GIGA Focus Middle East
Number 1 | 2019 | ISSN: 1862-3611
Since 2015, Saudi Arabia has undertaken significant political restructuring. A militarised foreign policy has been accompanied by an ambitious domestic reform agenda. The main architect of this transformation has been the Saudi crown prince, Mohammed bin Salman.
The domestic reforms implemented aim to limit the traditional areas of power and shift these to the heir to the throne. Although many of the reform measures have been supported by the population, they carry risks for the kingdom. In the long term, they could simultaneously threaten all three traditional pillars of stability – the royal family, oil revenues, and religious legitimacy.
Saudi foreign policy has become more proactive and militarised, as the Saudi role in the Yemen war and in the blockade of Qatar has shown. This reflects a new self-image on the part of the kingdom as a major regional power with strategic interests.
Mohammed bin Salman’s concentration of power in his own person, the intensification of open repression, the rhetoric of progress, and the regional power aspirations make evident the presidentialisation of the kingdom. This should not, however, be understood as political liberalisation, let alone democratisation. Rather, the Saudi system of rule is being modernised and streamlined in order to consolidate power for the benefit of one person, the heir to the throne, in the long term.
Despite these developments, Western states should have an interest in cooperating with a Saudi Arabia that is operating within the changed realities of the region. A German policy that recognises the difference between reform and democratisation and signals both clear boundaries and support for necessary reforms can contribute to mitigating the consequences of Saudi ambition. In doing so, it would simultaneously bolster regional stability, particularly if it is able to win the backing of important Saudi partners such as the United Arab Emirates.
„Endlich kommt der Arabische Frühling auch nach Saudi-Arabien“, so feierte Ende November 2017 Thomas Friedman von der New York Times den Kronprinzen Saudi-Arabiens Muhammed bin Salman (Friedman 2017). Der saudische Thronfolger, inzwischen meist als MbS bezeichnet, hat einen kometenhaften Aufstieg seit der Inthronisierung seines Vaters Salman bin Abd al-Aziz Al Saud im Januar 2015 hinter sich. Zunächst als Verteidigungsminister in die Regierung berufen, wurde er wenige Monate später zusätzlich zum Vizethronfolger und im Jahr 2017 schließlich zum Kronprinzen ernannt. Seine aktivistische Reformpolitik, die sich gleichzeitig gegen einen Teil der politischen und ökonomischen Eliten, die Monopolstellung des Ölsektors und die außerordentliche Machtstellung der wahhabitischen Religionsgelehrten richtete, wurde im westlichen Ausland zunächst mit Begeisterung aufgenommen. Mit der Fortdauer des Jemen-Krieges, der zunehmend kompromisslosen Haltung Saudi-Arabiens gegenüber Iran, der andauernden Blockade Katars sowie der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul im Oktober 2018, ist diese Begeisterung in Skepsis und Empörung umgeschlagen.
Dabei ist es weiterhin angemessen, in der Politik des Kronprinzen ein umfassendes und historisches Reformvorhaben zu sehen. Der Wahrnehmungsfehler besteht lediglich darin, Reform mit politischer Liberalisierung oder gar Demokratisierung gleichzusetzen. MbS verfolgt Veränderungen auf allen Ebenen – in der Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik. Diese zielen allerdings nicht auf eine Öffnung des politischen Systems ab, sondern sollten als Machtzentralisierung interpretiert werden, die das Ziel hat, die Herrschaft des Kronprinzen an der Spitze des Königreichs langfristig abzusichern. Das entstehende Phänomen wurde für den russischen Fall unter der Präsidentschaft Putins treffend als „Vertikale der Macht“ beschrieben (Mommsen 2017). Am Ende dieser Entwicklung steht ein verschlanktes politisches System mit einer klareren Hierarchie und das dadurch effizienter und effektiver regionalpolitische Machtansprüche durchsetzen kann – bei gleichzeitiger Eliminierung von Gegenspielern und alternativen Machtzentren. Aus historischer Sicht ist dieser Prozess für die jüngere Geschichte Saudi-Arabiens, d.h. für den Zeitraum nach dem Ableben des Staatsgründers Abd al-Aziz Ibn Saud im Jahr 1953, präzedenzlos. In anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens hingegen stellte dies ein klassisches autoritäres Herrschaftsmodell dar. Gemeint sind damit z.B. die arabischen Präsidialrepubliken Ägypten, Syrien und Irak, so wie sie nach der staatlichen Unabhängigkeit in den 1950er und 1960er Jahren entstanden sind und wie es sich nach dem Arabischen Frühling seit dem Jahr 2014 unter Präsident Sisi in Ägypten erneut herausgebildet hat.
