GIGA Focus Lateinamerika

Venezuela – Wahlen allein reichen nicht

Nummer 1 | 2019 | ISSN: 1862-3573


  • Demonstrationszug der Opposition in Venezuela.
    © Reuters / Carlos Garcia Rawlins

    In der aktuellen Krise Venezuelas verbinden sich verschiedene historische Konflikte zu einer gefährlichen Mixtur: Die Abhängigkeit vom Öl und das Vordringen der organisierten Kriminalität, die Entwertung institutioneller Kanäle der Konfliktbearbeitung, ein hohes Maß an Gewalt und die Internationalisierung der Auseinandersetzung. Der Ausgang ist ungewiss. Wahlen und ein Regierungswechsel alleine werden die strukturell verankerten Konflikte nicht lösen.

    • Venezuela ist ein reiches Land. Es besitzt die größten Ölreserven der Welt, ist dadurch aber in hohem Maße von Schwankungen der internationalen Preise abhängig. Weder die traditionellen Eliten noch der Chavismus haben es vermocht, ein alternatives Entwicklungsmodell umzusetzen. Dagegen wächst der Einfluss transnational agierender krimineller Organisationen.

    • Politische Polarisierung und die institutionelle Krise zeigen die mangelnde Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems. Zentrale Institutionen der zivilen Konfliktbearbeitung wie die Justiz sind politisiert und Teil des Konflikts zwischen Regierung und Opposition. Staatliche Repression ersetzt Legitimität, und das Militär erhält eine zentrale Rolle.

    • Mit einer aktiven Außenpolitik mobilisierten die Regierungen Chávez (1999-2013) und Maduro (seit 2013) regionale und internationale Unterstützung. Dies trägt maßgeblich zur Internationalisierung der Krise bei, weil externe Akteure wie die USA und Russland diese für ihre geostrategischen Interessen instrumentalisieren.

    • Dialoginitiativen und auch Neuwahlen sind bestenfalls ein erster Schritt zur Deeskalation und Konfliktbearbeitung. Mittel- und langfristig muss es einen umfassenden nationalen Dialog über ein zukunftsfähiges politisches, wirtschaftliches und soziales Entwicklungsmodell für Venezuela geben.

    Fazit

    Externe Akteure wie die Europäische Union und die Bundesregierung können mit einem menschenrechtsbasierten Ansatz zur Deeskalation der Krise und konstruktiven Bearbeitung der zugrunde liegenden Konflikte beitragen. Im Vordergrund muss dabei zunächst der Schutz vor und die Reduzierung von direkter Gewalt stehen. Zentrale Elemente sind außerdem die Wiederherstellung politischer Partizipation sowie ebenso wichtig die Garantie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte.

    Die Krise eskaliert

    Seit Beginn des Jahres 2019 spitzt sich die politische, wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela dramatisch zu. Die lange Zeit zerstrittene Opposition hat sich hinter dem Parlamentspräsidenten Juan Guaidó versammelt, die Unterstützung für das Maduro-Regime bröckelt. Intern kommt dem Militär eine Schlüsselposition bei der Entscheidung des Machtkampfes zu. Der Konflikt entwickelt sich aber auch zu einer internationalen Auseinandersetzung, weil sich die USA ebenso wie zahlreiche konservative Regierungen Lateinamerikas klar auf Seiten der Opposition positioniert haben, während Russland und China die sozialistische Regierung stützen. Europa war dagegen uneins, wie mit der Krise umgegangen werden soll. Das Europäische Parlament, das der venezolanischen Opposition im Jahr 2017 den Sacharow-Preis verliehen hat, unterstützte früh die Opposition. Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien forderten vor ihrer Anerkennung von Juan ­Guaidó zunächst ultimativ die Ankündigung von Neuwahlen, während andere Länder wie z.B. Italien nicht Position beziehen wollten. Am 31. Januar 2019 kündigte die EU- Außenbeauftragte Federica Mogherini die Bildung einer internationalen Kontaktgruppe bestehend aus europäischen und lateinamerikanischen Ländern an. Ihr gehören neben Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Großbritannien auch Bolivien, Costa Rica, Ecuador und Uruguay an. Die Gruppe soll dazu beitragen, Bedingungen für einen politischen und friedlichen Prozess zu schaffen, die es der venezolanischen Bevölkerung ermöglichen, ihre politische Zukunft in freien, transparenten und glaubwürdigen Wahlen selbst zu bestimmen. Der Ausgang der Krise ist ungewiss. Die der Krise zugrunde liegenden Konflikte reichen weit in die Geschichte Venezuelas zurück und hängen mit dem vorherrschenden Entwicklungsmodell zusammen. Wahlen und ein Regierungswechsel sollten deshalb nur der politische Auftakt eines umfassenderen Transformationsprozesses sein.

