformen insbesondere dann scheiterten, wenn Staatsbürger direkt von Einsparungen betroffen gewesen wären. Der befürchtete öffentliche Protest bzw. dessen Androhung spielten hierbei eine zentrale Rolle.

    In Oman wurden seit dem Jahr 2015 als Teil der Austeritätsmaßnahmen Gebühren für staatliche Dienstleistungen erhöht, Subventionen gestrichen und zudem eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Anzahl der einheimischen Arbeitskräfte im Privatsektor zu erhöhen. Als Folge kamen im Herbst des Jahres 2017 über Twitter Forderungen nach der Schaffung neuer Arbeitsplätze auf, die durch über 600.000 Retweets für landesweite Aufmerksamkeit sorgten. Darauf reagierte das Kabinett umgehend, indem es 25.000 Arbeitsplätze in Aussicht stellte (­Mukrashi 2017). Als im Januar 2018 aufgrund schleppender Umsetzung in mehreren Städten junge Hochschulabsolventen auf die Straße gingen, wurden die ­Pläne hektisch bekräftigt. Obwohl im Jahresverlauf 2018 die versprochene Anzahl an Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor geschaffen wurde, kam es im Januar des ­Jahres 2019 erneut zu Protesten. Daraufhin kündigte die Regierung an, ein nationales Arbeitsamt mit Filialen im ganzen Land zu gründen, in welchem Arbeitssuchende betreut und vermittelt werden sollen (ArabianBusiness.com 2019).

    In mehreren der Golfstaaten ist die geplante Kürzung von Gehältern im öffentlichen Sektor, der weitgehend Einheimischen vorbehalten ist, gescheitert. So beschloss das saudische Kabinett im Herbst des Jahres 2016 eine Kürzung der üppigen Boni im öffentlichen Sektor. Nachdem in mehreren Städten des Landes in sozialen Medien zu Protesten aufgerufen worden war, nahm das saudische Kabinett diesen Beschluss im April 2017 jedoch wieder zurück (Reuters 2017). In Kuwait kam es im April 2016 zum ersten Streik der Ölarbeiter seit zwanzig Jahren, nachdem Pläne der Regierung bekannt geworden waren, das Lohnsystem im öffentlichen Sektor zu reformieren und Teile der staatlichen Ölfirma zu privatisieren. Nach dreitägigen Protesten wurden die Reformmaßnahmen jedoch zurückgenommen, und kurz danach verkündete die Regierung sogar eine Gehaltserhöhung von 7,5 Prozent (ArabianBusiness.com 2016).

    Diese Beispiele verdeutlichen, dass Reformen im öffentlichen Sektor der arabischen Golfstaaten enge soziale Grenzen gesetzt sind. Demzufolge gilt die von ölreichen Ländern in Ölpreishochphasen ausgeübte Autonomie bei der Vergabe finanzieller Privilegien unter der Bedingung von Ölknappheit nicht oder nur eingeschränkt.

    Arbeitsmigranten als Verlierer bisheriger Anpassungspolitiken

    Arbeitsmigranten sind die größten Verlierer der seit dem Jahr 2014 in den arabischen Golfstaaten vorgenommenen innenpolitischen Anpassungspolitiken. Zahlreiche Maßnahmen, vor allem die von allen sechs Golfstaaten eingeführten Gebühren für Verwaltungsakte, spezielle Tarife für Strom und Wasser oder zusätzliche Gebühren für Gesundheitsleistungen, betreffen fast ausschließlich Arbeitsmigranten (Richter 2017: 6–7). Wie erklärt sich die höhere Durchsetzungsfähigkeit von Anpassungsmaßnahmen gegenüber den Zugewanderten? Die gesamte Bevölkerung der Golfstaaten verfügt zwar nur über eingeschränkte Rechte, Arbeitsmigranten haben aber weder zu den wenigen formalen Institutionen noch zu informellen Kanälen Zugang, über die die Staatsbürger mit den Herrschenden verbunden sind.

