GIGA Focus Nahost

Islamistischer Wahlsieg in Marokko löst Krise bei der Regierungsbildung aus

Nummer 5 | 2016 | ISSN: 1862-3611


  • In einem Wahllokal bei den Wahlen zum marokkanischen Repräsentantenhaus.
    © Reuters / Youssef Boudlal

    Die am 7. Oktober 2016 durchgeführten Wahlen zum marokkanischen Repräsentantenhaus setzten den bereits bei den Kommunalwahlen im September 2015 erkennbaren Trend fort: eine Polarisierung der Parteienlandschaft zwischen der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) und der säkular ausgerichteten Partei für Authentizität und Moderne (PAM). Der PJD erzielte 125 ­Sitze, der PAM kam auf 102 Sitze. Laut Verfassung aus dem Jahr 2011 fiel damit der Auftrag zur Regierungsbildung an den PJD, der jedoch Schwierigkeiten hat, die notwendigen Koalitionspartner für eine Regierungsmehrheit zu finden. Politische wie verfassungsmäßige Probleme sind deswegen vorprogrammiert.

    • Die seit der Legislativwahl verstärkte Polarisierung zwischen PJD und PAM geht vor allem auf den Stimmen- und Bedeutungsverlust der historisch bedeutenden Istiqlal-Partei und der Union der Sozialistischen Volkskräfte (USFP), aber auch auf die Nationale Sammlungsbewegung der Liberalen (RNI) zurück. Zudem spielt die Verdichtung des Parteienfeldes eine Rolle, denn im neuen Parlament sitzen statt 18 Parteien wie im Jahr 2011 nur noch zwölf.

    • Der siegreiche PJD ist die einzige islamistische Partei im Parlament und bei der Regierungsbildung auf die Koalition mit Parteien angewiesen, deren ­jeweilige ideologische und programmatische Ausrichtung antagonistisch zu jener des PJD ist. Die nichtislamistischen Parteien wissen um diese Abhängigkeit und schrauben ihre Bedingungen für die Regierungsteilnahme in die Höhe.

    • Für den Fall, dass der PJD keine Koalitionsregierung zustande bekommt, weil er um sein islamistisches Profil fürchtet, entsteht mangels anderweitiger gesetzlicher Regelungen verfassungsrechtliches Neuland: Der Auftrag zur Regierungsbildung könnte dann an die zweitplatzierte Partei gehen oder es wären Neuwahlen nötig.

    Fazit

    Die Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung in Marokko können zwar eine kurzfris­tige innenpolitische Krise auslösen, wodurch die Stabilität des Landes jedoch nicht erschüttert wird. Die machtpolitische Stellung des Königs und die Funktionsweise der Institutionen stehen einer Destabilisierung entgegen. Das heißt nicht, dass König Mohamed hinsichtlich der Regierungsbildung keine Präferenzen hätte. Der seit seinem Amtsantritt im Jahr 1999 verfolgte Kurs der Modernisierung der Gesellschaft wäre mit einer PAM-geführten Regierung leichter umzusetzen als mit dem islamistischen PJD.

    Das Vorspiel: Verfassungsreform und Legislativwahl in Marokko im Jahr 2011

    Die gegenwärtigen Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung lassen sich direkt auf die Umbrüche des Jahres 2011 zurückführen. Nachdem auch in Marokko – inspiriert von dem am 14. November 2011 erfolgten Machtwechsel in Tunesien – die spontan formierte „Bewegung des 20. Februar“ Demonstrationen zugunsten politischer und sozialer Reformen organisierte, reagierte König Mohamed VI. umgehend mit der Ankündigung, den bereits eingeleiteten Reformprozess intensivieren zu wollen (Faath und Mattes 2015). Kernpunkt dieser Ankündigung war die Reform der Verfassung, um partizipative Elemente, die Rolle des Parlaments und die Bürgerrechte zu stärken. Ergebnis der unter Einschluss der Zivilgesellschaft diskutierten und am 1. Juli 2011 per Referendum angenommenen Verfassungsreform war unter anderem die Stärkung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und in Artikel 47 die Maßgabe, dass der Regierungschef durch jene Partei gestellt werden soll, die bei der Legislativwahl die meisten Parlamentssitze erhält.