    Venezuelas Reichtum

    Venezuela ist ein reiches Land, unter dessen Erdoberfläche nach Angaben der OPEC (Organization of the Petroleum Producing Contries) fast 25 Prozent der weltweit verfügbaren Ölreserven liegen. Erdölexportierende Länder gelten in der Konfliktforschung als besonders anfällig für Gewaltkonflikte. Venezuela war lange ein abweichender Fall, weil der Ölreichtum seit dem Jahr 1958 nicht mehr ausschließlich der Patronage und persönlicher Bereicherung diente, sondern auch verteilt wurde (Mähler 2011). Viele Regierungen versprachen den Aufbau eines alternativen Entwicklungsmodells für die Zeit nach der Ölbonanza. Hugo Chávez (1999-2013) entwickelte den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Venezuela bleibt dennoch von der Fluktuation der internationalen Erdölpreise abhängig. Immer wieder führten sinkende Öleinnahmen zu umfassenden Krisen. Die Fragilität des Entwicklungsmodells zeigte sich erstmals Ende der 1980er-Jahre drastisch. Sparmaßnahmen, aus denen u.a. die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr resultierte, lösten im Februar 1989 in der Hauptstadt Caracas und allen anderen größeren Städten mehrtägige Proteste mit brennenden Barrikaden und Plünderungen aus. Das Ereignis ging als Caracazo in die politische Geschichte ein und markiert das Ende der – im lateinamerikanischen Vergleich – exzeptionellen Stabilität Venezuelas.

    Der Vorfall zeigte nicht nur die fehlende Nachhaltigkeit der sozialen Inklusion, sondern auch, dass die damalige Regierung der Acción Democrática (AD) keine rechtsstaatliche Antwort auf die Proteste hatte und bereit war, die eigene Macht mit Repression zu sichern. Tausende Personen wurden verhaftet, allein in Caracas gab es über 300 Tote durch den Schusswaffengebrauch der staatlichen Sicherheitskräfte (López Maya 2003). Im Jahr 1999 befand der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den venezolanischen Staat der Verletzung u.a. des Rechts auf Leben, Freiheit und rechtlichen Schutz für schuldig (IACHR 1999). Die beiden misslungenen Putschversuche von Offizieren mittleren Ranges im Jahr 1992 sind im Kontext der Auseinandersetzung um das Entwicklungsmodell und die Verteilungskonflikte zu sehen (Kurtenbach 1992). Auch nach der Wahl von Hugo Chávez im Jahr 1998 blieb Venezuela wirtschafts- und sozialpolitisch von den Schwankungen der internationalen Erdölpreise abhängig. Solange diese hoch waren, verbesserte die Umverteilungspolitik zentrale Indikatoren der menschlichen Entwicklung. Die in der neuen Verfassung (Justitia Venezuela 1999) unter Teil IV etablierten Prinzipien „soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Effizienz, freier Wettbewerb, Umweltschutz, Produktivität und Solidarität“ blieben letztlich ebenso ein hehres Versprechen wie der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

    Trotz der anhaltenden Dominanz des Erdöls, der mit 98 Prozent die Exporte dominiert, haben in den vergangenen Jahren auch andere Ressourcen, vor allem in der illegalen Ökonomie, an Bedeutung gewonnen. Venezuela ist nicht nur eine wichtige Transitroute für Drogen aus Kolumbien, sondern auch Standort großer illegaler Goldminen im Amazonasgebiet (v.a. im Bundesstaat Bolívar). Geldwäsche und Korruption ermöglichen immense Gewinne, an denen insbesondere das venezolanische Militär in hohem Maß beteiligt ist (InSightCrime 2018). Der Disput über die Kontrolle der legalen und illegalen Ressourcen dynamisiert die politische Auseinandersetzung.