    In allen arabischen Golfstaaten bilden Arbeitsmigranten die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung: in Katar deutlich über neunzig, in den Emiraten und Kuwait mindestens achtzig und in Bahrain und Oman ca. fünfundsiebzig Prozent. Lediglich in Saudi-Arabien stellen Einheimische fast die Hälfte der Arbeitskräfte (Diop, Johnston und Le 2018: 36). Dennoch besitzen Arbeitsmigranten in keinem der Staaten Organisationsmacht: Arbeitgeber von Arbeitsmigranten können nur zeitlich befristete Verträge ausstellen und müssen persönlich für sie bürgen (arabisch: kafala). Das Kafala-System schwächt die Position der Arbeitsmigranten weiterhin dadurch, dass es einen Wechsel des Arbeitgebers innerhalb des Landes einschränkt oder sogar ausschließt. Selbst das Verlassen des Landes vor Vertragserfüllung ist für die Arbeitsmigranten meistens keine attraktive Option, weil außer für die wenigen Arbeitsmigranten aus den OECD-Ländern die Verdienstmöglichkeiten in ihren afrikanischen, asiatischen und arabischen Heimatländern deutlich schlechter als am Golf sind.

    Das Kafala-System ist nicht nur aus ethischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen sehr umstritten. Erstens wirkt sich das System negativ auf die Produktivität aus, denn wegen der zeitlichen Befristung der Verträge haben weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer ein Interesse an Aus- und Fortbildungsmaßnahmen. Zweitens schließt die Bindung an den Bürgen aus, dass die Arbeitsmigranten auf reguläre Weise ihren Arbeitsplatz wechseln können, ohne vorher aus- und dann wieder einzureisen. Als Folge entstand eine Schicht einheimischer Dienstleister, die beispielsweise durch den Handel mit Visa gegen Entgelt helfen, die negativen Effekte des Kafala-Systems abzufedern, dadurch aber selbst zum Kostenfaktor eines ineffizienten Systems werden.

    Vor dem Ölpreisrückgang strengten die Regime am arabischen Golf zwar teilweise Überlegungen zu Reformen des Kafala-Systems an; zu ernstzunehmenden Versuchen der Umsetzung kam es mit Ausnahme Bahrains aber erst nach dem Jahr 2014 in Kuwait, Saudi-Arabien und Katar. Alle Reformvorhaben sind bisher allerdings entweder gescheitert oder so stark verwässert worden, dass das Kafala-System weiterhin ohne wesentliche Einschränkungen fortbesteht. Die meisten Staatsbürger der Golfstaaten haben ein starkes Interesse daran, das Kafala-System aufrechtzuerhalten, weil es der Ausbeutung der Arbeitskräfte nur geringe Schranken setzt: Da der Privatsektor für Einheimische unattraktiv ist, sind alle Privatunternehmer faktisch alternativlos auf Arbeitsmigranten angewiesen, und viele Familien beschäftigen mindestens eine ausländische Hausangestellte. Im Fall von Katar ist durch Umfragestudien gut dokumentiert, dass die Arbeitgeber daran interessiert sind, gerade die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht besonders problematische Bindung des Arbeitnehmers an den Arbeitgeber weiter auszubauen. Unter diesen Bedingungen haben die Regime geringe Spielräume, das Kafala-System auch nur teilweise zu reformieren (Diop, Johnston und Le 2018).

    Abgesehen von einer kleineren Schicht hochqualifizierter Arbeitskräfte, etwa im Gesundheits- und Bildungssektor, gehören Arbeitsmigranten typischerweise den unteren sozialen Schichten an. Dass die bisherigen Anpassungspolitiken vor allem Arbeitsmigranten belasten, bedeutet demnach zugleich, dass sich die ohnehin große Schere zwischen der Minderheit an sozial Privilegierten und den vielen Unterprivilegierten im arabischen Golf in den letzten Jahren weiter geöffnet hat. Zudem zeigt sich auch hier, welch engen sozialen Grenzen Reformmaßnahmen unterliegen, wenn sie die Staatsbürger belasten.

    Länderspezifische Anpassungspfade und die Rolle von Institutionen

    Neben vielen Gemeinsamkeiten weisen die bisherigen Anpassungspolitiken der arabischen Golfstaaten auch Unterschiede auf. Institutionelle Merkmale der politischen Systeme der Golfstaaten lassen verstärkt länderspezifische Entwicklungspfade erkennen. Den wichtigsten Faktor für unterschiedliche Anpassungspfade stellen im vorliegenden Fall politische Institutionen dar. Dies lässt sich exemplarisch durch einen Vergleich der jüngsten Anpassungsstrategien Kuwaits und Saudi-Arabiens verdeutlichen.