Innerhalb des Herrschaftsmodells dynastische Monarchie, dazu gehörte Saudi-Arabien bisher, repräsentiert nicht eine einzige Person sondern eine Familie das Regime. Dabei bilden die wichtigsten männlichen Vertreter eine Gruppe, die durch gemeinsame Beratung sowohl über die Auswahl des Herrschers als auch über die Grundlinien der Politik entscheidet. Tradition und religiöser Anspruch spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige legitimatorische Rolle. Die klassischen (oft sozialistischen) arabischen Republiken funktionierten hingegen anders: Ein Präsident bildete die Spitze des politischen Systems, das ihm hierarchisch untergeordnet war. Dabei war er in der Regel der Vorsitzende einer Staatspartei, die mal mehr, mal weniger Einfluss auf seine Politik ausübte. Eine republikanische und sozialistisch-fortschrittsgewandte Ideologie bildete die Legitimationsbasis und ging einher mit einer zumindest diskursiv aggressiven Außenpolitik.
Arabische Präsidenten, die die einmal errungene politische Macht innerhalb ihrer eigenen Familie weitervererben wollten, begaben sich dabei seit den 1990er Jahren auf den Pfad einer „republikanischen Monarchisierung“ (vgl. Brooker 2009). Dieser führte in Fällen wie Ägypten, Libyen oder Syrien zu Mischsystemen, die wenige Jahre vor dem arabischen Frühling als „Jumlukiya“, ein Portmanteau aus den beiden arabischen Begriffen für Monarchie (malakiya) und Republik (jumhuriya), bezeichnet wurden. Allerdings machte der „Arabische Frühling“ entscheidende Schwächen dieser gemischten Regime deutlich. Entweder brachen sie zusammen oder endeten in einem jahrelangen Bürgerkrieg, im Gegensatz zur Widerstandsfähigkeit der dynastischen arabischen Monarchien (Bank, Richter und Sunik 2015). In den jüngsten politischen Reformen in Saudi-Arabien lassen sich nun erste Züge einer neuen, bisher unbekannten Mischform, einer „Malhariya“, d.h. einer „monarchischen Präsidentialisierung“ erkennen. Ähnlich wie in der Periode vor dem Jahr 2010 birgt diese Entwicklung hohes und möglicherweise entscheidendes destabilisierendes Potenzial.