    Nach Verabschiedung der Verfassung wurden die eigentlich erst im September 2012 fälligen Parlamentswahlen auf den 25. November 2011 vorgezogen. Diese Wahl stellt eine Zäsur in den seit dem Jahr 1963 stattfindenden Legislativwahlen in Marokko dar (Tafra 2016), weil die im Jahr 1997 formal begründete islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la Justice et du Développement/PJD) nach Jahren als Oppositionspartei erstmals mit 107 von 395 Sitzen stärkste Fraktion im Repräsentantenhaus wurde und damit alle anderen gewählten 17 Parteien weit hinter sich ließ. Die historisch verwurzelte Unabhängigkeitspartei (Parti de l’Istiqlal/PI), über vierzig Jahre eine der führenden Parteien in Marokko, landete mit nur 60 Sitzen auf Platz 2. Die im August 2008 als Sammlungsbewegung säkularer Kräfte vom Königsvertrauten Fuad al-Himma gegründete liberal-zentristische Partei Authentizität und Modernität (Parti Authenticité et Modernité/PAM) lag mit 47 Sitzen immerhin auf dem vierten Platz hinter der Nationalen Sammlungsbewegung der Liberalen (Rassemblement National des Indépendants/RNI), die 52 Sitze erhielt.

    Verfassungsgemäß berief König Mohamed VI. nach den Wahlen im Jahr 2011 den PJD-Generalsekretär Abdelilah Benkirane zum Regierungschef, der nach langwierigen 35-tägigen Verhandlungen Anfang Januar 2012 eine aus vier Parteien bestehende Koalitionsregierung bilden konnte. Zu dieser gehörten neben dem PJD die nationalkonservative Istiqlal-Partei, die sozialistische Partei für Fortschritt und Sozialismus (Parti du Progrès et du Socialisme/PPS) und die im Amazigh-Milieu beheimatete Partei Volksbewegung (Mouvement Populaire/MP). Die aus vier Parteien mit unterschiedlichster ideologischer Ausrichtung bestehende Regierungskoalition demonstrierte, dass weniger ideologische Affinitäten und ein homogenes Regierungsprogramm bei der Regierungsbildung im Mittelpunkt standen als vielmehr machtpolitische Ambitionen der Partei(führer); immerhin eröffnete eine Regierungsbeteiligung allein schon den Zugang zu materiellen Vergünstigungen. Unterschiedliche Auffassungen und eine unversöhnliche Haltung zwischen dem PI-Parteiführer und dem Regierungschef spitzten sich indes derart zu, dass sich der PI im Frühsommer 2013 aus der Koalitionsregierung (Benkirane I) zurückzog. Die Regierung verlor mit dem Austritt des PI ihre Mehrheit und Regierungschef Benkirane musste einen neuen Koalitionspartner suchen, den er ab Herbst 2013 im RNI fand. Diesem wurden sechs Ministerposten zugestanden und Parteichef ­Salaheddine ­Mezouar übernahm in der am 10. Oktober 2013 eingesetzten Regierung Benkirane II das Amt des Außenministers. Diese Regierung Benkirane II war mit leichter Modifikation im Mai 2015 (Umbesetzung von vier Ministerposten) bis zur Legislativwahl im Oktober 2016 (und seither interimsmäßig) bis zur neuen Regierungsbildung im Amt.

    Wahlen zum Repräsentantenhaus finden in Marokko laut Verfassung alle fünf Jahre statt und wären folglich im November 2016 neuerlich durchzuführen gewesen; wegen der Überschneidung mit der vom 7.-18. November 2016 in Marrakesch stattfindenden 22. Weltklimakonferenz wurde der Termin von der Regierung auf den 7. Oktober 2016 festgelegt.