    Zeiten der Wirtschaftskrise – oder wie aktuell der humanitären Krise – destabilisieren die klientelistischen Bande zwischen den armen Bevölkerungsgruppen und den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten. Der Verfall des Ölpreises zwischen den Jahren 2014 und 2018 trug ebenso wie Missmanagement und Korruption zur dramatischen Versorgungslage der venezolanischen Bevölkerung bei. Der Anteil der Armen an der Bevölkerung hat sich seit dem Jahr 2014 dramatisch erhöht. Die FAO (Food and Agriculture Organization) der Vereinten Nationen berichtet, dass im Jahr 2017 8,2 Millionen (von 32 Millionen) Venezolaner nur zwei Mahlzeiten pro Tag zu sich nahmen, 1,8 Millionen Menschen hungerten und 80 Prozent erklärten, ihr Haushalt sei ungenügend mit Nahrungsmitteln versorgt (Provea 2018). Diese Mangelwirtschaft und die fehlende Perspektive für Veränderung führten in den Jahren 2017 und 2018 zur verstärkten Migration über die Grenzen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen und der Internationalen Organisation für Migration haben bis Anfang November 2018 3 Millionen Menschen das Land verlassen. Kolumbien ist das Hauptaufnahmeland, aber auch eine wichtige Transitroute nach Ecuador, Peru und Chile (UNHCR 2018).

    Die Entwertung der Mechanismen der zivilen Konfliktbearbeitung

    Der Caracazo war nur der Auftakt der lang anhaltenden politischen Krise des einstigen Musterlandes Venezuela. Im Mittelpunkt steht bis heute die mangelnde Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems. Die Polarisierung zwischen den Anhängern von Hugo Chávez und seinen Gegnern bestimmte seit dem Jahr 1999 die Entwicklung. Beide Seiten – Regierung und Opposition – missachteten dabei immer wieder Grundregeln rechtsstaatlicher und demokratischer Auseinandersetzung. Der Weg in ein heute klar autoritäres Regime ist das Ergebnis dieses Wechselspiels.

    Chávez wurde im Jahr 1998 mit über 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Seine Partei verfügte im Parlament aber nicht über die Mehrheit, weshalb er im Jahr 1999 eine Verfassunggebende Versammlung einberief und das politische System nach seinen Vorstellungen umgestaltete. Die Amtszeit des Präsidenten wurde auf sechs Jahre (zunächst mit einmaliger Wiederwahl) verlängert. Außerdem erhielt der Präsident umfangreiche legislative Rechte per Dekret. Der Senat, die zweite Kammer des Parlaments, wurde abgeschafft und Möglichkeiten der direkten Bürgerbeteiligung wie Referenden ausgebaut (Röder und Rösch 2004).

    Die ersten Wahlen unter der neuen Verfassung gewann Chávez mit deutlicher Mehrheit. Dennoch – oder vielleicht deswegen – unterstützte die konsternierte Opposition im Jahr 2002 einen Putschversuch hoher Militärs, die den Vorsitzenden des Unternehmerverbandes Pedro Carmona zum Interimspräsidenten bestimmten. Die US-Regierung von George W. Bush erkannte ihn sofort an, obwohl ein klarer Verstoß gegen die Demokratiecharta der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) vorlag. Sowohl die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung als auch die meisten Regierungen Lateinamerikas und der Karibik verurteilten den Putsch. Zwei Tage später kehrte Chávez in den Präsidentenpalast zurück. Der Vorfall bot ihm eine willkommene Gelegenheit die Militärspitze mit eigenen Gefolgsleuten zu besetzen. Der nächste Versuch, einen Regierungswechsel jenseits von Wahlen zu erzwingen, war ein Generalstreik von Dezember 2002 bis Februar 2003. Chávez nutzte dies, um die Kontrolle über die Ölindustrie zu erlangen. Gleichzeitig erhöhte er die Zahl der Richter am Obersten Gericht und besetzte die neuen Richterstellen – ebenso wie die Wahlbehörde – mit seinen Anhängern. Angesichts des Boykotts der Opposition erlangte Chávez’ Partei bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005 die komplette Kontrolle über das Parlament. Im Jahr 2006 wurde er mit 63 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Die einzige Niederlage, die Hugo Chávez je an den Urnen hinnehmen musste, war die Ablehnung eines Referendums zur abermaligen Verfassungsreform im Jahr 2007. Dies hinderte ihn allerdings nicht daran, zahlreiche Regelungen per Dekret durchzusetzen. Im Jahr 2012 gewann er die Präsidentschaftswahlen ein weiteres Mal, allerdings „nur noch“ mit 55 Prozent der Stimmen. Die Strategie der Opposition, Chávez unter Umgehung der geltenden Regeln aus dem Amt zu drängen, erwies sich als kontraproduktiv, weil sie es ihm erlaubte, den Einfluss der Regierung auf Wirtschaft und Staat auszubauen (Gamboa 2017).