In der saudischen Innenpolitik zeigt sich der Charakter des Reformstrebens von MbS bisher besonders deutlich. Nach der Thronbesteigung Salmans im Januar 2015 konsolidierte sein junger Lieblingssohn seinen Einfluss im innersten Herrschaftszirkel des saudischen Regimes. Andere Thronanwärter wie Muqrin bin Abdel-Aziz (ein jüngerer Bruder des Königs) und Muhammad bin Naif (ein Neffe des Königs und Cousin von MbS), beide waren bereits formal als Thronfolger berufen, wurden ohne nennenswerten Widerstand auf ein Abstellgleis geschoben. Nach einer Konsolidierungsphase und seiner Berufung zum Kronprinzen im Juni 2017 begann MbS etwa fünf Monate später – Anfang November 2017 – eine „Säuberungsaktion“ innerhalb der politischen und ökonomischen Eliten des Landes. Offiziell als Antikorruptionsmaßnahme bezeichnet, ließ der Prinz über 300 wichtige saudische Akteure, inklusive einige der bisher als unantastbar geltenden Mitglieder der Al Saud (königliche Familie), im Ritz-Carlton, einem Luxushotel in der Hauptstadt Riad, einsperren, um von ihnen unrechtmäßig erworbenes Eigentum zurückzufordern. Der saudische Generalstaatsanwalt Saud al-Modscheb sprach später von etwa 100 Mrd. USD, die als Folge dieser Maßnahmen in die saudische Staatskasse zurück geflossen sind (Chulov 2018). Obwohl MbS selbst eine Interpretation dieser Ereignisse als Maßnahme zur Machtkonsolidierung als „lächerlich“ zurückwies (Friedman 2017), wurde im Nachhinein deutlich, dass er damit zwei Dinge zu erreichen suchte: Einerseits versuchte er die Teile der Eliten, die ihm potenziell seinen Machtanspruch streitig machen könnten, einzuschüchtern, und zudem warb er damit um Glaubwürdigkeit innerhalb der saudischen Bevölkerung für seine ambitionierten Reformvorhaben.
Gleichzeitig verfolgte der junge Kronprinz eine Politik der vorsichtigen gesellschaftlichen Öffnung Saudi-Arabiens, die einherging mit einer Schwächung der wahhabitischen Religionsgelehrten. Beginnend im Jahr 2016 entmachtete er die berüchtigte Religionspolizei, ernannte mehrere moderate Prediger für den Rat der Höchsten Religionsgelehrten, dem obersten religiösen Gremium Saudi Arabiens, ließ Konzerte erlauben und Kinos nach jahrzehntelangem Verbot wiedereröffnen. Zudem wurden Vorschläge diskutiert, das Vormundschaftsrecht zu reformieren, welches Frauen vom Willen ihrer männlichen Angehörigen abhängig macht (Raghavan 2017). Die wohl für das Ausland öffentlichkeitswirksamste Entscheidung war die Aufhebung des grundsätzlichen Fahrverbots für Frauen, welches im Sommer 2018 wirksam wurde. Bezeichnend ist allerdings, dass parallel dazu gerade solche saudischen Aktivistinnen verhaften wurden, die früher u.a. gegen das Fahrverbot demonstriert hatten. Dies ist keinesfalls als ein Fehler des Systems zu interpretieren, sondern im Gegenteil wird damit der eigentliche Charakter der Reformen deutlich. Wandel soll ausschließlich von oben eingeführt und keinesfalls von unten erkämpft werden. Der Souverän politischer und gesellschaftlicher Veränderungen ist nicht das Volk, sondern das Regime mit dem jungen Kronprinzen an seiner Spitze.
Zum verstärkten autoritären Charakter der saudischen Reformpolitik passt auch die Affäre um Jamal Khashoggi, dem saudischen Exil-Journalisten, der am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul durch eine Gruppe von saudischen Agenten liquidiert wurde, wie Saudi-Arabien nach zahlreichen Dementi letztlich drei Wochen später zugeben musste. Diese Tat, die im Ausland für Empörung und Entsetzen gesorgt hat, ist das bisher wohl prominenteste Beispiel dafür, dass bin Salmans Reformbemühungen mit einer deutlich erhöhten Repression und der systematischen Bekämpfung von Kritikern und Dissidenten einhergehen.