    Im Vorfeld der Wahl gab es zwei „technische“ Entwicklungen, die die Wahl im Jahr 2016 von der Wahl im Jahr 2011 unterschieden: Zum Einen stieg die Zahl der wahlberechtigten Marokkaner und Marokkanerinnen, die sich in das ­Wahlregister eintragen ließen auch dank der Möglichkeit einer elektronischen ­Registrierung (unter www.listeselectorales.ma) von 13.626.375 auf 15.702.592 an. ­Ein ­leichter Rückgang war hingegen bei der Wahlbeteiligung zu verzeichnen, die von 45,4 Prozent auf 43,0 Prozent sank. Marokkanische Analysten führen dies auf das ­schlechte Image der Parteien und die schwache Leistungsbilanz der Benkirane-Regierung zurück. Ein Vertrauensverlust in das am König orientierte politische System und seine Reformagenda habe eine geringere Rolle gespielt.

    Zum Anderen wurde insbesondere auf Druck der nichtislamistischen Parteien und trotz des Widerstandes des PJD die Sperrklausel für Parteien bei der Wahl von ursprünglich sechs (2011) auf drei Prozent (2016) abgesenkt. Der damit ­erhoffte Effekt, eine Zunahme der im Repräsentantenhaus vertretenen Parteien zulasten des PJD, wurde allerdings nicht erreicht. Waren im Jahr 2011 trotz hoher Sperrklausel 18 ­Parteien im Repräsentantenhaus vertreten, schafften von den im Jahr 2016 angetretenen 30 Parteien trotz niedrigerer Sperrklausel nur zwölf Parteien den Einzug ins Parlament.

    Die Legislativwahl in Marokko vom 7. Oktober 2016

    Die Legislativwahl fand nach entsprechenden Vorbereitungen durch die teilnehmenden Parteien (u.a. Ausarbeitung der Wahlprogramme; Auswahl und Aufstellung der Kandidaten für die insgesamt 92 Wahlergebnisse und die beiden nationalen Listen für Frauen und die „Jugend“) und dem vom 24. September bis 6. Oktober 2016 anberaumten Wahlkampf am 7. Oktober 2016 statt (Sniadowska 2016). Die Ergebnisse waren wenig überraschend: Zum einen deuteten Wählerumfragen auf das zu erwartende Ergebnis hin; vor allem aber gaben die Kommunal- und Regionalwahlen vom September 2015 den Trend vor, der auch im Herbst 2016 zu erwarten war. Diesem Trend zufolge war mit einem weiterhin starken PJD und einem seine Positionen ausbauenden PAM zu Lasten aller anderen Parteien zu rechnen. Die Wahlergebnisse vom 7. Oktober 2016 bestätigten diese Voraussagen, auch wenn sich die einzelnen Parteien selbst jeweils bessere Ergebnisse erhofft hatten.

    Wahlsieger wurde der PJD, der 27,14 Prozent der abgegebenen Wahlkreisstimmen und damit 98 Sitze gewinnen konnte, zu denen noch weitere 27 Sitze aus den beiden nationalen Listen für Frauen und die Jugend hinzukamen. Insgesamt entfielen auf den PJD 125 Sitze, was 31,65 Prozent aller Parlamentssitze entsprach. Als Ursache für den Stimmenzuwachs wurde neben der effizienten Wahlkampfmaschinerie der Partei, ihrer landesweiten Präsenz und ihrer professionellen Medienpolitik auch die interne Reform (insbesondere die Förderung von Frauen) und der nationale Bezugsrahmen des islamistischen Gesellschaftsprojektes angeführt (Anouzla 2016). Der PJD verbesserte sich bei der Wahl 2016 zwar um insgesamt 20 Sitze, steht aber weiterhin als einzige islamistische Partei im Repräsentantenhaus faktisch einer überwältigenden Mehrheit nichtislamistischer Parteien (mit 270 Sitzen) gegenüber. Manche marokkanische Analysten wollten folglich nicht in den allgemeinen Tenor des „fulminanten PJD-Wahlsieges“ einstimmen, zumal in Relation zur gesamten wahlberechtigten Bevölkerung von rund 23 Mio. die 1.571.659 Stimmen für den PJD nur knapp 7 Prozent entsprachen.