    Tabelle der Ergebnisse der Parlamentswahlen der Jahre 2000-2015
    © Inter Parlamentarian Union Archive Venezuela, verschiedene Jahrgänge.
    Tab. 1 Ergebnisse der Parlamentswahlen der Jahre 2000-2015 Anmerkungen: PSUV: Partido Socialista Unido de Venezuela (gegründet 2007 aus den Parteien, die Hugo Chávez unterstützten). MUD: Mesa de la Unidad Democrática (gegründet 2008 als Zusammenschluss der Oppositionsparteien).

    Während die Zustimmung zum Chavismus schon zu Chávez’ Lebzeiten schwand, verminderte sie sich unter seinem Nachfolger Maduro dramatisch. Francine Jácome (2018: 23) datiert den Wendepunkt für die Wettbewerbsfähigkeit des Chavismus an den Urnen auf 2012/2013: Chávez Tod erforderte Neuwahlen, bei denen Nicolás Maduro offiziellen Ergebnissen zufolge knapp gewann, und bei denen es massive Unregelmäßigkeiten gab. In der Folge dominierten drei Strategien des Machterhalts (Jácome 2018; Mijares 2014):

    1. Militarisierung: Maduro verfügt weder über das Charisma von Hugo Chávez noch kommt er aus den Reihen des Militärs. Während Chávez das Militär bereits politisiert hatte, verstärkte Maduro die Militarisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. An der Spitze von 9 der 33 Ministerien stehen Militärs, 11 von 23 Gouverneuren der Bundesstaaten sind Militärs. Das Militär kontrolliert auch die venezolanische Erdölgesellschaft PdVSA und zahlreiche andere Unternehmen wie eine eigene Bank und einen Fernsehsender. Die Mannschaftsstärke des Militärs verdoppelte sich in den Jahren von 2013 bis 2014.

    2. Manipulationen des Wahlsystems: Die Wahlbehörde disqualifizierte Kandidaten der Opposition, was gemäß der Verfassung nur per Gerichtsurteil möglich ist. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand entlang der Grenze zu Kolumbien unter dem Vorwand der „Kriminalitätsbekämpfung“. Allein die Regierungsparteien bekamen staatliche Gelder und Zugang zu Medien, was den Wettbewerb stark verzerrte.

    3. Verstärkte Repression gegen die Opposition: Als im Jahr 2014 insbesondere junge Menschen auf die Straße gingen und Reformen forderten, antwortete die Regierung mit Repression, es gab Tote und Verletzte. Die Regierung verhaftete zahlreiche Oppositionspolitiker wie Leopoldo López und Antonio Ledezma mit der Begründung, sie hätten zur Gewalt aufgerufen. Nach Angaben des venezolanischen Gewaltobservatoriums kamen zwischen den Jahren 2015 und 2018 fast 20.000 Menschen im Widerstand gegen die Regierung ums Leben (OVV 2016-2018). Bereits im Jahr 2017 verkündete Maduro die umfassende Bewaffnung der Bevölkerung zum Schutz des Regimes.