Die innenpolitischen Reformen werden von einer umfassenden wirtschaftlichen Reformpolitik als Teil der „National Vision 2030“ begleitet, um die saudische Ökonomie zu diversifizieren und das Land vom Ölexport unabhängiger zu machen. Eine Mehrwertsteuer, seit langem innerhalb der GCC geplant, wurde eingeführt und zahlreiche Privilegien gekürzt, darunter auch die Subventionierung von Wasser- und Stromkosten für Mitglieder der Königsfamilie (Al-Jazeera 2018). Weiterhin wurden ausländische und inländische Investitionen und innovative Projekte wie „Neom“, eine „Stadt der Zukunft“ in einem entlegenen Wüstengebiet an der Grenze zu Jordanien, angekündigt. Zudem wurde bekannt gegeben, den staatlichen saudischen Ölkonzern Aramco (der größte der Welt) an die Börse zu bringen. Obwohl nicht alle Ankündigungen verwirklicht wurden (vgl. Gehlen 2018), ist auch in diesem Bereich die Ambition zur Umsetzung der Maßnahmen beispiellos.
All diese Reformen zielten offiziell darauf ab, Missstände und Entwicklungshemmnisse im Königreich zu eliminieren, die seit langem das wirtschaftliche und soziale System erodierten und Probleme für die zukünftige Entwicklung in einer modernen Welt schufen. Auf der anderen Seite beinhaltet die Reformagenda von MbS ein hohes Risiko. Alle drei historischen Stabilitätssäulen – die königliche Familie, die Öleinkommen und die religiöse Legitimation sowie der darauf beruhende Gesellschaftsvertrag – werden dadurch gleichzeitig ausgehöhlt.
Der Kern des Regimes rekrutiert sich aus männlichen Mitgliedern der Familie Al Saud, die einen breiten Pool an potenziellen Politikern, Herrschern und Beratern bieten. Mit dieser Form einer dynastischen Monarchie wird dafür gesorgt, dass die politische Macht für die Familie insgesamt erhalten bleibt und dass andererseits die Politik eines einzelnen Familienmitgliedes nicht zum Schaden des ganzen Landes gereichen kann bzw. das Schicksal des Königreichs nicht von den Entscheidungen einer einzigen Person abhängt. Sollte sich ein wichtiger Entscheidungsträger oder sogar der König als ungeeignet erweisen, ist die Familie in der Lage, Ersatz bereit zu stellen. Historische Präzedenzfälle für die Absetzung von „schwachen“ Königen sowie die schnelle Nachfolgeregelung im Falle des plötzlichen Ausfalls eines Herrschers gibt es mit den Königen Saud und der Nachfolge nach dem Attentat auf König Faisal zur Genüge. Muhammed bin Salman allerdings versucht, den Einfluss der Familie als politische Institution zu reduzieren und damit ihre Rolle zu schwächen, um die Hierarchie der „Vertikale der Macht“ zu seinen Gunsten zu konsolidieren. Damit soll keinesfalls das Herrschaftsmonopol der Familie Al Saud oder gar das monarchische System als solches, welches fest im saudischen Grundgesetz verankert ist, in Frage gestellt werden. Dennoch deutet viel darauf hin, dass die Stellung des Kronprinzen und wahrscheinlich zukünftigen saudischen Königs vis-à-vis der Familie als Ganzes gestärkt werden soll. Damit erhält seine Position Züge, die eher für die von Präsidenten in den arabischen Republiken typisch sind.