    Eigentlicher Wahlsieger war vielmehr der von Ilyas El Omari angeführte PAM, der seine Sitzzahl insgesamt von 47 auf 102 mehr als verdoppeln konnte (+55 Sitze) und sich damit an das Wahlsiegergebnis des PJD im Jahr 2011 annäherte.

    Alle anderen 16 Parteien, die im Jahr 2011 noch im Parlament vertreten waren, mussten hingegen teils deutliche Stimmen- bzw. Sitzverluste hinnehmen, wie die Union der Sozialistischen Volkskräfte (-19 Sitze), oder verschwanden, wenn sie im Jahr 2011 nur einen oder zwei Sitze errungen hatten (wie mehrere kleine Linksparteien), im Jahr 2016 ganz aus dem Parlament. Angesichts der Konzentration der Stimmen bei PJD und PAM und der geringen Attraktivität linker Ideologien in der breiten Masse der marokkanischen Bevölkerung nützte den Linksparteien auch die Absenkung der Sperrklausel wenig.

    Tabelle Wahlergebnisse der Parteien im Jahr 2016 (mit Vergleich mit dem Jahr 2011)
    © Eigene Zusammenstellung nach Daten des marokkanischen Innenministeriums, Oktober 2016.
    Tabelle 1: Wahlergebnisse der Parteien im Jahr 2016 (mit Vergleich mit dem Jahr 2011)

    FGD: Fédération de la Gauche Démocratique (Zusammenschluss der demokratischen Linken); MDS: Mouvement Démocratique et Social (Demokratische und soziale Bewegung); PGVM: Parti de la Gauche Verte Marocaine (Partei der marokkanischen grünen Linken); PUD: Parti de l’Unité et de la Démocratie (Partei der Einheit und der Demokratie); UC: Union Constitutionelle (Verfassungsunion); USFP: Union Socialiste des Forces Populaires (Union sozialstischer Volkskräfte).

    Hauptlehren aus der Wahl in Marokko im Jahr 2016

    Aus den Ergebnissen der Legislativwahl im Jahr 2016 lässt sich eine Reihe von Erkenntnissen zu Trends gewinnen, die neue gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln und Gegenstand zahlreicher Analysen in der marokkanischen Presse wurden. Haupttenor der Analysen ist die Veränderung der politischen Kultur seit dem Jahr 2011, weil sich zum einen mit der modifizierten Verfassung neue Handlungsspielräume eröffneten und neue Institutionen geschaffen wurden, die sich um Belange der Partizipation und Menschenrechte kümmern. Zum anderen verschwand die ständige Angst vor Repression, die während der Regierungszeit von König Hassan II. (1961-1999) das Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat geprägt hatte und von König Mohamed VI. nach seinem Amtsantritt im Jahr 1999 schrittweise abgebaut worden war, nach dem Jahr 2011 vollständig. Ein Indiz hierfür sind die sich weiter diversifizierende Parteienlandschaft, die Gründung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Zulassung von Protesten und die Verlagerung zahlreicher Aktivitäten in den öffentlichen Raum (Engelcke 2016).

    Die feststellbaren Trends im Einzelnen:

    Erstens verstärkte sich der Trend zur Polarisierung der marokkanischen Parteienlandschaft deutlich, was sich auf die Koalitionsbildung auswirkt, insofern die Anzahl der Koalitionspartner geschrumpft und damit die Verhandlungsmacht einzelner Parteien gestiegen ist (s.u.). Die Wähler gaben viel weniger als früher ihre Stimme für stark ideologisch geprägte Kleinstparteien ab, sondern bevorzugten jene ­Parteien, von denen sie sich einen tatsächlichen Einfluss auf politische Entscheidungen erwarteten. Das Duell zwischen PJD und PAM, das sich seit der Kommunalwahl im Jahr 2015 herauskristallisierte und auch Gegenstand zahlreicher Pressekommentare war, bedeutete für den Wähler die Entscheidung zugunsten einer der beiden großen Parteien (und damit auch der von ihnen vertretenen ideologischen Ausrichtung) zulasten der Klein- und Kleinstparteien.