    In diesem Kontext war es umso erstaunlicher, dass bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015 die Stunde der Opposition schlug. Sie erzielte im Parlament eine Zweidrittelmehrheit, die ihr die Wahlbehörde aber durch Disqualifizierung von vier Abgeordneten entzog. Dennoch konnte sie Regierungsinitiativen blockieren oder abändern. Der Strategiewechsel hin zum Kampf im Rahmen der vom Regime gesetzten Regeln schien sich auszuzahlen. Das Parlament bereitete abermals ein Referendum zur Abwahl Maduros vor. Hatte Chávez im Jahr 2004 ein solches Referendum gewonnen, verschleppte die Regierung Maduro die Durchführung u.a. über die Nichtanerkennung vieler Unterschriften. Mit der Einberufung einer erneuten Verfassunggebenden Versammlung im Jahr 2017 entmachtete die Regierung das Parlament und überschritt damit die letzte rote Linie zum autoritären System. Dennoch ließ sich Maduro, dessen Amtszeit am 9. Januar 2019 formal beendet war, im Mai 2018 erneut wählen. Die Opposition boykottierte die Wahlen, deren Ergebnis weder die Mehrheit der OAS-Mitglieder, noch die Europäischen Union oder die USA anerkannten.

    Zentrale Institutionen der zivilen Konfliktbearbeitung, vor allem die Justiz und die Wahlbehörde, wurden in den vergangenen zehn Jahren derart politisiert, dass sie mittlerweile Teil des Konflikts zwischen Regierung und Opposition sind. Staatliche Repression ersetzt die fehlende Legitimität, und das Militär erhielt die Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung. Die aktuelle Krise steuert auf eine Entscheidung zu, wer die Macht im Land behält bzw. erhält. Anfang Januar 2019 wählte die Nationalversammlung Juan Guaidó zu ihrem Präsidenten und erklärte, die Präsidentschaft aufgrund der nicht demokratischen Wahl des Vorjahres für vakant. Am 23. Januar 2019 rief sich Juan Guaidó gemäß Artikel 233 der venezolanischen Verfassung zum Interimspräsidenten aus.

    Petropolitik und geostrategische Interessen

    Die Außenpolitik der Regierung Chávez unterstützte die Bestrebungen der regionalen Kooperation lateinamerikanischer und karibischer Staaten ohne die USA nicht nur, sondern trieb sie massiv voran. Höhepunkt war die Gründung der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) im Jahr 2008. Mit der eskalierenden Krise in Venezuela seit dem Jahr 2014 war die UNASUR allerdings überfordert (Hoffmann, Mijares und Schenoni 2015), intern blockiert und zerfiel im Jahr 2018 schließlich. Ein zweites Element der aktiven Außenpolitik bestand in der Gründung der ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) 2004. Zunächst nur mit Kuba, schlossen sich in den Folgejahren andere ideologisch gleichgesinnte Staaten wie Nicaragua und Bolivien an. Auch zahlreiche Karibikstaaten nahmen teil und profitierten von der Lieferung günstigen Erdöls (Petrocaribe).

    Venezuelas Rolle in der internationalen Erdölwirtschaft und die antiimperialistische gegen die USA gerichtete Rhetorik bestimmten das ambivalente Verhältnis zwischen Venezuela und den USA. Obwohl die verschiedenen US-Regierungen die zunehmende Einschränkung politischer und bürgerlicher Rechte immer wieder kritisierten, blieben die USA der Hauptimporteur von venezolanischem Öl. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Russland oder China bezahlen sie diese Importe mit harten Devisen. Erst in der aktuellen Krise weitete die Regierung Trump die bisher auf einzelne Personen des Regimes zielenden Sanktionen auf die PdVSA aus. Die Ankündigung, internationale Interventionen künftig zu vermeiden, gilt offenbar nicht für Lateinamerika. Alte Verhaltensmuster aus dem Kalten Krieg kehren zurück. Nicht nur wurde mit Elliot Abrams ein „Kalter Krieger“ aus der Reagan-Zeit zum Sonderbeauftragten für Venezuela ernannt. Auch Sicherheitsberater Bolton spart nicht mit Drohungen, es seien bis hin zur Militärintervention alle Optionen offen. Bei einer Pressekonferenz ließ er einen Notizblock unverdeckt, auf dem „5000 Soldaten nach Kolumbien“ stand. Die sehr schnelle Anerkennung von Juan Guaidó als Interimspräsident hat den Beigeschmack der Absprache und bereitet möglicherweise den „Hilferuf“ zur Intervention vor (Hershberg 2019; Evans 2019). In einem Interview mit CNN am 2. Februar 2019 schloss Guaidó dies zumindest nicht explizit aus.