Die historische Verbindung zwischen politischer und religiöser Herrschaft, verkörpert durch die im 18. Jahrhundert geschlossene Allianz von Muhammed bin Abd al-Wahhab und Muhammad bin Saud, stellt bis heute eine zentrale Basis für die Herrschaftslegitimation des Al Saud-Regimes dar (Al-Rasheed 2010). Als Gegenleistung für die Verbreitung der Lehre von Abd al-Wahhab als Staatsreligion versprach dieser, die Al Saud als legitime und unangreifbare politische Herrscher zu proklamieren und damit religiös zu legitimieren. Als Wächter der heiligen zwei Stätten (Mekka und Medina) ist das saudische Königshaus darauf angewiesen, dass es von den wahhabitischen Religionsgelehrten, den ‘Ulama, als rechtmäßiger Herrscher anerkannt wird. Wenn dies nicht mehr in einem ausreichenden Maß geschieht, wird das Regime durch religiös motivierte Gruppen angreifbar, wie die Besetzung der großen Moschee von Mekka 1979 sowie der Konflikt der Al Saud mit al-Qaida zeigten. Obwohl die ‘Ulama bereits seit langem von der Politik kooptiert und damit zu regimetreuen Alliierten gemacht wurden, kann die Einschränkung der Kompetenzen des religiösen Sektors und die öffentliche Missachtung der wahhabitischen Religionsgelehrten durch MbS weitreichende und destabilisierende Folgen haben. Im Königreich mangelt es nicht an Verfechtern von alternativen religiösen Legitimitätsvorstellungen. Dazu gehören unterschiedlichste Gruppen im Spektrum zwischen dem saudischen Zweig der Muslimbruderschaft bis hin zu fundamentalreligiösen und gewaltaffinen Gruppen wie al-Qaida oder dem „Islamischen Staat“. Diese könnten mit ihrer Kritik am saudischen Königshaus potenziell erfolgreicher als heuchlerische oder gar ungläubige islamische Herrscher um Unterstützung in der Bevölkerung werben, die jahrzehntelang an die permanente Betonung der Religion als Säule der saudischen Gesellschaft gewohnt war und nun sieht, wie diese Säule vom Regime selbst marginalisiert wird.
Letztendlich stellt auch die Einführung von Steuern den saudischen Gesellschaftsvertrag in Frage. Die Bereitstellung von staatlichen Leistungen wie Bildung und Gesundheit, Subventionen für Benzin, Wasser und Strom und öffentliche Beschäftigung waren bisher nicht durch Steuer-, sondern ausschließlich durch Öleinnahmen finanziert. Die prominente Forderung der Boston Tea Party „keine Besteuerung ohne politische Repräsentation“ (no taxation without representation) wird sich deswegen auch für Saudi-Arabien zukünftig stellen. Je mehr staatliche Leistungen eingeschränkt und je mehr Steuern eingeführt werden, desto mehr Rufe nach politischer Teilhabe werden sich regen, um mitbestimmen zu können, was mit den neuen und steigenden Steuereinnahmen geschieht.
Die stärkere Isolierung der religiösen Kräfte und die sinkende materielle Leistungsfähigkeit des Regimes erzwingen gleichzeitig eine Neuausrichtung der Herrschaftslegitimation. Diese wird stärker auf die Person des Thronfolgers ausgerichtet sowie an den Ergebnissen seiner angekündigten Reformen festgemacht und nähert sich damit dem ausgeprägten Führerkult arabischer Präsidenten an. Auch in der Vergangenheit entfalteten einige saudische Könige (wenn auch selten die Kronprinzen) einen hohen Grad an persönlichem Charisma (so z.B. Faisal oder Fahd), doch nie stand dabei die zentrale Rolle der Familie in Frage. Bisher sorgen die seit dem Jahr 2015 angekündigten und teilweise eingeleiteten Reformen für hohe Zustimmung in der Bevölkerung und haben einen Popularitätsgewinn für MbS bewirkt (Arab Youth Survey 2018: 22-33). Das positive Image von MbS wurde zudem durch den systematischen Einsatz von modernen Techniken der Meinungsmanipulation gestärkt, wie z.B. Twitter-Bots oder eine von Saud al-Qahtani, einem Berater und Vertrauten von MbS, angeführte „elektronische Armee“. Ob die Khashoggi-Affäre allerdings dazu führen kann, das positive Image des Thronfolgers nachhaltig zu zerstören, lässt sich abschließend noch nicht sagen. Al-Qahtani wurde wegen seiner Verwicklung darin entlassen (Stubbs, Paul, und Khalid 2018).