    Zweitens hing direkt mit dieser Wahlpräferenz auch der drastische Stimmen-/Sitzverlust zusammen, den die historisch einmal bedeutsamen Parteien wie der PI, die USFP, der MP sowie der RNI hinnehmen mussten. Die massiven innerparteilichen Querelen und Führungskämpfe dieser Parteien weckten bei den Wählern wenig Vertrauen in eine effektive politische (Regierungs-)Arbeit.

    Gegenüber der islamistischen und liberal-zentristischen Strömung haben zudem die linken Parteien insgesamt an Bedeutung eingebüßt: Die sozialdemokratische USFP verlor trotz ihres Oppositionsprofils unter ihrem umstrittenen Parteiführer Driss Lachgar fast die Hälfte ihrer im Jahr 2011 errungenen Parlamentssitze. Der PPS, Teil der Regierungskoalition seit dem Jahr 2012, bezahlte seine Allianz mit den Islamisten ebenfalls mit einem Verlust von einem Drittel seiner Parlaments­sitze und dem Recht auf Bildung einer eigenen Parlamentsfraktion (Mindestanzahl: 20 Sitze) mit der Folge, dass der PPS bereits einen Antrag auf die Änderung des internen Parlamentsstatuts stellte und als Mindestanzahl für eine Fraktion nur noch zwölf Sitze forderte. Die vor der Wahl vor Selbstüberschätzung strotzende Linkspartei Vereinigte sozialistische Linke (Parti Socialiste Unifié/PSU) konnte keinen Sitz erringen; lediglich der Zusammenschluss der demokratischen Linken (Fédération de Gauche Démocratique/FGD) erhielt in Rabat und Casablanca je einen Sitz.

    Drittens verfestigte sich ganz offensichtlich die Wählerklientel der beiden Großparteien; während der PJD, dessen Wahllogo eine Lampe darstellt, seine Wähler hauptsächlich in den städtischen Zentren hat, konnte der PAM, dessen Logo ein Traktor ist, besonders die ländliche Bevölkerung an sich binden: „Die Lampe erleuchtet die Stadt, der Traktor bearbeitet das Land“, war folglich das bildlich gesprochene Fazit in den Medien.

    Viertens überzeugten die Versuche insbesondere des PJD und in Einzelfällen des PAM und des PI, durch die Aufnahme bekannter Salafisten wie Mohamed Maghraoui, Abdelwahhab Rafiki oder Hicham Temsamami Jad in die Wahllisten Stimmenzuwächse zu generieren, beim Wähler nicht; kein einziger wurde gewählt.

    Fünftens setzte sich die Zurückhaltung bei der Eintragung der ­Wahlberechtigten in die Wählerlisten und die Stagnation der Wahlbeteiligung auf unbefriedigendem Niveau (knapp über 40 Prozent) fort; das heißt, die registrierten Nichtwähler bildeten mit rund 60 Prozent die „stärkste Partei“. Zugleich zeigte sich eine Konstanz bei den regionalen Unterschieden, insofern in den marokkanischen Südprovinzen (Westsahara) wie bereits im Jahr 2011 die Wählerregistrierung über dem Landesdurchschnitt lag und die Wahlbeteiligung am höchsten ausfiel (Spitzenwert in Tarfaya 2011: 78,2 Prozent; 2016 u.a. in Tarfaya, Boujdour Aousserd über 70 Prozent).