    In den vergangenen Jahren war es vor allem die OAS, die versuchte das Maduro-Regime durch Sanktionen zur Kursänderung zu bewegen. Im Mai 2016 veröffentlichte die OAS (2016) einen umfassenden Bericht, der begründete, warum Caracas gegen die OAS-Demokratiecharta von 2001 verstieß. Im April 2017 berief die Organisation eine Sitzung zur Beratung der Situation in Venezuela ein. Noch vor der Sitzung erklärte Venezuela seinen Austritt, der allerdings erst mit zweijähriger Verzögerung, d.h. im Mai 2019, wirksam werden wird.

    Außerhalb der Region haben Russland und China Interesse am Fortbestand des Maduro-Regimes. China dürfte es vor allem um die Rückzahlung von Krediten gehen, während Russland zusätzlich geostrategische Ziele hat. Nach dem Ende des Kalten Krieges spielte Russland in der westlichen Hemisphäre nur noch eine untergeordnete Rolle und hatte – mit Ausnahme Kubas – kaum Verbündete. Mit Chavéz’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und dem stärker werdenden Konflikt mit den USA eröffneten sich hier neue Möglichkeiten. Nicht nur liefert die staatliche russische Rosneft Venezuela Technologie im Erdölsektor, auch die militärische Zusammenarbeit mit Waffenlieferungen, gemeinsamen Militärübungen und russischer Marinepräsenz ist wichtig. Im Fall der Türkei spielt neben ökonomischen Interessen vor allem im Goldbergbau auch die Solidarität der venezolanischen Regierung nach dem Putschversuch im Juli 2016 eine Rolle. Für den Iran ist Venezuela im Konflikt mit den USA ein wichtiger Verbündeter.

    Der Konflikt in Venezuela spaltet Lateinamerika: Die Mehrheit der lateinamerikanischen Regierungen erkannte Juan Guaidó an, während Nicaragua, Kuba und Bolivien Maduro unterstützen. Mexiko und Uruguay versuchen sich in der aktuellen Krise nicht klar zu positionieren, um als Vermittler zwischen Opposition und Regierung agieren zu können. Im Falle Mexikos hat dies eine lange Tradition und die Regierung von Andrés Manuel López Obrador (seit 1.12.2018), beruft sich auf die Estrada-Doktrin der Nichteinmischung in interne Angelegenheiten. Der Fall Uruguay ist etwas komplizierter. Hier dürfte eine Rolle spielen, dass sich die Regierung der Frente Amplio von OAS-Generalsekretär Luis Amagro, der aus den eigenen Reihen kommt, absetzen möchte.

    Mit der Wahl zahlreicher rechter Regierungen in der Region – vorneweg die rechtspopulistische Regierung Bolsonaro in Brasilien (Flemes 2018) – hoffen diese Kreise, dass der Chavismus Geschichte wird. Das verkennt allerdings, dass die Krise in Venezuela letztendlich die strukturellen Problemlagen und Konflikte in der gesamten Region spiegelt. Zwei Themen stehen dabei im Mittelpunkt:

    Erstens, die extrem große soziale Ungleichheit in allen Ländern der Region, die weder 30 Jahre Demokratie noch sozialistische Politik dauerhaft verändern konnten. Zwar gab es beispielsweise in Brasilien unter der Regierung der Arbeiterpartei Fortschritte bei der Reduzierung der absoluten Armut, die aber vor allem dem Rohstoffboom zu verdanken war. In Zeiten der Wirtschaftskrise zeigt sich überall, wie prekär diese Fortschritte sind.