Charisma und Popularität sind wichtige Bestandteile eines ausgeprägten Führerkults autokratischer Präsidenten im Nahen und Mittleren Osten. Neben innenpolitischen Aktionen legitimierten sich diese zu großen Teilen durch außenpolitische Ambitionen, Aktivitäten und Erfolge (vgl. Hinnebusch 2016). Mit anderen Worten: Eine sich selbst als bedeutend wahrnehmende Regionalmacht muss auch bedeutende Regionalpolitik betreiben. Auch der saudische Kronprinz verfolgt diese ambitionierte Außenpolitik, die eine für Saudi-Arabien bisher nicht gekannte Militarisierung und Aggressivität aufweist. Allerdings sind ambitionierte Aktivitäten nicht gleichzusetzen mit außenpolitischem Erfolg. Die neue saudische Außenpolitik ist dafür ein gutes Beispiel, sind bislang doch die wichtigsten Initiativen Saudi-Arabiens gescheitert – und haben sogar in den meisten Fällen erst herbeigeführt, was verhindert werden sollte.
Neben den seit Jahren stetig steigenden Rüstungsausgaben – 2018 gab Saudi-Arabien 56 Mrd. USD für seine Verteidigung aus, das ist mehr als für jedes einzelne andere Ressort (McCarthy 2018) –, hat sich das Königreich seit dem Jahr 2015 zunehmend militärisch in der Region engagiert. Dazu gehörten verstärkte Manövertätigkeiten mit Alliierten und schließlich das offene militärische Eingreifen in den jemenitischen Bürgerkrieg. Dafür hatte Saudi-Arabien zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) eine Koalition von anfangs zehn Staaten ausgerufen, um die Huthi-Rebellen, die im Jahr 2015 die Regierung um den jemenitischen Präsidenten Abd Rabbo Mansour Hadi aus der Hauptstadt Sanaa vertrieben hatten, in ihre Schranken zu weisen.
Eine weitere spektakuläre außenpolitische Maßnahme war die Ausrufung eines Ultimatums an Katar im Sommer 2017, welches durch eine Blockade manifestiert wurde. Zusammen mit Ägypten und Bahrain warfen Saudi-Arabien und die VAE dem kleinen Nachbarn Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Golfmonarchien, die Unterstützung terroristischer Gruppen und der Muslimbrüder und eine übermäßige Nähe zur Türkei und Iran vor. Zudem wurde gefordert, dass al-Jazeera und weitere katarische oder katarnahe Medien zu schließen oder deren Berichterstattung einzuschränken sei. Katar betrachtete diese Forderungen als Eingriff in seine Souveränität und weigert sich bis heute, die Bedingungen des ursprünglichen Ultimatums zu erfüllen. Ende des Jahres 2017 versuchte MbS zudem, die libanesische Regierung unter Druck zu setzen, um den iranischen Einfluss auf die Hisbollah zu schwächen. Premierminister Saad al-Hariri verkündete daraufhin während eines Besuchs in Riad im November 2017 seinen Rücktritt – und nahm diesen allerdings zurück, nachdem er nach Beirut zurückgekehrt war. Darüber hinaus wagte MbS eine präzedenzlose offene Annäherung an Israel. In einem Interview mit „The Atlantic“ im April 2018 erkannte er sogar das Existenzrecht des jüdischen Staates an. Bereits seit dem Jahr 2017 gab es immer wieder vorsichtige saudische Unterstützungsäußerungen für Varianten der von der Trump-Administration formulierte Lösungen für den Nahostkonflikt, dies allerdings ausschließlich vor der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem im Mai 2018 (Tibon 2018).