    Als einzige der Golfmonarchien hat Kuwait ein starkes Parlament hervorgebracht. Es ist mit dem Recht ausgestattet, durch Mehrheitsentscheid jedem Minister und sogar dem Premierminister das Vertrauen zu entziehen, und hat sich nach dem Ölpreisrückgang im Jahr 2014 bei Reforminitiativen der Regierung als faktische Vetomacht erwiesen. Obwohl das Parlament aufgrund des Boykotts der Opposition bei den Wahlen im Jahr 2013 regierungsfreundlich zusammengesetzt war, kam es über die von der Regierung angestrebte Kürzung der Benzinpreissubventionen zu einer schweren Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung. Als die Mehrheit der Abgeordneten damit drohte, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, Minister und Premierminister im Plenum zu befragen, machte Emir Sabah Al-Ahmad Al-Sabah im Oktober 2016 von seinem Vorrecht Gebrauch, das Parlament aufzulösen. Seit den Neuwahlen im Dezember 2016, an denen die Opposition wieder teilnahm, hat das Parlament alle weiteren Versuche blockiert, die Staatsausgaben zu reduzieren.

    Auch im saudischen Fall prägen institutionelle Merkmale die historischen Unterschiede bei der Planung und Umsetzung von Anpassungspolitiken. Die wichtigsten Elemente der Reformvorhaben unter König Fahd in den 1980er Jahren waren von vornherein wenig anspruchsvoll, kaum miteinander koordiniert und scheiterten bzw. wurden durch informelle Einflussnahme des Privatsektors stark verwässert (Chaudhry 1997: 277–282). Das ab dem Jahr 2016 als Vision 2030 aufgelegte saudische Reformprogramm hingegen ist nicht nur deutlich ambitionierter, sondern es wurden tatsächlich auch erste Politikmaßnahmen umgesetzt. Beispielsweise muss seit Sommer 2017 jeder saudische Staatsbürger, der einen Arbeitsmigranten beschäftigt, eine jährlich ansteigende Gebühr entrichten. Auch wurde im Januar 2018 eine Umsatzsteuer eingeführt. Obgleich es sich um in ihrer Tragweite begrenzte Maßnahmen handelt, ist festzuhalten, dass vergleichbare Vorhaben in den 1980er Jahren am Widerstand des Privatsektors scheiterten. So wurden weder die im Jahr 1985 geplante Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten der Sozialversicherung noch eine im Jahr 1988 angekündigte Steuerreform umgesetzt (Chaudhry 1997: 274–275). Die Unterschiede zwischen den 1980er und 2010er Jahren lassen sich nur mit der seit dem Jahr 2015 erfolgten politischen Zentralisierung erklären, die mit der saudischen Herrschaftstradition bricht: Seit dem Tod des Staatsgründers Ibn Saud im Jahr 1953 waren alle Söhne, die ihm auf dem Thron nachfolgten, in eine Art konsensuales Herrschaftssystem mit den verbliebenen Seniorprinzen eingebunden. Mit König Salman sollte im Januar 2015 der letzte Seniorprinz den Thron besteigen, der seinen Lieblingssohn Muhammed bin Salman im Jahr 2017 zum Kronprinzen ernannte. Dieser avancierte rasch zum faktischen Alleinherrscher und nutzte seine neu gewonnene Macht noch im selben Jahr, um die politische Kernelite von allen potenziellen Konkurrenten zu säubern. Allerdings stieß selbst die Macht des Kronprinzen an ihre Grenze, als es darum ging, die sozialen Hürden einer Strukturreform des öffentlichen Sektors zu überwinden.

    Die arabischen Golfstaaten unter Anpassungsdruck

    Aus der Analyse der Anpassungspolitiken, die als Reaktion auf den seit dem Jahr 2014 gesunkenen Ölpreis aufgelegt wurden, lassen sich drei Schlussfolgerungen für die zukünftige Entwicklung der arabischen Golfstaaten ziehen. Alle bieten ­wichtige Anknüpfungspunkte für das Engagement privatwirtschaftlicher Akteure und die deutsche und europäische Entwicklungs- und Außenpolitik in der Golfregion.