    Zweitens, die Stärkung von Institutionen der zivilen Konfliktbearbeitung, insbesondere eine unabhängige Justiz und die Gültigkeit rechtsstaatlicher Grundsätze für alle, d.h. auch für die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten. Linke wie rechte Populisten meinen gleichermaßen, sie stünden über dem Gesetz. Das gilt für Nicolás Maduro genauso wie für Guatemalas Jimmy Morales oder Nicaraguas Daniel Ortega. Dies öffnet der organisierten Kriminalität Tür und Tor, die in vielen Ländern der Region direkt und indirekt mit den Eliten verbündet ist (InSightCrime 2019; Pearce 2018).

    Die Bundesregierung und einige andere EU-Staaten (u.a. Spanien, Frankreich und Großbritannien) forderten Nicolás Maduro am 26.1.2019 ultimativ auf, innerhalb von acht Tagen freie und faire Präsidentschaftswahlen auszurufen. Maduro lehnte dies ab und kündigte dagegen an, das Parlament, in dem die Opposition über eine breite Mehrheit verfügt, im Laufe des Jahres neu wählen zu lassen. Die Bundesregierung erkannte daraufhin, wie die anderen am Ultimatum beteiligten EU-Staaten auch, Juan Guaidó am 4.2.2019 als Interimspräsident gemäß Artikel 233 der venezolanischen Verfassung an. Ob weitere Sanktionen folgen, bleibt bisher unklar.

    Auswege aus der Krise – Neuwahlen reichen nicht

    Die von der EU und einigen lateinamerikanischen Staaten Ende Januar 2019 gegründete internationale Kontaktgruppe will versuchen, demokratische und friedliche Wege aus der Krise aufzuzeigen. Ob dies Erfolg haben kann, oder von einer Eskalation der Krise überrollt wird, ist gegenwärtig (5.2.2019) offen. Unterschiedliche Szenarien sind vorstellbar, einen Königsweg gibt es nicht und die Entwicklung in Venezuela wird auch jenseits der aktuellen Krise in hohem Maße konfliktbeladen bleiben.

    Der für die Menschen in Venezuela sicher schlechteste Weg wäre eine Eskalation der Auseinandersetzung durch massive Repression der Regierung, die in einen internen Krieg mit militärischer Intervention externer Akteure mündet. Daran wären dann nicht nur die staatlichen Sicherheitskräfte (oder zumindest Teile davon), sondern auch zahlreiche andere bewaffnete Akteure beteiligt. Neben dem kolumbianischen ELN (Ejército de Liberación Nacional), das vor allem entlang der gemeinsamen Grenze agiert, sind die von der Regierung Chávez im Jahr 2002 gegründeten Milizen, die sogenannten colectivos, ein wichtiger Gewaltakteur, der den Machterhalt des Regimes sichern soll. Auch Gruppen der organisierten Kriminalität, die eng mit dem Militär verbunden sind (InSightCrime 2018), haben ein Interesse am Fortbestand des Regimes. Venezuela ist mittlerweile ein wichtiges Transitland für Drogen aus Kolumbien und im Kontext der wachsenden Flucht aus Venezuela ist auch der Menschenhandel ein lukratives Geschäft geworden.

    Ein zweites Szenario besteht in der Implosion des Regimes, die in einen Dialogprozess zum Übergang zu demokratischen Wahlen mündet. Voraussetzung hierfür ist, dass maßgebliche Teile des Regimes, insbesondere das Militär, der Regierung die Unterstützung entziehen. Ende Januar 2019 verabschiedete das venezolanische Parlament ein Amnestiegesetz, das alle, die an der Rückkehr zur Verfassung mitarbeiten, straffrei lässt. Ausnahmen sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie sie vom Internationalen Strafgerichtshof geahndet werden, weil dort bereits eine Klage gegen die venezolanische Regierung anhängig ist. In letzter Zeit mehren sich die Indizien für eine Spaltung des Regimes. So verließ die frühere Generalstaatsanwältin Luisa Ortega 2017 das Land, weil sie die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung für verfassungswidrig hielt. Anfang des Jahres 2019 ging Christian Zerpa, Richter des Obersten Gerichtshofs, ins Exil, Ende Januar 2019 erkannten mit dem Militärattaché in Washington und Anfang Februar einem Luftwaffengeneral erstmals zwei hohe Militärs Juan Guaidó als Interimspräsidenten an. Das reicht bei Weitem nicht aus und bisher ist allenfalls das Fehlen massiver Repression ein Anzeichen dafür, dass das Militär nicht gewillt ist, auf die eigenen Leute zu schießen.