    Sechstens schrieben sich innerparteiliche Trends fort wie zum einen die Dominanz der Parteien durch jene Familien, die vor Jahrzehnten an der Parteigründung beteiligt waren. Insofern die Parteiführer in der Regel bis zu ihrem Tod in den paternalistisch strukturierten Partei das „Sagen“ haben, ist auch die Vererbung politischer Führungsämter an die Söhne und ihre Kandidatur für einen Parlamentssitz die gängige Praxis. Zudem war weiterhin die Marginalisierung von Frauen und von jüngeren Parteimitgliedern speziell in Führungspositionen zu beobachten. Bis auf die Ausnahme des PJD, des PAM und des PSU, der mit Nabila Mounib die einzige Parteipräsidentin in Marokko hat, sind Frauen in den Parteien stark unterrepräsentiert. Ähnliches gilt für die jungen Parteimitglieder; die 21-jährige Studentin Wiam Lamharchi, die in Ouzzane für den PAM ins Parlament gewählt wurde („La benjamine du parlement“), stellt eine Ausnahme dar.

    Siebtens erhöhte sich die Präsenz von Frauen im Parlament trotz aller Anstrengungen inklusive der erstmals im Jahr 2002 eingeführten nationalen Liste für Frauen nur unwesentlich von 67 Sitzen (2011) auf 81 (2016) bzw. von 17 auf 21 Prozent, weil die Parteien trotz aller staatlichen Anstrengungen zur Förderung der Gleichheit nach wie vor zögerten, in den Wahlkreisen Frauen aufzustellen. ­Diese Unterrepräsentation setzte sich in den bisherigen Regierungen fort, wo unter Regierungschef Benkirane zeitweise nur eine Frau einen Ministerposten innehatte.

    Achtens blieb das soziologische Profil der im Jahr 2016 neu gewählten Abgeordneten nahezu stabil, auch wenn von den 395 Abgeordneten 64 Prozent erstmals in das Parlament einzogen: Rund 24 Prozent der Abgeordneten (91) sind Händler/Unternehmer, die damit das Parlament dominieren; 15 Prozent sind Lehrer und je 14 Prozent sonstige Staatsbedienstete sowie Angehörige der freien Berufe. Am geringsten sind Landwirte (6 Prozent) vertreten. Die händler- und industriefreundliche Politik des Parlaments ist damit gewährleistet.

    Schwierige Post-Wahl-Optionen

    Trotz der deutlichen Führung des PJD bei den errungenen Parlamentssitzen erweist sich die Regierungsbildung alles andere als einfach. Wegen der Verfassungsbestimmung ernannte König Mohamed VI. PJD-Generalsekretär Benkirane drei Tage nach der Wahl am 10. Oktober 2016 zum Regierungschef mit der Aufgabe, eine tragfähige Regierung zu bilden. Da der PJD nur über 125 Sitze im Parlament verfügt, die Mehrheit aber 198 Sitze erfordert, ist klar, dass eine neue PJD-geführte Regierung (Benkirane III) nur eine Koalitionsregierung sein kann. Die Suche nach Koalitionspartnern, die zusammen mindestens 73 Sitze in die Koalition einbringen, bestimmt seither die Innenpolitik.

    Die Suche nach Koalitionspartnern gestaltet sich deshalb schwierig, weil zum einen dem islamistischen PJD elf ausschließlich nichtislamistische Parteien mit zusammen 270 Sitzen gegenüberstehen, von denen der PAM im Vorfeld der Wahl im Jahr 2016 jegliche Koalition mit dem PJD ausgeschlossen hatte und sich seit der Wahl im Oktober 2016 als Führer der nichtislamistischen Opposition sieht, die nur wegen Verfassungsartikel 47 an der Regierungsübernahme gehindert wurde. PAM-Generalsekretar El Omari kündigte deshalb am 21. Oktober 2016 eine Initiative zur Verfassungsmodifikation an, um den indizierten Passus zu streichen und eine Regierungsbildung selbst durch den Zweitplatzierten zu ermöglichen. Für den Fall, dass dieser Verfassungsartikel nicht geändert wird, solle aber zumindest in der Verfassung das Prozedere dahingehend präzisiert werden, wie verfahren werden soll, wenn der nominierte Regierungschef aus der führenden Partei keine Koalitionsregierung zustande bekommt. Die „große Leere der Verfassung“ hinsichtlich dieses Sachverhaltes müsse dringend geregelt werden.