    Erstens haben die arabischen Golfstaaten groß angekündigten Reformpolitiken bisher kaum Taten folgen lassen. Da die Regime bereits bei der Umsetzung bescheidener Austeritätsmaßnahmen auf erheblichen Widerstand innerhalb der einheimischen Bevölkerung gestoßen sind, haben sie sich an tiefgreifende strukturelle Reformen wie die Einführung einer Einkommenssteuer oder eine Verschlankung des öffentlichen Sektors oft erst gar nicht herangewagt. In anderen Fällen sind sie bereits im Ansatz gescheitert, so geschehen bei Reformversuchen des Arbeitsrechts für Migranten. Eine der zumindest kurzfristig effektivsten Anpassungsmaßnahmen bestand bezeichnenderweise in der Stärkung der internationalen Kooperation der Erdölproduzenten, die die Verluste bei den Öleinnahmen pro Kopf etwas milderten. Es ist zu erwarten, dass die Regime am arabischen Golf auch weiterhin Anpassungsstrategien verfolgen werden, welche die einheimische Bevölkerung von Belastungen verschonen. So dürften die Staaten in den nächsten Jahren eine weiter steigende Verschuldung in Kauf nehmen. Zudem könnten sie Spielräume nutzen, um die Naturgasproduktion auszubauen, die Anlagestrategien der Staatsfonds zu verbessern und den Tourismussektor auf- bzw. auszubauen. Darüber hinaus wäre es möglich, dass einige der Golfstaaten versuchen, ihre geografische Lage politisch und ökonomisch besser in Wert zu setzen. Die größten Potenziale bestünden in diesem Zusammenhang in der Normalisierung der Beziehungen zu Israel, an der einige der kleineren arabischen Golfmonarchien bereits seit längerem offen Interesse bekundet haben. Allerdings ist Saudi-Arabien ungeachtet einer informellen außenpolitischen Annäherung an Israel bisher davor zurückgeschreckt, mit Israel trotz dessen fortgesetzter Besatzung der palästinensischen Gebiete offiziell zu kooperieren.

    Zweitens ist zu erwarten, dass mit dem Übergang vom Überfluss zur Knappheit an Öleinkommen für die Golfstaaten bei Anpassungspolitiken zunehmend länderspezifische Ausprägungen der politischen Institutionen zur Geltung kommen. Dies könnte bedeuten, dass der GCC in Zukunft Schwierigkeiten hat, seine Koordinationsrolle zwischen den Golfstaaten auszufüllen. Letzteres wurde bereits dadurch deutlich, dass die Golfstaaten seit dem Jahr 2014 nicht in der Lage waren, selbst die Umsetzung bescheidener Maßnahmen wie die Einführung einer Umsatzsteuer zu synchronisieren. Infolge des weiterhin hohen Anpassungsdrucks könnten sich die Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedern des GCC verstärken. Angesichts seiner institutionellen Schwächen dürfte der GCC kaum imstande sein, diese Divergenzen zu überbrücken.

    Drittens könnten die gesunkenen Öleinnahmen pro Kopf der Bevölkerung dazu führen, dass Teile der Gesellschaften von der staatlichen Verteilungspolitik abgeschnitten werden. Gegenwärtig ist bereits sichtbar, dass hiervon die Gruppe der Arbeitsmigranten besonders stark betroffen sein wird. Auch Konflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der einheimischen Bevölkerung dürften zunehmen.

    Die Golfregion steht am Anfang eines tiefgreifenden Wandels, der soziale und politische Konflikte verschärfen wird. Obwohl die Einflussmöglichkeiten deutscher und europäischer Politik in der Golfregion beschränkt sind, gibt es eine besonders sinnvolle Handlungsmöglichkeit: Deutsche und europäische Akteure sollten einen Beitrag dazu leisten, dass die häufig stark gefährdeten sozialen Menschenrechte der Arbeitsmigranten besser geachtet werden. Als konkrete Maßnahme wird hier meist vorgeschlagen, Druck auf die Staaten am Golf auszuüben, um das jeweilige nationale Arbeitsrecht internationalen Standards anzupassen. Dies ist zwar sinnvoll, erfasst aber nicht die Wurzel des Problems. Es sind nämlich nicht die Staaten, sondern Privatunternehmen, die teilweise menschenunwürdige Ausbeutung der Arbeitsmigranten am Golf betreiben und aus Gewinnsucht eine Strukturreform des Kafala-Systems blockieren. Deutsche und europäische Politik sollten deshalb primär darauf dringen, dass sich zumindest europäische privatwirtschaftliche Akteure bei ihrem Engagement am Golf an internationale arbeitsrechtliche Standards halten, selbst wenn diese in den arabischen Golfstaaten rechtlich nicht bindend sind.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Nahost

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Wie man diesen Artikel zitiert

      Beck, Martin, und Thomas Richter (2019), Vom Überfluss zur Knappheit: Die arabischen Golfstaaten unter Druck, GIGA Focus Nahost, 6, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-65889-7


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