Diese ambitionierte Regionalpolitik konnte ihre ursprünglichen Ziele – die Eindämmung der islamischen Republik Iran, ein Ausgleichen gegenüber dem Einfluss der Türkei und damit zusammenhängend der Versuch, Katar auf Linie zu bringen, um alles für die Stärkung der eigenen Regionalmachtposition zu tun – nicht erreichen. Im Gegenteil – bislang ist die saudische Außenpolitik unter MbS in fast allen Fällen gescheitert: Iran ging aus dem Bürgerkrieg in Syrien gestärkt hervor, ist im Jemen intensiver involviert als je zuvor und hat heute einen deutlich stärkeren Einfluss im Irak und im Libanon. Auch Katar ist in der Zwischenzeit enger mit Iran und der Türkei verbunden als vor Beginn der Blockade und weist sogar wieder ein deutliches Wirtschaftswachstum auf. Auch die Annäherung an den Irangegner Israel ist letztlich ein zweischneidiges Schwert, genießt der jüdische Staat doch weiterhin keine Sympathien innerhalb der saudischen Bevölkerung. Die wenigen außenpolitischen Erfolge Saudi Arabiens seit dem Jahr 2015 bestanden allein im Aufbau von diversifizierten Außenbeziehungen und einer Verringerung der Abhängigkeit von den USA – sichtbar in einer Annäherung an Russland im Kontext der Verhandlungen zur Kürzung der Ölproduktion sowie der Intensivierung der Beziehungen zu einer Reihe von asiatischen Staaten.
Der persönliche Einfluss von MbS und seines engsten Beraterkreises auf die Neuausrichtung der saudischen Außenpolitik ist unstrittig. Allerdings existieren zugleich strukturelle Zwänge, die eine Neuanpassung der saudischen Politik früher oder später unumgänglich gemacht hätten. Der Staatszerfall Iraks ab dem Jahr 2003, gefolgt von den regionalen Protestwellen und Umbrüchen seit dem Jahr 2011, die bisherige, für die Regionalpolitik zentrale Akteure wie Ägypten, Syrien und Libyen komplett neutralisiert haben, ergab ein Machtvakuum. Dieses wurde zunächst von Iran genutzt. Als Reaktion auf den (tatsächlichen oder zumindest perzipierten) Rückzug der USA aus der Region, der unter den Präsidenten Obama („pivot to Asia“) als auch Trump proklamiert und teilweise vollzogen wurde, machte es regionalen Akteuren deutlich, dass sie die bisher von den USA übernommenen sicherheitspolitischen Leistungen von nun an selbst tragen müssen. Allerdings hatten nur wenige Staaten in der Region die Kapazitäten dazu: Die arabischen Republiken waren spätestens seit dem Arabischen Frühling vor allem mit ihren eigenen Problemen beschäftigt; den Monarchien fehlte der Wille und oft die Möglichkeit. Katar spielte bis zum Jahr 2013 eine überdimensionale Rolle, bis es durch Saudi-Arabien und die VAE zum Rückzug gedrängt wurde (vgl. Steinberg 2018). Saudi-Arabien wurde dadurch zum besten Kandidaten für die Eindämmung Irans, was den iranisch-saudischen Konflikt zuspitzte und die Konfessionalisierung der Region vorantrieb.
Selbst wenn MbS mit seiner Außenpolitik scheitern sollte, ist die Erwartung an eine Rückkehr Saudi-Arabiens zum Status quo ante unrealistisch. Eine klare, selbstbewusste saudische Regionalpolitik, die nicht in Abstimmung mit westlichen Partnern handelt, wird nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Veränderungen in der Region auch die künftige Linie innerhalb der saudischen Außenpolitik prägen. Die konkrete Ausgestaltung der Anpassung Saudi-Arabiens an diese Umstände ist hingegen stark variabel. Die Katarkrise schwächt die Golfstaaten mehr, als eine antiiranische Front diese stärken würde. Die Marginalisierung des Libanon untergräbt den saudischen Einfluss im Land und der Jemenkrieg frisst weiterhin enorme Ressourcen – abgesehen von den gewaltigen humanitären Kosten für das ohnehin arme Land. Eine starke saudische Regionalpolitik ist aber auch ohne militärische Intervention in den Jemen oder die harte Linie gegenüber der Nachbarmonarchie Katar möglich.