    Die Bereitschaft der anderen Parteien, in eine Koalition mit dem PJD einzuwilligen, fällt unterschiedlich aus:

    Der PPS, bereits seit dem Jahr 2012 Koalitionspartei, bekundete bereits vor der Legislativwahl seine Bereitschaft zur Fortsetzung der Koalition und PPS-Generalsekretär Nabil Benabdellah wiederholte diese Position trotz der Sitzverluste, die der PPS gerade wegen seiner bisherigen Koalition mit den Islamisten erlitt, nach der Wahl. Der PPS war die erste Partei, die sich koalitionswillig zeigte; sie kann allerdings nur zwölf Sitze in die Koalition einbringen.

    Der PI, der sich seit seinem Rückzug aus der Regierung Benkirane I (2012/2013) in der Opposition befand, distanzierte sich noch im Wahlkampf im September 2016 deutlich vom PJD, um sich nach der Wahl plötzlich „für alle Allianzen offen“ zu erklären und am 22. Oktober 2016 nach der Sitzung des PI-Nationalrates „grünes Licht“ für die Annahme der Regierungsofferte Benkiranes zu geben. Mit den PPS und PI in einer Regierungskoalition fehlen dem PJD für eine Mehrheit im Parlament jedoch immer noch mindestens 15 weitere Sitze. Da sich die beiden linken Abgeordneten der FGD einer Beteiligung an der Benkirane-Regierung kategorisch verweigern und ihre Rolle wie der PAM in der Opposition sehen, und die drei Kleinparteien MDS, PGVM und PUD im Koalitionsfalle zusammen nur fünf Sitze aufbringen, kann eine Mehrheit nur mit Hilfe einer der verbleibenden Parteien USFP, RNI, MP oder UC erreicht werden.

    Das Aktionsbündnis aus RNI-UC-MP zeigte sich zunächst wenig geneigt, einer von Benkirane geführten Regierung eine Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Während allerdings MP und UC zu einem kategorischen Verzicht neigen, scheint es für den RNI eher eine Frage der Zugeständnisse seitens des PJD zu sein, um in eine Koalition einzustimmen. Insbesondere der neue RNI-Präsident Aziz Akhannouch, der am 29. Oktober 2016 den bisherigen RNI-Präsidenten Slaheddine Mezouar ablöste und ein politisches Schwergewicht ist (bisheriger Landwirtschaftsminister, Unternehmer, Milliardär und mit dem Königshaus verschwägert), schloss nach seiner einstimmigen Wahl durch den RNI-Parteikongress unter Umständen eine Mitarbeit in der Regierung nicht aus. Bedingung waren zum einen inhaltliche Aspekte (wie eine konsequente Frauenförderpolitik), zum anderen aber die Forderung, dass auf eine Beteiligung des PI an der Regierungskoalition verzichtet wird. Damit wäre zur Schließung der neu entstandenen Lücke eine Mitarbeit der USFP unverzichtbar, die damit in eine Jokerposition geraten würde. USFP-Generalsekreär Driss Lachgar legte sich noch in keiner Weise fest und auch als am 7. November 2016 das USFP-Politbüro tagte, wurde keine Entscheidung getroffen; es hieß, man warte aktuell auf „konkrete Vorschläge“ des Regierungschefs. Marokkanische Analysten und Politiker sprechen folglich von einer „totalen politischen Blockade“, von einer sich abzeichnenden politischen Krise, Regierungschef Benkirane von „Verhandlungen, die auf der Stelle treten“.