    Ein drittes Szenario – und das könnte das wahrscheinlichste sein – besteht im weiteren Andauern der Krise. Die Gefahr für die Opposition besteht darin, dass das Momentum der Überraschung, das die Erklärung Juan Guaidós am 23. Januar geschaffen hat, ohne weitere Konsequenzen verpufft. Die Massenmobilisierungen vom 2. Februar 2019 zeigen zum einen, dass die Polizei nicht repressiv gegen die Opposition vorgeht; zum anderen aber auch, dass die Regierung Maduro noch Unterstützung hat. Da Maduro neue Präsidentschaftswahlen schon abgelehnt hat, stellt sich für die Europäische Union, aber auch für die USA die Frage, was folgt. Die USA verschärfen aktuell ihre Wirtschaftssanktionen massiv und gehen erstmals gegen die PdVSA vor. So soll der Interimspräsident Zugriff auf die Öldevisenkonten bekommen. Damit entgleitet der Regierung und den Militärs die Kontrolle über die Devisen des Landes. Die Frage ist, ob das zur Spaltung führen wird oder den Zusammenhalt stärkt. Guaidó kündigte an, mit externer Unterstützung humanitäre Hilfe ins Land zu holen. Ob das Militär dies zulassen wird, ist eine der entscheidenden Fragen der nächsten Tage und Wochen.

    Am 7. Februar 2019 trifft sich die internationale Kontaktgruppe in Montevideo, Uruguay. Verhandlungen zwischen den Lagern scheinen nur noch über die Art des geordneten Übergangs möglich. Denn die Dialoge der vergangenen Jahre nutzte das Regime als taktisches Mittel des Zeitgewinns, ohne Zugeständnisse an die Opposition zu machen. Mit Verweis auf diese Erfahrungen hat Juan Guaidó Verhandlungen mit Maduro abgelehnt. Sowohl Gespräche als auch Neuwahlen sind bestenfalls ein erster Schritt zur Deeskalation. Beides macht nur dann Sinn, wenn grundlegende Fragen geklärt werden. Welches Ziel sollen Gespräche haben? Wer nimmt teil? Wer überwacht die Einhaltung von Vereinbarungen? Auch Neuwahlen sind kompliziert. Wer soll sie angesichts der fehlenden Unabhängigkeit des Wahlrats organisieren? Welches Wahlrecht soll gelten? Wer regiert in der Übergangszeit? Mit welchen Kompetenzen?

    Externe Akteure wie die Europäische Union, die Bundesregierung und lateinamerikanische Staaten können mit einem menschenrechtsbasierten Ansatz zur Deeskalation der Krise und konstruktiven Bearbeitung der zugrunde liegenden Konflikte beitragen. Im Vordergrund muss dabei erstens der Schutz vor und die Reduzierung von direkter Gewalt stehen. Denn auch nach möglichen Neuwahlen bleibt die Präsenz zahlreicher Gewaltakteure eine zentrale Herausforderung. Notwendig ist zweitens ein inklusiver nationaler Dialog über ein zukunftsfähiges politisches, wirtschaftliches und soziales Entwicklungsmodell. Hier müssen Anhänger des Chavismus einbezogen werden. Auch wenn sie nicht mehr in der Mehrheit sind, vertreten sie immer noch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Eine Rückkehr zu den politischen und sozialen Verhältnissen der Zeit vor Chávez kann und darf es nicht geben. Externe Akteure, die kein vornehmlich geostrategisches Interesse an Venezuela haben, müssen außerdem helfen, die humanitäre Krise zu bewältigen und den drei Millionen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Lateinamerika

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Forschungsschwerpunkte

      Wie man diesen Artikel zitiert

      Kurtenbach, Sabine (2019), Venezuela – Wahlen allein reichen nicht, GIGA Focus Lateinamerika, 1, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-61319-1


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