Der saudische Kronprinz hat erkannt, dass das Königreich zukünftig eine aktivere außenpolitische Rolle einnehmen muss, um seine Interessen in der Region besser vertreten zu können. Dazu war die Reform des schwerfälligen dynastischen Systems notwendig, um ein entschiedenes und gleichzeitiges Eingreifen auf unterschiedlichen außen- und innenpolitischen Feldern zu ermöglichen und gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Die Neuausrichtung des politischen Systems nach innen und nach außen, die als eine „Präsidentialisierung“ der dynastischen Monarchie Saudi-Arabien interpretiert werden kann, birgt aufgrund der gleichzeitigen Erosion von allen drei traditionellen Stabilitätssäulen große Risiken. Folgende zukünftige Entwicklungsszenarien sind von diesem Ausgangspunkt möglich:
Erstens ist es vorstellbar, dass Saudi-Arabien mittelfristig dem Schicksal seiner Nemesis Katar folgt, welches sich durch die Überdehnung einer ambitionierten Außenpolitik ins regionale Abseits manövriert hat und dafür von seinen wichtigsten Nachbarn bis heute geächtet wird. Im schlimmsten Fall könnte ein Scheitern der innen- und außenpolitischen Maßnahmen den Sturz des saudischen Regimes bewirken und damit den Zerfall des Landes bedeuten. Diese Entwicklung würde die gesamte Region massiv destabilisieren.
Auch im besten Fall kann es, zweitens, passieren, dass sich die zwar geschwächten, aber noch bestehenden Machtzentren innerhalb der Familie, der Ökonomie und des Religionssektors gegen MbS zusammenschließen, ihn entmachten und sein Experiment der Reformen für gescheitert erklären. Dies könnte zu einem Rückbau der „Malhariya“ und einer erneuten Stärkung der Familienherrschaft führen. Die Macht eines einzelnen Familienmitglieds würde dadurch eingeschränkt und die Hierarchisierung des Systems rückgängig gemacht werden. Das könnte dazu führen, dass nicht nur die aggressive Außenpolitik eingehegt wird und Skandale wie die Khashoggi-Affäre vermieden, sowie Frauenrechte wieder stärker eingeschränkt werden und die Annäherung an Israel widerrufen würde. Damit würde eine regionale Friedenslösung für den Nahen Osten erneut in weite Ferne rücken.
Als Alternative dazu könnte MbS seine zentrale Position beibehalten, wenn auch in abgeschwächter und (von der Familie) eingedämmter Form. Dies würde bedeuten, dass eine weitgehende Destabilisierung des Regimes vermieden wird, ander-erseits aber weiteres außenpolitisches Abenteurertum zu befürchten ist.
Unabhängig davon, ob Muhammed bin Salman mit seinen Reformbemühungen scheitert oder nicht, werden die Nachwirkungen der geopolitischen Verschiebungen in der Region und die daran ausgerichtete neue saudische Politik aktuell bleiben. Umso wichtiger ist es für deutsche und europäische Entscheidungsträger, nicht alle bestehenden und in der Vergangenheit entwickelten Beziehungen mit Saudi-Arabien aufzugeben oder abzuschneiden, wie z.B. über politische oder wirtschaftliche Boykotte. Stattdessen sollten weiterhin Einwirkungsmöglichkeiten offen gehalten werden. Wichtig dabei ist auch die Unterstützung durch etablierte gemeinsame Partner wie die VAE, deren stellvertretender Befehlshaber der Streitkräfte und Kronprinz von Abu Dhabi, Muhammad bin Zayed weiterhin einen großen Einfluss auf seinen saudischen Konterpart hat (Sunik 2017). Die VAE, und vor allem Abu Dhabi, unterstützen zwar viele der saudischen Aktivitäten, leiden aber ebenfalls unter den Auswirkungen ihrer Fehlschläge. Daher stellen sie einen wichtigen Mittler dar, der Einfluss auf Saudi-Arabien und MbS hat und gleichzeitig eine Reihe der deutschen und europäischen Bedenken teilt.
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