    Anfang Dezember 2016 ist noch vollständig offen, ob der designierte Regierungschef Benkirane bereit ist, auf die Forderungen der potenziellen Koalitionspartner einzugehen oder ob er wegen des drohenden Verlustes des PJD-Profils in einer solchen Regierungskoalition gegenüber dem König sein Scheitern bei der Regierungsbildung erklärt. Ein solcher Schritt würde das bereits erwähnte Verfassungsproblem heraufbeschwören. Benkirane selbst kündigte in einem Interview am 5. November 2016 an, sich im Fall seines Scheiterns bei der Regierungsbildung aus der Politik zurückzuziehen.

    König Mohamed VI. seinerseits bezog in seiner Rede zum Jahrestag des Grünen Marsches am 6. November 2016 zu der verzwickten Lage indirekt Stellung und betonte, dass die neue Regierung nicht die Interessen einzelner Parteien widerspiegeln, sondern als Mannschaft kompetenter Spezialisten ein kohärentes Regierungsprogramm umsetzen soll, das an der Lösung der bestehenden Probleme ausgerichtet ist: „Ich toleriere keinen Versuch, sich von dieser Leitlinie zu entfernen“. Dies war zugleich der Hinweis an den PJD, angesichts des vom König vertretenen modernistischen Entwicklungskonzeptes, das zugleich ein reformiertes Religionsverständnis umfasst (Faath und Mattes 2016), seine damit im Widerspruch stehende Islamisierungsoption stark zurückzunehmen.

    Die marokkanische Regierung vor großen Herausforderungen

    Auch wenn es am Ende des derzeit laufenden Verhandlungsmarathons zu einer PJD-Koalitionsregierung käme, weil die USFP oder der RNI den machtpolitischen Verlockungen und den Vorteilen der materiellen Pfründe nicht widerstehen ­konnten, hätte es Regierungschef Benkirane und die dann amtierende Koalitionsregierung in ­Marokko nicht einfach. Zu vielfältig sind trotz aller Fortschritte insbesondere im Bereich der Industrieentwicklung die sozioökonomischen Probleme, zu heterogen und programmatisch disparat die Regierungsmannschaft. Hinzu kommt die bereits von Regierungschef Benkirane im Wahlkampf im Jahr 2016 unter dem Stichwort „Tahakoum“ thematisierte Einflussnahme des Königs und seines Stabes auf die Regierungspolitik. Zwar ist der König laut Verfassung Staatschef und Vorsitzender des Ministerrates, derjenige, der die drei Souveränitätsministerien Inneres, Verteidigung und Religiöse Angelegenheiten besetzt und kontrolliert, doch nimmt mit Billigung des Königs auch das königliche Kabinett (Diwan royale) Einfluss auf das politische Geschehen in Marokko. Die Mitglieder des königlichen Kabinetts sind den Islamisten/dem PJD nicht gewogen und zögen einen PAM-Regierungschef El Omari deutlich vor, mit dem es einen ideologisch-programmatischen Gleichklang gibt.

    Im maghrebinischen Kontext sind die gegenwärtigen Schwierigkeiten mit der Regierungsbildung in Marokko als „vernachlässigbar“ einzustufen, da sie die Grundfesten der politischen Stabilität nicht unterminieren. Die zukünftige Entwicklung in Algerien nach dem Tod Bouteflikas, der anhaltende Bürgerkrieg in Libyen und auch die Regierungskrise in Tunesien, ausgelöst durch den Selbstzerfleichungsprozess der Regierungspartei Nida Tounes, sind hier deutlich größere Komplexe, die jeweils national wie regional Sorgen bereiten.


    Fußnoten


      Literatur


      Forschungsschwerpunkte

      Wie man diesen Artikel zitiert

      Mattes, Hanspeter (2016), Islamistischer Wahlsieg in Marokko löst Krise bei der Regierungsbildung aus, GIGA Focus Nahost, 5, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-51652-8


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      Hanspeter Mattes

      Hanspeter Mattes

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